Emil und der Menschenhelfer
Seite 2: Magisches Paralleldenken
Im März 1937, bei der ersten Jahrestagung der Reichsfilmkammer in Berlin, hielt Joseph Goebbels eine programmatische Rede. Darin formulierte er sein Konzept von der verdeckten Propaganda, die er von den Filmschaffenden haben wollte: "Ich wünsche nicht etwa eine Kunst, die ihren nationalsozialistischen Charakter lediglich durch Zurschaustellung nationalsozialistischer Embleme und Symbole beweist, sondern eine Kunst, die ihre Haltung durch nationalsozialistischen Charakter und durch Aufraffen nationalsozialistischer Probleme zum Ausdruck bringt. […] Es ist im allgemeinen ein wesentliches Charakteristikum der Wirksamkeit, daß sie niemals als gewollt in Erscheinung tritt. In dem Augenblick, da eine Propaganda bewusst wird, ist sie unwirksam. Mit dem Augenblick aber, in dem sie als Propaganda, als Tendenz, als Charakter, als Haltung im Hintergrund bleibt und nur durch Handlung, durch Ablauf, durch Vorgänge, durch Kontrastierung von Menschen in Erscheinung tritt, wird sie in jeder Hinsicht wirksam."
Robert Koch, der Bekämpfer des Todes ist nicht der erste, in vielerlei Hinsicht aber prototypische und dann häufig kopierte Vertreter einer Serie von Heldenepen im historischen Gewand, für die sich der Ausdruck "Geniefilm" eingebürgert hat. Goebbels bezeichnete sie als "Persönlichkeitsfilme". Für seine Vorstellung von der verdeckten Propaganda waren sie ideal. Der Held des Genie- oder Persönlichkeitsfilms ist ein großer, im weitesten Sinne schöpferisch tätiger Deutscher (oder doch ein Beinahe-Deutscher wie in Steinhoffs Rembrandt) mit einer nach NS-Bedürfnissen zurechtgebogenen Biographie. Sein Deutschtum ist durch Eigenschaften charakterisiert, die auch Hitler zugeschrieben wurden: Visionäres Vordenkertum; erfüllt von der eigenen Mission; mutiges Eintreten für die Wahrheit und den Fortschritt; Rücksichtslosigkeit sich selbst und anderen gegenüber, wenn es dem Wohl einer negativ (durch Ausgrenzung) definierten Allgemeinheit dient; Opferbereitschaft; Kampf gegen die Borniertheit etablierter Eliten; Kompromisslosigkeit; Fähigkeit zu harten, aber notwendigen Entscheidungen. Der ständige Begleiter des Genies war der Krieg, auch wenn weder Uniformen noch blutige Kampfhandlungen zu sehen waren. In einer Tagebucheintragung vom 16.8.1942 schreibt Goebbels, der Persönlichkeitsfilm sei zu Beginn des Zweiten Weltkriegs "ein Notbehelf" gewesen, "um die deutsche Filmproduktion überhaupt einmal auf den richtigen Weg zu führen".
Das Kino des Dritten Reichs war von einem "magischen Paralleldenken" bestimmt, wie Helmut Regel es genannt hat. Die implizite Botschaft lautete: Robert Koch, Friedrich Schiller, Friedemann Bach, Andreas Schlüter (Architekt und Hofbildhauer des Großen Kurfürsten), Rudolf Diesel und Mozart (in Wen die Götter lieben) waren wie der Führer. Und der Führer war wie sie. So bastelte man an dessen Mythos. Die behaupteten Parallelen zwischen großen Epochen der deutschen Geschichte und dem Dritten Reich, zwischen zu Führerfiguren stilisierten Gestalten aus Kunst und Wissenschaft und Adolf Hitler, wurden im Dialog nicht direkt ausformuliert, und ein Regisseur wie Hans Steinhoff war nicht so plump, dem 1910 verstorbenen Robert Koch ein Hitlerbild ins Labor zu hängen oder Rembrandt in die NSDAP eintreten zu lassen. Das Publikum sollte vielmehr dazu animiert werden, selbst die gewünschten Analogien herzustellen. Das war wirkungsvoller. So musste die NS-Version von der deutschen Geschichte dafür herhalten, das nationalsozialistische Projekt zu legitimieren.
