Emil und der Menschenhelfer

Seite 5: Wissenschaftlich unanfechtbar

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"Für den mit den höchsten Prädikaten ausgezeichneten Jannings-Film Robert Koch der Bekämpfer des Todes lieferte der Dichter und Arzt Hellmuth Unger als Mittler zwischen Kunst und Wissenschaft mit dem vorliegenden biographischem Werke die Grundlagen", steht im Klappentext meines Exemplars der zweiten, "judenfrei" gemachten Fassung von Ungers Sachbuch. Ulrike Reim zufolge war der Mittler zwischen Kunst und Wissenschaft unzufrieden damit, wie die Autoren des Drehbuchs mit den "sorgfältig recherchierten Tatsachen" in seinem Buch umgingen und wie sie diesen Tatsachen nicht entsprechende politische Akzente setzten: "Seine Einwände wurden aber seinerzeit nicht akzeptiert." Reims Gewährsmann ist der Sohn von Dr. Unger. Unzufrieden kann der Senior eigentlich nur mit den chronologischen und geographischen Freiheiten gewesen sein, die sich die Filmemacher herausnahmen. Oder sollen wir glauben, dass er in Drehbuchkonferenzen mit Jannings und Steinhoff darauf drang, die jüdischen Wissenschaftler wieder einzufügen, die er zuvor selbst aus dem Roman eines großen Lebens entfernt hatte (die erste Auflage der revidierten Fassung erschien 1936, drei Jahre vor dem Film)?

Roman eines großen Lebens

Was also ist zu halten von der publizistischen Tätigkeit des Augenarztes Hellmuth Unger? Als er 1953 starb ehrte ihn die Zeit mit dem Abdruck eines Gedichts aus seinem Nachlass. Einleitend heißt es: "Vor kurzem starb Dr. Hellmuth Unger, der Arzt und Schriftsteller, dessen lebensnahen und wissenschaftlich unanfechtbaren Bücher über Themen der Heilkunde unvergessen sind." Nun sollte man nicht alles glauben, was in der Zeitung steht. Wenn betont werden muss, dass etwas "wissenschaftlich unanfechtbar" ist, besteht Grund zur Vorsicht. Offenbar gab es Leute, die das anders sahen.

Die umfangreichste Studie zum 1891 geborenen Dr. med. Hellmuth Unger stammt von Claudia Sybille Kiessling, die nur eine einzige wissenschaftliche Veröffentlichung des dichtenden Augenarztes gefunden hat (die von ihm verfassten Biographien sind für ihre "Volksnähe" gelobte Sachbücher mit romanhaften Einsprengseln): der 1918 in den Monatsblättern für Augenheilkunde erschienene Artikel beschäftigt sich mit den Augenleiden von vier Kindern, bei denen eine angeborene Syphilis festgestellt wurde. In den 1920ern schrieb Unger Theaterstücke, Unterhaltungsromane, Reiseerzählungen, häufig angereichert mit Reflexionen über den Arztberuf. 1928/29 gab er seine Praxis in Leipzig auf und übersiedelte mit seiner Familie nach Berlin, wo er fortan als Funktionär beim Verband der Ärzte Deutschlands arbeitete. Ob er zunächst auch als Augenarzt tätig war weiß man nicht genau. Spätestens 1935 hörte er auf zu praktizieren.

Unger war Schriftleiter (Redakteur) bei einer ganzen Reihe von Periodika von ärztlichen Spitzenorganisationen, wo es auch darum ging, eine breitere Öffentlichkeit mit standespolitischen Positionen bekannt zu machen. Das von Unger redaktionell betreute Hörrohr beispielsweise war eine illustrierte Beilage der vom Hartmannbund herausgegebenen Ärztlichen Mitteilungen, die illustrierte Zeitschrift Die Pille lag einmal monatlich der Apothekerzeitung bei. In der Pressestelle des Verbandes der Ärzte Deutschlands stieg Unger vom hauptamtlichen Mitarbeiter rasch zum Chef auf. Im Verlag des Verbandes erschien 1929 auch die erste Fassung der Koch-Biographie, deren Erfolg ihn ermutigte, medizinische Themen in den Mittelpunkt seiner Arbeit als Schriftsteller zu rücken. Dabei war er darauf bedacht, seine Sujets populär abzuhandeln und einem möglichst großen Publikum nahezubringen. In der ärztlichen Presselandschaft bestens vernetzt, durfte er darauf vertrauen, wohlwollend besprochen zu werden.

