EU will neue "strategische Richtlinien" für Überwachung und Kontrolle

Litauen, Griechenland und Italien bereiten die Nachfolge des 2014 endenden "Stockholmer Programms" vor. Innenminister Wolfgang Schäuble hatte Polizeibehörden und Geheimdiensten damals den "Digitalen Tsunami" versprochen

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Die Europäische Union will nächstes Jahr neue "strategische Richtlinien" für den Bereich Justiz und Inneres festlegen. Das machten die Innen- und Justizminister auf ihrem letzten Treffen in Vilna deutlich. Es geht dabei um die Verlängerung des sogenannten "Stockholmer Programms", das 2010 in Kraft getreten ist und den Rahmen für zahlreiche Maßnahmen der Polizeizusammenarbeit bildet (Stockholm Programm: Überwachung und Kontrolle). Hierzu gehören die Bekämpfung unerwünschter Migration, der Ausbau polizeilicher EU-Agenturen, die Einrichtung von Datenbanken und das Abhören digitaler Kommunikation. Deutschland hatte das auf fünf Jahre angelegte Programm damals maßgeblich beeinflusst.

Dem "Stockholmer Programm" gingen das "Tampere-Programm" (1999 - 2004) und das "Haager Programm" (2005- 2009) voraus. Der Name dieser Fünfjahrespläne orientiert sich an den Hauptstädten jener EU-Mitgliedstaaten, die bei ihrer Verabschiedung die Präsidentschaft innehaben. Demnach könnte 2014 das "Rom Programm" beschlossen werden.

Das "Tampere-Programm" sollte zunächst die wachsende Europäische Union auch im Polizeibereich abbilden. Zentral war der Aufbau der Polizeiagentur EUROPOL, die damals noch als von Deutschland auf den Weg gebrachtes "Europäisches Polizeiamt" fungierte. Das "Haager Programm" legte das "Prinzip der Verfügbarkeit" fest. Gemeint waren die Einrichtung und der Ausbau von Polizeidatenbanken und der Abschluss entsprechender Abkommen. Mit dem "Stockholm Programm" sollten die Polizeibehörden der Mitgliedstaaten leichteren Zugriff auf die Errungenschaften erhalten. Dabei geht es insbesondere um Datenhalden bei EUROPOL. Deutschland gilt dort als "Power User" und setzt andere Länder unter Druck, den Datentausch ebenso zu erweitern (Internetsperren, Governmental Hacking und Beobachtungszentrum zur Verbrechensprävention).

Mehr Einsatz von Informationstechnologie

Allerdings ist unklar, ob das Format des Fünfjahresplans beibehalten wird. Denn mit dem Vertrag von Lissabon ist das Prinzip der Einstimmigkeit durch ein Mehrheitsverfahren abgelöst worden (Swift, Stockholm-Programm: Kräftemessen in Brüssel). Außerdem hat die EU mehrere ähnliche Rahmenvereinbarungen geschlossen, darunter die "Strategie für die Innere Sicherheit".

Ungeachtet dessen kamen die Minister in Vilna überein, als "strategische Ziele" die Kooperation unter den EU-Institutionen weiter auszubauen. Hierzu gehören die kriminalpolizeiliche Agentur EUROPOL, die Agentur für die justizielle Zusammenarbeit EUROJUST sowie grenzüberschreitende Polizeieinsätze und Datentausch über den Vertrag von Prüm. Auch die Finanzierung derartiger Maßnahmen soll verbessert werden.

Angeregt wird der zunehmende Einsatz von Informationstechnologie im Bereich der Justizzusammenarbeit. Gemeint ist vermutlich neben der Möglichkeit, Zeugenvernehmungen per Videokonferenz zuzulassen, die "Europäische Ermittlungsanordnung" zügig zu verabschieden. Dann könnte das Abhören von Telekommunikation oder der polizeiliche Einsatz von Trojaner-Programmen grenzüberschreitend angeordnet werden. Immer noch haben nicht alle Mitgliedstaaten entsprechende, bereits gefällte Beschlüsse in nationales Recht umgesetzt (Telekommunikationsüberwachung wird grenzenlos).

Anlässlich der Verhandlungen um das "Stockholm-Programm" hatte der damalige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble unter deutscher Präsidentschaft 2007 die sogenannte "Zukunftsgruppe" ("Future Group") eingerichtet (Die Wünsche der EU-Innenminister). Dieser informelle Stammtisch war keinem Gremium rechenschaftspflichtig und hatte zum Ziel, den kommenden Fünfjahresplan im deutschen Sinne zu beeinflussen. Teilnehmer waren zwei sogenannte "Trio-Präsidentschaften", also jene Regierungen, die in den Jahren 2007 bis 2009 den EU-Vorsitz innehatten. Die Treffen der Gruppe waren nicht öffentlich, Protokolle oder Mitschriften von Sitzungen existieren nicht (Stockholm Programm: Überwachung und Kontrolle.

