Einsam vor Gott: Godard, die Nouvelle Vague und die Verantwortung der Kunst

Seite 5: Man muss leiden

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Während also die Nazis ihren Revolver (oder Browning) zogen und Menschen ermordeten, sagt der Film, kauft sie Prokosch einfach. Francesca, der er später das Oberteil beschmutzen wird, muss sich nach vorne beugen und ihm als Schreibunterlage dienen, damit er den Scheck für Paul Javal ausstellen kann. Wir sehen das Bild einer Vergewaltigung. Alle im Raum sind peinlich berührt, niemand sagt etwas. Godard braucht nur diese Einstellung, um zu demonstrieren, dass es sich beim sexuellen Missbrauch nicht um Sex oder Erotik handelt, sondern um eine Form des Machtmissbrauchs, und um ein gesellschaftliches Versagen.

Prokosch gibt den Scheck Francesca. Francesca reicht ihn an Javal weiter. "Ich will jetzt wissen, ob sie das Zeug umschreiben oder nicht?", sagt der Produzent. Javal schaut auf den Scheck (10.000 Dollar) und dann zu Lang. Lang hebt die Hände, als Zeichen der Hilflosigkeit und um zu signalisieren, dass es Javals Entscheidung ist. Später, wenn ihn Prokosch wie einen Lakaien behandelt, wird Lang noch einmal diese Handbewegung machen und mit der spöttischen Gelassenheit von einem, der nach einer langen Karriere alles kennt, sagen: "Man muss leiden."

Man muss leiden (11 Bilder)

Le mépris

Selbst der von der Nouvelle Vague als Gigant der Kinematographie verehrte Fritz Lang, heißt das, ist in dieser Branche Demütigungen ausgesetzt, weil auch er Geld zum Leben und zum Filmemachen braucht. Javal steckt den Scheck ein und zündet sich verlegen eine Zigarette an. Er ist bereit, die Nacktszenen zu schreiben, die Prokosch von ihm haben will, damit der Produzent Langs Film nach seinen Vorstellungen ändern kann. Prokosch hat bewiesen, was er beweisen wollte und geht aus dem Raum. Die Szene mit dem gewechselten Oberteil (siehe Teil 1) ist schlimm. Diese hier ist fast noch schlimmer.

In der Einstellung mit Prokosch, der auf Francescas Rücken und vor passiv bleibenden Zuschauern seinen Scheck ausstellt ist alles drin, was die Weinstein-Affäre ausmacht (und was in einer Berichterstattung fehlt, die zu sehr auf diejenigen Elemente fixiert ist, die sich auf dem Boulevard verwerten lassen): die zum Objekt reduzierte Frau, die geschändete Kunst, die Mitverantwortung des Publikums (im Vorführraum von Cinecittà und im Kinosaal), das Geld als Instrument der Machtausübung. Alles zusammen ergibt das komplette Bild: das Verhalten des Produzenten und der Kontext, in dem dieses Verhalten erst möglich wird.

Einsam vor Gott

Zum künstlerischen Konzept von Le mépris gehört die Mehrsprachigkeit, der Wechsel zwischen französisch, englisch und deutsch. Godard sagte in Interviews, er habe den Film "synchronisierungssicher" gemacht. Da hatte er nicht mit der Entschlossenheit der Geldgeber und der von ihnen beauftragten Synchronstudios gerechnet. Je mehr man aber die Mehrsprachigkeit wegsynchronisiert, umso überflüssiger wird Francesca Vanini als Dolmetscherin. Dabei zeigt sich gerade beim Übersetzen, was für eine patente Person sie ist. Auch das ist eine doppelte Form des Missbrauchs. Der Film wird ebenso beschädigt wie die im Original sehr vielschichtige Frauenrolle.