Heimkehr nach Insulinde

Dr. Hans Glen, der Held des Romans Heimkehr nach Insulinde (1930), war nach dem Krieg Schiffsarzt und verbrachte dann zwei Jahre auf der für ihn zum Sehnsuchtsort gewordenen Südseeinsel Insulinde. Jetzt arbeitet er in einer Berliner Nervenheilanstalt für wohlhabende Patienten. Ein dort untergebrachter Morphinist hat eine schöne Tochter, Alexa. Daraus entwickelt sich eine komplizierte Liebesgeschichte, die erst glücklich enden kann, wenn Alexas Gatte, ein gefürchteter Drogendealer, aus dem Roman hinausexpediert ist: er wird verhaftet und bringt sich in seiner Zelle um. An die Polizei verraten wird er von der schönen Russin Nadja Lesskowa, die ein schweres Schicksal in die Kokainsucht getrieben hat. Nadja ist Glen sehr zugetan und will ihm einen Dienst erweisen, damit er sein (6) Glück mit Alexa finden kann.

Einmal revoltieren die Patienten in der geschlossenen Abteilung. Der Anführer ist ein Mann, der denkt, er sei Napoleon. Was sonst? In den Ärztlichen Mitteilungen erschien eine sehr positive, von "Ho." gezeichnete Rezension. Kiessling meint, dass sich hinter dem Kürzel wahrscheinlich der Verlagsleiter Alfred Hoffmann verbarg, ein Mitglied der SA. In Form eines "volkstümlichen Romans", lobt Ho., sei es dem Autor gelungen, am Beispiel der Rauschgiftfrage "die Ethik des ärztlichen Berufes aufzuzeigen". Fazit des Rezensenten: "Das Buch kann ein großer Helfer aller Ärzte werden im Kampf gegen die Not." "Not" ist natürlich relativ. Ohne das Haus für die besonders schweren Fälle könnte das Sanatorium auch ein Hotel für reiche Exzentriker sein, die im Frühstückssaal ihre Spleens ausleben. Nur gut, dass es die "Rauschgiftfrage" gibt. Über die Sucht erfährt man im Grunde nur, dass Süchtige süchtig sind und früher oder später daran sterben. Als Doktor hat man es da schwer. Das liefert den Anlass für ethische Überlegungen zum Arztberuf.

Bahnbrecher der Zeit

Nadja will nicht mehr leben und bittet Dr. Glen um eine tödliche Dosis der Droge ihrer Wahl. Glen weist das Ansinnen zurück, weil sie kein hoffnungsloser Fall ist (noch nicht). Bei Alexas Vater liegt die Sache anders. Er hat jenes Endstadium der Sucht erreicht, in der ein Patient nur noch eine "Menschenruine" ist und sich das Leben nicht mehr lohnt. Der Morphinist sagt das auch gleich selber, damit der Leser nicht auf den Gedanken kommt, das könnte nur die Ansicht des Helden sein: "Und ihr Ärzte? […] Warum bietet ihr eure Kunst auf, eine Menschenruine am Leben zu erhalten? Welches ist die höhere Pflicht, zu erhalten oder zu erlösen? Menschenhelfer solltet ihr sein, nicht Handlanger des Todes." An Stellen wie diesen lässt Unger gerne mal die Anführungszeichen weg, um zu vernebeln, wer da spricht. Der um den "Gnadentod" bittende Morphinist? Dr. Glen? Oder der Autor?

Den Tod sollen wir uns als einen Sadisten vorstellen, der Lust am langen und qualvollen Sterben der von ihm Heimgesuchten empfindet. Ein seinem Berufsethos verpflichteter Arzt wie Dr. Glen will Menschenhelfer und nicht Handlanger des Todes sein. Also spritzt er eine tödliche Dosis, wenn er einen hoffnungslosen Fall diagnostiziert. Für den Roman ist das so selbstverständlich, dass es nicht lange diskutiert werden muss. Vorher aber stellt die schöne Russin Dr. Glen das Horoskop: Die Sterne deutet sie wie folgt: "Ihr Unabhängigkeitsgefühl ist überstark ausgeprägt, und Ihr Aufrichtigkeitsdrang schafft Ihnen eher Feinde als Freunde. Rücksichtslos folgen Sie den Neigungen ihres Herzens, aber Sie sind dabei aufrichtig und treu. Seelenverwandtschaft erscheint Ihnen als höchste menschliche Bindung, und Sie gehören zu jenen Bahnbrechern der Zeit, die lieber Unruhe um sich verbreiten als Überkommenes festzuhalten." So oder so ähnlich ließe sich das auch über die Helden im "Persönlichkeitsfilm" des Dritten Reichs sagen, mit "Blut" statt "Seele". Dr. Glen allerdings entdeckt weder den Tuberkelbazillus noch erfindet er den Dieselmotor. Seine bahnbrechende Leistung spielt sich in der Stille eines Krankenzimmers ab, und die Öffentlichkeit erfährt nichts davon, weil das ein Roman von 1930 und die Zeit dafür noch nicht reif ist.