"Dies ist nur der Anfang"

Damals veröffentlichte die portugiesische Regierung ein Vorab-Konzept für die "Future Group". Die Rede ist dort von der polizeilichen Nutzung des "Internet der Dinge". Das Papier rief schnell Bürgerrechtsgruppen und Datenschützer auf den Plan, denn es ging um den rapiden Ausbau digitaler Überwachung:

Eine offensichtliche Umsetzung ist die Möglichkeit, den Standort von jedem aktiven Handy zu verfolgen (und zu wissen, wo sie zuletzt aus- und eingeschaltet waren). Dies ist nur der Anfang. In den nächsten Jahren werden Milliarden von Elementen der physischen Welt miteinander verbunden, darunter Technologien wie Radio Frequency Identification (RFID), drahtloses Breitband (WiFi, WiMAX), satellitengestützte und kleinere drahtlose Systeme (Bluetooth, Wireless USB, ZigBee). Dies bedeutet, dass mehr und mehr Objekte in Echtzeit verfolgt werden können und ihre Bewegung und Aktivität auch nachträglich analysiert werden kann.

"Concept paper on the European strategy to transform Public security organizations in a Connected World", Portugiesische EU-Präsidentschaft 2007

In dem Papier wird erörtert, auch Fahrzeuge mit neuer Technologie zu verfolgen. Gemeint sind in Autos fest verbaute SIM-Karten, deren Daten wie Handys bei den Providern abgefragt werden können. Die Auswertung solcher Informationen würde laut den Innenministern ermöglichen, Muster und soziale Netzwerke aufzuspüren. "Experten für die öffentliche Sicherheit" könnten daraus sogar zukünftige Ereignisse verhindern - ein klares Votum für den Einsatz von Data Mining und sogenannter "Preventive Analytics". Derartige Vorhersagesoftware darf hierzulande nicht polizeilich genutzt werden, weshalb Deutschland und andere Regierungen den Umweg über EUROPOL nutzen (Telekommunikative Spurensuche im digitalen Heuhaufen).

"Digitaler Tsunami"

Bereits in dem Vorab-Konzept der portugiesischen Regierung war davon die Rede, insbesondere Finanzermittlungen zu intensivieren. Denn ebenso wie Daten aus der digitalen Kommunikation böten finanzielle Transaktionen die Möglichkeit, in Echtzeit und im Nachhinein wichtige Informationen über deren Nutzer zu generieren. Ähnliches gelte für biometrische Anwendungen, die zunehmende Sicherheit an öffentlichen Orten versprächen. Genannt werden "Rathäuser, Bahnhöfe; private Einrichtungen wie Vergnügungsparks; Arbeitsplätze".

Im späteren Abschlussbericht der "Future Group" blieben die Verfasser weniger konkret. Jedoch ist dort die Rede vom "Digitalen Tsunami". Eindringlich wird ein Paradigmenwechsel im Bereich polizeilicher Ermittlungen gefordert:

Information ist der Schlüssel zum Schutz der Bürger in einer zunehmend vernetzten Welt, in der Sicherheitsbehörden Zugang zu schier grenzenlosen Mengen an potenziell nützlichen Informationen haben werden. Dies ist sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance. Sicherheitsbehörden müssen ihre Arbeitsweise ändern, wenn sie diese Datenflut bewältigen und Erkenntnisse daraus gewinnen wollen.

Bericht der Informellen Hochrangigen Beratenden Gruppe zur Zukunft der Europäischen Innenpolitik, Juni 2008

Wie bereits im "Haager Programm" definiert, sollen "die richtigen Informationen in einer verwertbaren Form an die richtige Person gelangen". Als "Schlüssel zu Erfolg und Effektivität" gilt demnach der Einsatz von Technologie, "um die Vielzahl von Akteuren miteinander zu verbinden und sicherzustellen, "dass die richtigen Informationen in einer verwertbaren Form an die richtige Person gelangen".

Erneuert wurde das Bestreben, in "innovative Technologien" zu investieren. Dadurch soll die automatisierte Datenanalyse auch "in Echtzeit" verbessert werden. Um entsprechende Forschungen möglichst schnell "in die Praxis" umzusetzen, sollen sie über die Europäische Union koordiniert werden. Hierzu müssten laut der "Zukunftsgruppe" alle Mitgliedstaaten "über alle wichtigen Forschungsaktivitäten oder Pilotprogramme informiert sein".