Am weitesten ging Carlo Ponti. Er warf bei der italienischen Fassung gleich noch die Musik von Georges Delerue raus (die Musik, die Martin Scorsese in Casino anzitiert, als Hommage an Le mépris) und bestellte bei Piero Piccioni einen neuen, jazzigen Score, der für sich genommen sehr gut ist, aber gar nicht zu Godards Intentionen passt. Die deutsche Version ist seltsam. Fritz Lang scheint an Schizophrenie erkrankt zu sein und redet mit zwei Stimmen: der eigenen und der des etwas affektiert klingenden, als Stimmenimitator nur bedingt geeigneten Synchronsprechers. Ich vermute, das liegt an Godards Anti-Synchron-Strategie.

Einsam vor Gott (12 Bilder)

Le mépris

Es gibt Szenen, in denen Lang von einem Satz zum anderen die Sprache wechselt, oder sogar innerhalb eines Satzes. Irgendwie synchronisiert wurde das trotzdem. Da man sich aber offenbar dafür entschieden hatte, seine Originalstimme nicht völlig aus dem Film zu tilgen stellte das die Bearbeiter vor unlösbare Probleme. Hin und wieder wurde auch etwas weggelassen. Ich habe Die Verachtung zum ersten Mal in einer Fassung gesehen (und gehört), in der es Hölderlin erwischt hatte (auf der aktuellen Blu-ray/DVD ist er wieder drin wie von Godard und Lang beabsichtigt, deutsch und mit französischer Übersetzung von Francesca).

Lang zitiert im Vorführraum die letzte Strophe aus "Dichterberuf": "Furchtlos bleibt aber, so er muß, der Mann/Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn,/Und keiner Waffen brauchts und keiner/Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft." Was soll das jetzt wieder, mag man sich da denken. Gleich wird noch eins drauf gesetzt. Der Schluss sei rätselhaft, meint Lang. Hölderlin habe zuerst "Solange der Gott nicht da ist" geschrieben und dann "Solange der Gott uns nahe ist". Ist jetzt aus diesem Film, von dem die Produzenten in erster Linie erwarteten, eine nackte Brigitte Bardot zu sehen, ein germanistisches Seminar geworden? Nur gut, dass Prokosch schon gegangen ist. Der nächste Wutanfall wäre unvermeidlich.

Werke deutscher Eigenart

Bei Filmen ist es nicht nur erlaubt, sie mehrmals zu sehen (bei Godard so lohnend wie bei Lang oder Hitchcock). Man darf sich auch zur Lektüre eines Buches von ihnen anregen lassen. Hölderlin kannte ich schon. Also habe ich mich für ein Werk von Hanns Johst entschieden, erschienen 1935: Maske und Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten von Deutschland nach Deutschland. Der Autor reist mit seiner Frau durch West- und Nordeuropa und teilt mit, wie toll der Führer ist und seine "Adolf-Hitler-Bewegung". Wer das nicht glaubt ist ein Schuft oder den Kulturbolschewisten und Nihilisten auf den Leim gegangen.

Wenn man das Buch aufschlägt entdeckt man eine Widmung ("Für Heinrich Himmler in treuer Freundschaft") und - sieh an - auf der gegenüberliegenden Seite ein Hölderlin-Zitat: "Uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn". Das ganze Gedicht gibt es in Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (Zweiter Band, Zweites Buch). Ist das ein Zufall oder der Grund, warum Lang erst Johst und dann Hölderlin zitiert? Auszuschließen ist es nicht. Langs heuer noch erscheinendes Notizbuch aus den Jahren 1929 bis 1934 ("What makes him tick?", Verlag belleville) belegt, wie aufmerksam er Dinge registrierte, die er in seinen Filmen verwenden wollte, gleich oder später.