Patient Kollek, Alexas Vater, liegt im Sterben. Er kann nicht mehr schlucken und nicht mehr sprechen. Das macht gar nichts, denn: "Glen weiß, was der Sterbende will. Es gibt nur noch eines für ihn. Ein guter Arzt, der auch stumme Bitten versteht." Das ist so gruselig, weil es Tür und Tor für das öffnet, was die Nazis ein paar Jahre später als "Euthanasie" bezeichneten. Ein Patient muss nicht mehr sagen, ob er weiter leben oder sterben möchte. Ein guter Arzt weiß das auch ohne solche Willensbekundungen. Dr. Glen lässt den Wärter Hartmann eine Spritze und das Morphium holen. "Der Sterbende versucht zu lächeln. Aus Dank. Er hat begriffen, dass sein unmenschliches Martyrium zu Ende sein soll. Vergeblich versucht er, den welken, fast fleischlosen Arm dem Arzte entgegenzuheben. Nur um eine Sekunde früher von seinen Schmerzen befreit zu sein. Tief atmet er auf, als er den kurzen, schmerzlosen Einstich der Hohlnadel spürt. […] Glen steht über ihn gebeugt und wartet, bis er merkt, daß der gepeinigte Körper sich langsam entspannt. Glen denkt an Alexa. Sie wird ihm dankbar sein, daß er ihrem Vater das Ende erleichterte."

Wenn man das liest denkt man, dass Patient Kollek jetzt gestorben ist. Dr. Glen ("aufrichtig und treu") lässt Hartmann die Morphiuminjektion in die Krankenakte eintragen. "Ich verantworte es", sagt er heroisch, weil er lieber Unruhe um sich verbreitet als an Überkommenem festzuhalten. Dann heißt es plötzlich: "Der Todeskampf dauert noch Stunden." Alles ein großes Missverständnis. Was kann der Romanautor dafür, wenn der Leser denkt, dass Dr. Glen seinen Patienten getötet hat? Das Morphium sollte nicht den Tod beschleunigen, sondern die Schmerzen lindern. So wird etwas durchgespielt und dann zurückgenommen, was aber nichts mehr daran ändert, dass der Gedanke in der Welt ist. Wie häufig in der Euthanasie-Diskussion der 1920er und frühen 1930er verwischen auch bei Unger die Grenzen zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, zwischen Tötung auf Verlangen und dem "Erlösen" von Menschen, die - nach Meinung des "Helfers" - keinen freien Willen mehr haben oder diesen nicht mehr äußern können, weshalb der Arzt für sie entscheiden muss. Diese gedankliche Unschärfe machten sich die Nazis dann zunutze.

Das suggestive Potential der Sterbeszene schöpft Unger geschickt aus. Das Ziel dabei: Die Hemmschwelle allmählich senken. "Der Todeskampf dauert noch Stunden." Muss das sein? Wenn man Kollek schon Morphium gibt, zur Linderung der Schmerzen, warum dann nicht so viel, dass er gleich sterben kann? Er will es doch auch, sagen seine stummen Bitten. "’Jedem würde ich so helfen, Hartmann’, sagt Glen. ‚Wenn es doch zu Ende geht. Man gibt uns Ärzten soviel Macht. Dürfen wir schon Schatzhüter aller Gifte sein, warum sollten wir sie dann nicht auch einmal verschenken dürfen? Was ist besser, einen Hilflosen leiden zu lassen oder ihn zu erlösen?’" Und wenn Patient Kollek gestorben ist kann man überlegen, wer sonst noch einen "Menschenhelfer" braucht. Die Nazis kannten viele Kandidaten.

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