Eine (fast) vergessene Krisenregion

Amnesty International wirft den internationalen Schutztruppen im Kosovo schwere Versäumnisse vor und fordert einen Abschiebestopp für Flüchtlinge

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Als am 17. März 2004 drei Kinder in dem Fluss Ibar in Mitrovica ertranken, nahmen rund 3.000 Albaner das vermeintliche Recht in ihre eigene Hand (Terror im Kosovo). Weil sie glaubten, dass Serben die Opfer in das eiskalte Wasser gehetzt hatten, kam es zu regelrechten Pogromen gegen die serbische Zivilbevölkerung. Bis heute konnten die Vorwürfe der Albaner nicht bewiesen werden, doch die Folgen der brutalen Ausschreitungen sind nicht mehr rückgängig zu machen und werden die krisengeschüttelte Region noch lange belasten.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international zieht in dem Bericht The March violence: UNMIK and KFOR fail to protect the rights of minority communities mit UN-Generalsekretär Kofi Annan eine traurige Bilanz der Gewaltorgie, die auch auf andere Städte im Kosovo übergriff: Am 17. und 18. März sind demnach 19 Menschen ums Leben gekommen, fast 1.000 wurden verletzt und darüber hinaus 730 Häuser sowie 36 orthodoxe Kirchen und Klöster nebst einigen öffentlichen Einrichtungen zerstört. Mehr als 4.000 Menschen mussten fliehen, rund 1.000 Serben und Aschkali sind bis heute obdachlos und können oder wollen vorerst nicht in ihre Häuser zurückkehren.

Das alles spielte sich unter den Augen der für Polizei und Justiz zuständigen Interimsverwaltung der Vereinten Nationen (UNMIK), der internationalen KFOR-Verbände und der zivilen Polizeieinheiten (CIVPOL) ab, zu deren Aufgaben selbstverständlich auch der Schutz ethnischer Minderheiten zählt.

Amnesty hat eine Reihe von Fällen dokumentiert, in denen internationale Schutztruppen, unter ihnen Einheiten, die von deutschen und französischen Kommandos geführt wurden, Eigentums- und Gewaltdelikten tatenlos zusahen. Die Menschenrechtsorganisation fordert deshalb unabhängige Untersuchungen durch die NATO und die Entsenderstaaten der KFOR-Soldaten, aber auch einen Abschiebestop für die in allen europäischen Ländern lebenden Serben, Roma und Aschkali. Telepolis sprach mit Imke Dierßen, der Europa-Referentin von amnesty international, über die aktuelle Situation.

Der Kosovo ist nach den blutigen Ereignissen im März wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Wie sieht es heute in Mitrovica und den anderen Städten aus?

Imke Dierßen: Die Lage hat sich ein wenig entspannt, es gab seit März keine Ausschreitungen in diesem Ausmaß mehr. Allerdings wird uns weiterhin von Übergriffen berichtet, es kann also keine Rede davon sein, dass ethnische Minderheiten im Kosovo nicht mehr gefährdet wären. Um ein Beispiel zu nennen: In Vushtri sollten die Aschkali, die vor den Angriffen geflohen waren, schnell in ihre Häuser zurückkehren. Es war geplant, dass sie schon während der Wiederaufbauarbeiten in Containern leben. Die Aschkali haben sich allerdings geweigert, in die Stadt zurückzukehren, weil sie 1999 und 2004 gleich zwei Mal vertrieben wurden. Ihre Befürchtungen waren durchaus begründet - mittlerweile wurden sogar die Container zerstört.

Hat sich die Situation in den letzten Jahren überhaupt zum Positiven verändert? Das Auswärtige Amt spricht von einer deutlichen "Verbesserung der Sicherheitslage" und behauptet, dass die Zahl inter-ethnisch motivierter Anschläge in den Jahren 2000 bis 2003 "stark" zurückgegangen ist.

Imke Dierßen: Daran hat sich natürlich seit März wieder einiges geändert. Die Ausschreitungen haben zweifelsfrei bewiesen, dass die Lage jederzeit eskalieren kann und die internationalen Schutztruppen offenbar nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben umfassend wahrzunehmen. Aber selbst vor dem März 2004 haben wir allenfalls leichte Verbesserungen ausgemacht. Wir müssen insgesamt, d.h. seit 1999 feststellen, dass ethnische Minderheiten immer noch keine Möglichkeit haben, auf Dauer sicher im Kosovo zu leben.

Während der Unruhen zerstörtes Haus. Bild: Focus Kosovo

Nach den März-Unruhen wollte die EU-Kommission den Kosovo in den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess für Südosteuropa integrieren. Warum hat das bislang nicht funktioniert?

