Einsteins verlorener Schlüssel

Seite 2: Die geheimnisvolle Rolle des Universums

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Angesichts der späteren sehr anspruchsvollen Umformulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie mag es vielleicht merkwürdig scheinen, dass ihre Kernaussage - Licht bewegt sich auf gekrümmten Bahnen, und dafür ist Gravitation verantwortlich - so anschaulich formuliert werden kann. Aber es war nun mal Einsteins intuitive Art und Weise, an das Problem heranzugehen. Und vielleicht war die erste Idee hier die beste. Dass diese Formulierung auch alle modernen Tests korrekt beschreibt, wurde in zwischen ausführlich nachgewiesen.2

Jene von Einstein 1911 entwickelte Formel barg zudem einen Schatz, den er damals noch nicht erkennen konnte - sie enthält eine erstaunliche Verbindung zu dem nach dem Wiener Physiker und Philosophen Ernst Mach benannten Machschen Prinzip. Mach hatte schon 1883 profunde Argumente angeführt, warum der Trägheitswiderstand eines Körpers gegenüber Beschleunigung - und damit der Begriff der Masse selbst - von der Bewegung des Körpers gegenüber dem Rest des Universums abhängen sollte. Dies würde bedeuten, dass die winzige Stärke der Gravitationskraft mit der enormen Größe des Universums zusammenhängt.

Einsteins Originalveröffentlichung 1911, S. 906. Das Gravitationspotenzial (-GM/r mit negativem Vorzeichen, G Gravitationskonstante, M Masse der Sonne, r Abstand vom Mittelpunkt) wird dabei als Φ abgekürzt.

Einstein hatte sich darüber den Kopf zerbrochen, fand aber keine Möglichkeit, Machs Idee in seine spätere Theorie einzubauen. 1911 hatte er es in gewisser Weise bereits getan - ohne es zu ahnen. Fast ein halbes Jahrhundert später wies der amerikanische Astrophysiker Robert Dicke darauf hin3, dass die "1" im rechten Term von Einsteins Formel sich aus der Summe aller Gravitationspotenziale des Universums ergeben könnte, also diese Summe nicht anderes wäre als das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit selbst (auf Dickes Arbeit wird in einem späteren Artikel noch genauer eingegangen).

Dickes Vermutung aus dem Jahr 1957: kann der erste Term seinen Ursprung in den restlichen Massen des Universums haben?

Einsteins Formel legt also nahe, dass sich die Gravitationskonstante selbst aus der Massenverteilung im Universum berechnen lässt - nur konnte Einstein dies nicht bemerken. Denn die Größe des Universums ließ sich erst ab etwa 1930, nach den Entdeckungen des amerikanischen Astronomen Edwin Hubble, erahnen. Vor Hubble hatte man noch darüber diskutiert, ob es neben unserer Milchstraße noch andere "Welteninseln" geben könne. Einstein hatte schlichtweg noch keine Vorstellung von der wahren Größe des Universums!

Man kann nur spekulieren, wie er seine Formel von 1911 gedeutet hätte, wären ihm die späteren Daten bekannt gewesen, die den von Ernst Mach vermuteten Zusammenhang zwischen Gravitation und Universum hätten erkennen lassen. Dass Hubbles Beobachtung zwanzig Jahre zu spät kam, kann man nur als tragische Laune der Wissenschaftsgeschichte ansehen. Sie klingt auf den ersten Blick so unwahrscheinlich, dass sich hier natürlich eine Reihe von Erläuterungen anschließen muss.

Wo waren die anderen Physiker?

Der mysteriöse Zusammenhang der neu entdeckten Größe des Universums mit der Stärke der Gravitation war einigen Forschern in den 1930er Jahren aufgefallen, unter anderem Sir Arthur Eddington, der Einstein mit seiner legendären Sonnenfinsternis-Expedition berühmt gemacht hatte, und Paul Dirac, dem Mitbegründer der Quantenmechanik und Nobelpreisträger von 1933.

Weder Eddington noch Dirac stellten jedoch die Verbindung zu Einsteins Theorie der variablen Lichtgeschwindigkeit her.4 Nachweislich waren weder Dirac die Versuche Einsteins von 1911 bekannt, noch hat sich Einstein mit den kosmologischen Gedanken Diracs aus dem Jahr 1938 beschäftigt. Die beiden vielleicht größten Physiker des 20. Jahrhunderts haben sich über einen möglicherweise entscheidenden Punkt der Relativitätstheorie nicht ausgetauscht!