In der Hitlerzeit als Exilant in Los Angeles Hanns Johst zu lesen war so, als würde man den Feind abhören. Auch als Nachgeborener merkt man schnell, dass Zitat und Widmung programmatisch sind, als Kombination von Kultur (Hölderlin) und Soldatentum (Himmler). Nach ein paar Seiten wird das direkt angesprochen: "Potsdam und Nürnberg, die zwei Stätten, die aus kärglichem Grund und Boden die zwei lautersten Werke deutscher Eigenart gewannen: Soldatentum und Kultur! Exerzierplatz und Stadtbild! Friedrich der Große und die Meistersinger! Die marschierende Truppe und die Bewegung des Dritten Reiches!! Sanssouci und das Stadion des Parteitages!!"

In Schweden wird Johst mit dem Schlageter-Zitat konfrontiert, was er zu einer Richtigstellung nutzt. Nicht er spreche den Satz, sondern ein deutscher Soldat im Stück, "der sich gegen die heimtückischen Methoden des Kulturbolschewismus wendet". Anders gesagt: Es gibt eine gute Kultur (die von Johst, Himmler und Hitler) und eine minderwertige Kultur (die von Regimegegnern, Juden und anderen "Volksschädlingen"). Gegen die minderwertige muss man den Browning ziehen. Das ist auch der Standpunkt des Autors von Schlageter und Maske und Gesicht. Das "Bekenntnis eines Künstlers zu Adolf Hitler" ist für Johst der "kulturelle Anschluss an eine weltanschauliche Bewegung".

Manchmal ist das unfreiwillig komisch. In Interlaken ärgert sich Johst darüber, dass es auf der Käseplatte des Hotelrestaurants neben Gorgonzola, Roquefort und Bel Paese "keinen guten schlichten, echten Emmentaler" gibt, und weil für ihn dieser Speisesaal das neue Babylon symbolisiert, mit einem "unabänderlichen Totentanz" der Kosmopoliten, versteht er "vielleicht zum erstenmal bis zum Grunde den Zorn des Führers gegen das bloß Intellektuelle". "Euch muss man entweder einbürgern oder totschlagen!", sagt er zu seiner Tischnachbarin. Ironisch ist das nicht gemeint.

Johsts Geschwafel hat einen mörderischen Kern. Die "Adolf-Hitler-Bewegung", erfährt man, werde zertrümmern, was "für das Wohl der deutschen Lebensentfaltung" zertrümmert werden muss. Ein Wesensmerkmal des Nationalsozialismus war der Wahn von der ethnischen und kulturellen Überlegenheit der Deutschen, die er instrumentalisierte, um zwischen Menschen und "Untermenschen" zu unterscheiden. Das diente der Rechtfertigung der KZs, der Vernichtungslager und des Völkermords, der sich in Johsts Ruf des Reiches schon ankündigt. Das Anzitieren von Schlageter und Hölderlin in Le mépris ist die Reaktion darauf.

Letztlich kommt es nicht darauf an, ob Fritz Lang ein bestimmtes Buch gelesen hatte oder nicht, als er im Vorführraum von Cinecittà seine Dialoge sprach. Es kommt darauf an, dass er die Verbindung von Dichtkunst und Soldatentum nicht mitmacht, dass er klar trennt zwischen Kultur und der als Ausdruck einer kulturellen Überlegenheit getarnten Barbarei Himmlers und der SS, zwischen Hölderlin und dem Browning eines deutschen Soldaten in einem NS-Propagandastück. Dem Film gibt das eine zusätzliche Bedeutungsebene, die ihn vor der etwas schlichten Gleichsetzung von Faschismus und Kultur bewahrt, die in den 1960ern Konjunktur hatte.

Das waren Anmerkungen für Freunde der Dichtkunst und für User, die sich für NS-Propaganda interessieren, auch wenn sie so schwülstig ist wie bei Hanns Johst (eigentlich ist NS-Propaganda immer furchtbar schwülstig). Man muss aber weder Germanistik studiert noch Maske und Gesicht gelesen haben, um zu verstehen, was mit dem Hölderlin-Zitat gemeint ist. Hinhören und Hinsehen reicht völlig aus. Genaueres im nächsten Teil:

In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt

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