Imke Dierßen: Es existiert ein Stabilitätspakt zum Balkan, und sowohl die Europäische Union als auch die deutsche Bundesregierung engagieren sich sehr in diesem Bereich. Doch im Alltag gibt es große praktische Probleme, zum Beispiel die nicht vorhandene Strafverfolgung. Die Täter werden weder ermittelt noch vor Gericht gestellt und verurteilt. Dabei wäre das ein erster, entscheidender Schritt, um den Menschen das Vertrauen in die Justiz und den Glauben an die Gerechtigkeit zurückzugeben.

Aus welchen Grundkonflikten speisen sich die ethnischen Auseinandersetzungen?

Imke Dierßen: Da spielt der Krieg eine entscheidende Rolle. Die Albaner werfen den Serben die Gräueltaten unter Milosevic vor. Roma und Aschkali werden von ihnen bezichtigt, mit dem Unrechtsregime kooperiert zu haben. Außerdem empfinden viele Albaner Wut und Hass, weil die Täter von damals nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Dieses Versäumnis wird jetzt - so absurd und paradox es klingt - unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt.

Mitrovica, am 17.3.2004. Foto: B92

Welche Rolle spielen die internationalen Sicherheitskräfte? Sind die Polizisten und Soldaten, die vor Ort den Frieden sichern sollen, ausreichend auf die besonderen Konflikte und Bedrohungsszenarios vorbereitet?

Imke Dierßen: Die KFOR-Truppen und die zivilen Polizeieinheiten CIVPOL sind keineswegs ausreichend vorbereitet und mit ihren Aufgaben oft überfordert. Es gibt vor allem erhebliche Koordinierungsprobleme zwischen KFOR und CIVPOL, aber auch innerhalb der KFOR. Die schwedischen Einheiten legen ihr Mandat völlig anders aus als die deutschen und französischen Verbände. Letztere sehen ihre Aufgabe allein darin, Leib und Leben der Opfer zu schützen. Das ist zweifellos wichtig, aber die Schweden engagieren sich auch für die Häuser und die Besitztümer der Betroffenen und schreiten gegen Plünderungen ein. Ich halte das für einen ganz entscheidenden Punkt, die Sicherheitsgarantien im Kosovo müssen sich auch auf die materiellen Lebensgrundlagen erstrecken, sonst ist eine menschenwürdige Existenz dort nicht möglich.

Die multinationale Zusammensetzung der Truppen und die unübersichtlichen Befehlsstrukturen sorgen offenbar auch für Probleme.

Imke Dierßen: In der Tat, die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten liegen bei den einzelnen Länderkontingenten. Das führt ständig zu Kompetenzstreitigkeiten und Abstimmungsproblemen. amnesty fordert deshalb eine verbesserte einheitliche Führung, die das Mandat möglichst weit und umfassend interpretiert.

Wie stellt sich amnesty zu der von vielen europäischen Ländern favorisierten Idee, die Opfer von Gewalt und Vertreibung wieder in ihrer alten Heimat anzusiedeln?

Imke Dierßen: Dies kann nur freiwillig geschehen, die Innenminister haben aber am Donnerstag beschlossen, dass die in Deutschland lebenden Flüchtlinge in ihre Heimat notfalls zwangsweise zurückgeführt werden sollen. Einige Bundesländer sind damit zwar nicht einverstanden, aber der Mehrheitsbeschluss ist nun einmal so ausgefallen.

Wir halten diese Entscheidung für falsch, weil wir der Meinung sind, dass Minderheiten im Kosovo - wie schon gesagt - nicht auf Dauer sicher leben können und die internationalen Einheiten vorerst nicht in der Lage sind, diese Minderheiten ausreichend zu schützen. Das Beispiel Vushtri zeigt sehr deutlich, dass eine Rückkehr in die Heimatgebiete für manche Bevölkerungsgruppen keine Lösung ist. Serben, Roma und Aschkali müssen im Kosovo langfristig unbeschadet leben können - ein fortlaufendes Sicherheitsrisiko ist in keiner Weise akzeptabel. Wir hoffen allerdings, dass die UNMIK die Lage ähnlich beurteilt und sich so wie bisher weigert, einer Rückführung zuzustimmen.

Wie stark beeinflusst der unsichere politische Status des Kosovo die Ereignisse vor Ort?

Imke Dierßen: Der spielt sicherlich eine große Rolle. Ich bezweifle allerdings, dass die Lösung der Statusfrage auch automatisch zu einer Lösung des Gesamtproblems führt. Die internationale Gemeinschaft wird sich im Kosovo noch sehr lange engagieren müssen, wenn sie zu einer wirklichen Entspannung und einem friedlichen Miteinander der ethnischen Bevölkerungsgruppen beitragen will.