Robert Dicke wies 1957 zuerst auf die Beziehung zum Machschen Prinzip hin und verbesserte Einsteins Formel sogar in einem entscheidenden Punkt. Dicke wurde später wegen seiner Rolle bei der Entdeckung des kosmischen Mikrowellenhintergrunds bekannt, wobei er nur durch Pech den Nobelpreis verpasste.

Aus Gründen, die er wohl nur selbst hätte erklären können, wahrscheinlich aber, weil ihm in der Veröffentlichung von 1957 ein Rechenfehler unterlaufen war, gab Dicke diesen Weg wieder auf und wandte sich einer anderen Theorie zu, die als Brans-Dicke-Theorie bekannter wurde, obwohl sie den Grundgedanken eigentlich verwässerte. Die enge Beziehung des ersten Artikels zu Einstein wurde nie bekannt.

Angelockt von Geometrie

Die Frage, die sich hier aufdrängt, ist natürlich, warum Einstein nicht selbst zu seiner Idee zurückkehrte, nachdem ihm die kosmologischen Beobachtungen in den 1930er Jahren bekannt wurden. Auch darauf finden sich plausible Antworten, wenn man die Entwicklungsgeschichte der Allgemeinen Relativitätstheorie näher betrachtet.

Nachdem Einstein im Juni 1911 in Prag seinen Artikel zur variablen Lichtgeschwindigkeit geschrieben hatte, kehrte er im folgenden Jahr nach Zürich zurück, wo er mit seinem alten Studienfreund Marcel Grossmann zusammentraf. Grossmann war inzwischen Professor für darstellende Geometrie an der ETH Zürich. Gekrümmte Lichtstrahlen erinnerten ihn sofort an sein Fachgebiet Differenzialgeometrie, die sich mit gekrümmten Wegen in gekrümmten Räumen beschäftigt. Einstein war fasziniert, dass sich seine Überlegungen in einer für ihn damals neuen Mathematik formulieren ließen, aber der physikalische Aspekt der variablen Lichtgeschwindigkeit trat dabei in den Hintergrund.

Insbesondere blieb Einstein die Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie als ein Wettstreit von formal-geometrischen Versionen im Gedächtnis haften. 1913 publizierte er mit Grossmann einen Entwurf einer verallgemeinerten Relativitätstheorie und einer Theorie der Gravitation, der noch eine mathematische Inkonsistenz enthielt. Zudem wurde dabei die Vorhersage gemacht, die Ablenkung eines Lichtstrahls an der Sonne betrage etwa 0,85 Bogensekunden - ein Wert, der sich später als falsch erweisen sollte.

Ebenfalls diesen falschen Wert hatte Einstein bereits früher mit seiner Theorie der variablen Lichtgeschwindigkeit erhalten. Einstein hatte 1911 angenommen, die variable Lichtgeschwindigkeit rühre allein von einem variablen Zeitablauf her, nicht aber von den ebenfalls im Gravitationsfeld verkürzten Längenmaßstäben.

Die Diskrepanz zwischen den fehlerhaft berechneten 0,85 Bogensekunden und dem korrekten doppelten Wert von 1,70 Bogensekunden sah Einstein später aber stets als Experimentum Crucis an, das zwischen den beiden mathematischen Versionen entschied, die er 1913 bzw. 1915 publiziert hatte. Dass der korrekte Wert sich auch unter der Annahme einer variablen Lichtgeschwindigkeit ergibt, was Robert Dicke 1957 zeigte, ahnte er nicht. Im Gegenteil, der Erfolg der Formulierung von 1915, die den korrekten Wert vorhersagte, trug sicher auch dazu bei, in Einsteins eigener Sicht den Gedanken von 1911 als vorläufigen, untauglichen Versuch einzuordnen.

Dieser eigenartige Zufall verdient nochmals hervorgehoben zu werden: Die Korrektur der Vorhersage von 0,85 auf 1,70 Bogensekunden wurde von Einstein - und seitdem von der ganzen Welt - als "Durchbruch zur Wahrheit" angesehen, was innerhalb der zur Auswahl stehenden mathematischen Formulierungen auch seine Berechtigung hat.

Dies hat jedoch nichts mit der Frage zu tun, ob man die Allgemeine Relativitätstheorie nicht auch - oder sogar besser - im Rahmen einer variablen Lichtgeschwindigkeit formuliert. Unglücklicherweise war deren erste Version ebenfalls unvollständig und sagte den kleineren Wert von 0,85 Bogensekunden vorher, sodass es nahe liegt, sie mit der inkorrekten mathematischen Version von 1913 zu verwechseln. Nahezu alle Physiker würden auf den ersten Blick diesem Trugschluss erliegen. Praktisch niemand kennt die Lösung des Problems durch Robert Dicke aus dem Jahr 1957.