"Proaktive Kontakte mit der Industrie"

Vorgeschlagen wird ein "europäischer Pool für Sicherheitsinstrumente". Um dessen Strukturen möglichst wenig kontrollierbar zu halten, soll dieser als Organisationsform "kein Ort und auch keine Organisation oder Datenbank" darstellen. Ein stattdessen gefordertes "innovatives Konzept" ist seit diesem Jahr umgesetzt und nennt sich "European Network of Law Enforcement Technology Services" (ENLETS).

Das Netzwerk wurde im September 2008, kurz nach dem Abschlussbericht der "Zukunftsgruppe", unter französischer Präsidentschaft zunächst im informellen Rahmen gegründet. Zur "Kerngruppe" gehörten Belgien, Griechenland, Zypern, die Niederlande, Polen, Finnland und Großbritannien. Als deutsche "Nationale Kontaktstelle" fungiert die Deutsche Hochschule der Polizei in Münster.

Regeln zur Zusammenarbeit wurden bereits 2009 in Prag aufgestellt. Ab 2010 wurde die engere Einbeziehung der Europäischen Kommission begonnen, kurze Zeit später nahmen auch die EU-Agenturen EUROPOL und FRONTEX teil. Bald sollen neben der neuen "IT-Agentur" für polizeiliche EU-Datenbanken auch "Drittstaaten" eingeladen werden. Die Kommunikation wird über eine bei EUROPOL angesiedelte "IT-Plattform für Experten" betrieben.

Mittlerweile nehmen 19 EU-Mitgliedstaaten an regelmäßigen ENLETS-Treffen teil. Von Bürgerrechtsgruppen bislang unbemerkt wurden letzten Monat Ratsschlussfolgerungen verabschiedet, um die für "innere Sicherheit zuständigen Behörden" und die "sicherheitsbezogene Forschung und Industriepolitik" mehr miteinander zu verzahnen. Die ENLETS-Kerngruppe fungiert seitdem als "Technologie-Beobachtungsstelle der Europäischen Union". Zu ihren Aufgaben gehören die "aufmerksame Beobachtung und Koordinierung der Entwicklung neuer Technologien", aber auch eine "Unterstützung proaktiver Kontakte mit Forschungsinstituten und der Industrie".

Alle polizeilichen "Endnutzer" sollen bald ihren erneuerten Bedarf formulieren, eine entsprechende Initiative hatte bereits Großbritannien ergriffen (Polizeibehörden wollen Autos überwachen und ferngesteuert stoppen können). Dann werden technische Standards vereinbart, auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten von ENLETS beim Ankauf von Technologie "technische Beratung" erhalten. Finanziert wird das Vorhaben vom neuen Forschungsrahmenprogramm "Horizont 2020".

"Euro-atlantischer Raum der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten"

Auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit europäischer und US-amerikanischer Geheimdienste lohnt ein Blick in die Papiere der "Zukunftsgruppe". Denn Schäuble hatte sich diesbezüglich für eine vertiefte Zusammenarbeit ins Zeug gelegt, ein eigenes Kapitel widmet sich einer "Umsetzung der externen Dimension der Innenpolitik". Im Abschlussbericht findet sich hierzu der Wille, eine "bessere politische, technische und operative Zusammenarbeit mit Drittstaaten" zu erreichen. Explizit genannt werden die "Vereinigten Staaten und Russland". Die Zusammenarbeit mit den USA soll demnach in der "Schaffung eines gemeinsamen transatlantischen Raums" zum Datentausch münden:

Bis 2014 sollte die Europäische Union eine Entscheidung über das politische Ziel treffen, im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einen gemeinsamen euro-atlantischen Raum der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten zu schaffen. Ferner ist sie der Auffassung, dass Fragen der Innenpolitik in politischer wie technischer Hinsicht mit den Außenbeziehungen der Europäischen Union verbunden werden sollten; dies ist eine wichtige Herausforderung für die innere Sicherheit im europäischen Raum. Im Bereich Justiz und Inneres selbst müssen die entsprechenden Arbeitsmethoden überarbeitet werden.