3000 Euro für eine Unterhose
Die Begeisterung des Führers für Robert Koch ist kein Wunder. Man muss lange suchen, um einen Film zu finden, der so sehr mit NS-Propaganda vollgestopft ist wie dieser. Warum ist er dann für Kinder ab 6 Jahren freigegeben? Vorläufige Antwort: Weil es beim Umgang mit den Hinterlassenschaften des Dritten Reichs einen Hang zu extremen Lösungen gibt. Als sich die bayerische Landeshauptstadt München nach 70 Jahren doch noch dazu durchrang, ihrer Vergangenheit als "Hauptstadt der Bewegung" zu gedenken, entschied man sich für ein NS-Dokumentationszentrum, das völlig auf originale Objekte verzichtet und nur Kopien, Faksimiles und Kontext zeigt, um jeder Gefahr einer Fetischisierung auratisch aufgeladener Gegenstände vorzubeugen. Ein paar hundert Meter vom Dokuzentrum entfernt kam in diesem Sommer das Kontrastprogramm zur Aufführung. In einem Auktionshaus für Historica wurden Nazi-Devotionalien versteigert. Im Vorfeld geriet das Auktionshaus unter Beschuss, weil es ihres historischen Kontexts enthobene Dinge wie Hitlers Hundesteuerbescheid, ein Sommerkleid von Eva Braun und vom Henker als Souvenirs aufbewahrte Teile der Galgenstricke zum Kauf anbot, mit denen in Nürnberg die Kriegsverbrecher gehängt worden waren. Den Auktionator hatte die Kritik offenbar beeindruckt. Jedenfalls sah er sich zu der gewissermaßen rekontextualisierenden Bemerkung veranlasst, dass es sich bei einer seidenen Unterhose von Hermann Göring (sie ging für 3000 Euro weg) um ein Stück von "großartiger Dokumentationskraft" handele, da es den Anspruch der Nazis, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl zu sein, als hohles Gerede entlarve.
Beim Kino der NS-Zeit verhält es sich in etwa so: Wenn sich der Kontext selber aufdrängt, weil der jüdische Vergewaltiger der blonden Frau nach "altem deutschen Recht" aufgehängt, der "Gnadentod" für Kranke und Behinderte gefordert, zum Krieg gegen England aufgerufen, das Lied der Hitlerjugend abgesungen oder mit Hakenkreuzfahnen marschiert wird ist es ein Vorbehaltsfilm, den man nur mit Referent sehen darf, weil man sonst Schaden nehmen könnte. Ist der Kontext nicht sofort ersichtlich, lässt man ihn gerne weg wie in der Freigabebegründung der FSK. Dabei wäre es doch eigentlich erforderlich, ihn zu klären und nötigenfalls zu rekonstruieren, weil man nur so halbwegs sicherstellen kann, dass die einmal intendierte Wirkung durch die geänderten Zusammenhänge, in denen man solche Sachen heute sieht, neutralisiert ist. Seltsamerweise sorgt eine kontextlose Versteigerung von Hitlers Hundesteuerbescheid für mehr Empörung als das kontextlose Verbreiten von NS-Filmen auf DVD, obwohl unbestritten ist, dass Filme für die Indoktrinierung der Deutschen eine größere Bedeutung hatten als Görings voluminöse Unterhose (Bundweite 114 Zentimeter).