Bericht der Informellen Hochrangigen Beratenden Gruppe zur Zukunft der Europäischen Innenpolitik, Juni 2008

Im späteren "Stockholmer Programm" wird gelobt, die Zusammenarbeit mit den USA sei "in den vergangenen zehn Jahren intensiviert worden, u.a. in sämtlichen Fragen des Bereichs Freiheit, Sicherheit und Recht". Vereinbart wird, dies unter jedem Vorsitz mit regelmäßigen Treffen "von Ministertroikas und hohen Beamten" fortzuführen.

Gleichzeitig stärkte der damalige deutsche Innenminister die Einflussnahme der bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten auf die EU-Innenpolitik über die "Gruppe der Sechs" (G6). Dort organisieren sich seit 2003 Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien und später auch Polen. Die Gruppe trifft sich mehrmals jährlich zu zweitägigen Treffen, Themen sind "Sicherheitsfragen" aller Art. Die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch kritisiert den informellen Charakter der G6, da die Öffentlichkeit komplett ausgeschlossen bleibt (Geheimtreffen zu "Sicherheitsfragen" in München).

Unter deutscher EU-Präsidentschaft hatte Schäuble ab 2007 die Teilnahme des US-Heimatschutzministeriums an den G6-Treffen durchgesetzt. Diskutiert wird seitdem, wie die USA vom Datentausch unter den EU-Mitgliedstaaten profitieren könnten oder europäische Regierungen bei einer besseren "Aufdeckung der Finanzströme" helfen könnten.

Neben Abkommen zur Weitergabe von Daten aus Reisebewegungen oder Finanztransaktionen steht aber auch die Geheimdienstzusammenarbeit auf der Agenda der G6. Im September wollen die teilnehmenden Staaten mit den USA Konsequenzen aus der Affäre um die weltweite Überwachung durch den US-Militärgeheimdienst NSA erörtern. Kritik ist kaum zu erwarten: Der gegenwärtige deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich erklärt dazu vorab, die US-Spionage verfolge einen "edlen Zweck". Unterstützung bekam er kurz darauf von seinem Vorgänger Schäuble, der ebenfalls Verständnis für die Ausforschung zeigte.

Wieder Protest und Widerstand?

Analog dem damaligen portugiesischen EU-Vorsitz hat jetzt auch Litauen ein erstes Papier zur Zukunft der europäischen Innenpolitik vorgelegt. Die kommenden Präsidentschaften sollen sich dazu verhalten, dies betrifft für 2014 Griechenland und Italien. In einem Fragebogen sollen die Regierungen aller EU-Mitgliedstaaten bis dahin erklären, wie sie das "Stockholmer Programm" beurteilen und welche neuen Prioritäten in den Bereichen "Asyl, Migration und Sicherheitspolitik" gewünscht werden. Im Juni 2014 will der Rat der Europäischen Union endgültig über eine Fortführung der früheren Fünfjahrespläne entscheiden.

Vor der Verabschiedung des letzten Fünfjahresplans hatte es vielerorts Protest und Widerstand gegen die Überwachungspläne gegeben (Kritik am "Stockholm Programm"). Bürgerrechtsgruppen veröffentlichten eigene Analysen oder Protestaufrufe, auch bei der Verabschiedung in Stockholm gingen Menschen auf die Straße.

Die Skandale über Funkzellenauswertung, "Stille SMS", Trojaner und die Ausforschung des Internet mit rasternder Analysesoftware haben gezeigt, wie richtungsweisend die Vorarbeit der "Zukunftsgruppe" unter Schäuble für das spätere "Stockholmer Programm" gewesen war: Die größenwahnsinnigen Innenminister wollten nicht weniger, als die Vernetzung von "Menschen, Maschinen und Umgebungen" polizeilich und geheimdienstlich nutzen.

Deutlich wird aber auch, dass der damals zeitgleich stattfindende Protest gegen die ebenfalls von Schäuble auf die EU-Schiene gesetzte Vorratsdatenspeicherung zu einäugig war, denn alle anderen Aktivitäten gerieten dadurch aus dem Blick ("Warum hast du nichts gemacht, um das aufzuhalten?"). Bürgerrechtsgruppen stehen jetzt also vor mehreren Problemen.

Die Frage ist, wie sich eine grenzüberschreitende Bewegung zusammensetzen und koordinieren könnte. Auch ob der Fokus wie bei der Vorratsdatenspeicherung wieder nur auf einem Teilbereich liegen soll, müsste diskutiert werden. Der damalige Frontalangriff des "Stockholmer Programms" legt allerdings nahe, lieber Bündnisse aus allen davon erfassten Bewegungen zu schmieden. Hierzu gehören insbesondere die Bereiche Polizeizusammenarbeit, Migration, Asyl, Überwachung und Datenschutz.