Jannings’ (Größe der Unterhose unbekannt) engagiertester Apologet ist sein Biograph Frank Noack. Wenn selbst er sich am "militärischen Vokabular" in den Koch-Dialogen stört will das etwas heißen. Ich wiederum bin kein Experte für den Schutz der Jugend. Als Laie auf diesem Fachgebiet habe ich eine persönliche Meinung, doch ich werde mir hier kein Urteil darüber anmaßen, wie es auf Kinder wirkt, wenn der Held fast zwei Stunden lang zum Vernichtungskrieg gegen den Tuberkelbazillus auffordert, ein junger Mann den Opfertod stirbt und dafür mit einer Reichsparteitags-Apotheose belohnt wird (nur auf islamistische Selbstmordattentäter warten 72 Jungfrauen im Paradies) und den Kindern dazu noch ein Frauenbild präsentiert wird, von dem sich heutzutage sogar die konservativsten unter den Burka-Gegnern distanzieren.
Die FSK-Kennzeichnungen, teilt man uns routinemäßig mit, "sollen sicherstellen, dass das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen einer bestimmten Altersgruppe nicht beeinträchtigt wird". Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie oft ich den Spruch als Erwachsener schon lesen musste, um einen Film sehen zu dürfen. Falsches, könnte man nun sagen, wird durch dauernde Wiederholung noch nicht richtig, aber in diesem Fall garantieren die Obersten Landesjugendbehörden für die Qualität des Verfahrens (nur die Qualifikationen der Funktionäre in den Prüfgremien bleiben nebulös). Die Jugend ist also gut geschützt, und überhaupt sind die Sechsjährigen von heute härter im Nehmen und besser informiert als die von früher. Wenn der Held seine Versuchstiere in einen gläsernen Schaukasten steckt und mit tödlichen Erregern bestäubt, und wenn Jannings dazu (Mein-) Kampf-Dialoge aufsagt, wissen die Kids den Vorgang einzuordnen. Das ist moderne Wissenschaft. Die Gasrechnung steigt nur an, weil Koch unermüdlich forscht und bei der Nachtarbeit ein Licht braucht.
Anstatt an den Entscheidungen anonymer Jugendschützer herumzunörgeln möchte ich zur Kontextualisierung beitragen. Was bei Görings Unterhose inzwischen geleistet wurde steht bei Robert Koch und der kinematographischen Tuberkulosebekämpfung noch aus - zumindest, was die DVD angeht. Die Einordnung als "Filmklassiker" soll suggerieren, dass das Werk irgendwie zeitlos ist, es somit nicht darauf ankommt, wann es entstanden ist. Ich bin anderer Meinung. Aus einem Propagandafilm wird keine familientaugliche Unterhaltung, nur weil man ihm das Label "Klassiker" anklebt, die FSK den Film ab 6 Jahren freigibt und die nackten Brüste der Frauenleiche, die Koch im Kampf gegen den Bazillus sezieren muss, auf den nach 1945 gedruckten Programmheften nicht mehr zu sehen sind.
Nackte Frauenbrüste, womöglich Nekrophilie, in einem Film über die Entdeckung des Tuberkuloseerregers? Auch die Nazipropaganda, obwohl über weite Strecken imitativ und uninspiriert, ist immer mal wieder für eine Überraschung gut. Meine Theorie zum nackten Busen, der sogar das Titelblatt des Illustrierten Film-Kuriers zierte, folgt später. Vorgeschädigte Leser dieser Reihe ahnen schon, was das bedeutet. Der Regisseur Hans Steinhoff war ein detailverliebter Perfektionist. Spannend werden die Details erst, wenn man sie im Kontext sieht. Der Kontext waren die Kriegsvorbereitungen und die NS-Gesundheitspolitik. Verstehen schützt immer noch am besten vor der Propaganda. Zum Verstehen braucht man mehr Informationen als die, mit denen der Käufer der DVD abgespeist wird. Es wird also ein Weilchen dauern, bis wir zu den Toten in der Pathologie kommen. Ich bitte um Geduld.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.