Emil und der Menschenhelfer

Seite 6: Das Geld der Volksgenossen

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Seine in der Weimarer Republik begonnene Funktionärskarriere setzte Dr. Unger nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fort. Dabei behilflich war Gerhard Wagner, der Chef des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP (und ab 1934 Reichsärzteführer), für den er als Pressereferent arbeitete. Als die Ärzteschaft auf Wunsch Hitlers das Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege einrichtete (1934 als Rassenpolitisches Amt der NSDAP in die Partei eingegliedert), wurde Unger Leiter der Abteilung "Presse, Funk und Film". Das Hörrohr wurde im Sommer 1933 durch die vom Aufklärungsamt herausgegebene, von Schriftleiter Unger gegründete Zeitschrift Neues Volk ersetzt. Neues Volk lag in den Gesundheitsämtern und den Arztpraxen aus und war beim Verlag Neues Volk (ein Tochterunternehmen des Verlags der Deutschen Ärzteschaft, mit identischem Personal) auch direkt zu abonnieren. Durch umfangreiche Werbemaßnahmen wurde die Auflage von zunächst 60.000 auf 140.000 (1934), dann auf 300.000 (1938) und 1939 auf 360.000 verkaufte Exemplare gesteigert.

Neues Volk

Die erste Nummer enthielt Grußworte von einem halben Dutzend Nazihierarchen, vom Reichsärzteführer Wagner über Walter Groß (Leiter des Aufklärungsamtes und Verfasser von Büchern zur pseudowissenschaftlichen Untermauerung der NS-Rassenideologie und der Judenverfolgung) bis zu Achim Gercke ("Sachverständiger für Rasseforschung" im Reichsministerium des Innern). Unger steuerte einen Leitartikel bei, in dem er an die "Zeit deutscher Erniedrigung" erinnert (nach dem verlorenen Weltkrieg), die "niemals wiederkommen" dürfe und die Bedeutung der "deutschen Jungens" betont, "denen als wertvolles Erbe das deutsche Vaterland zufällt, an dem wir heute bauen". Wie immer bei den Nazis erfährt man, wer nicht hineingehört ins deutsche Vaterland. Ein Artikel in der ersten Nummer hat den Titel "Grenzen des Mitleids" und widmet sich den "Ballast-Existenzen". Wer damit gemeint war zeigte beispielsweise ein Plakat, mit dem 1937/38 für die Zeitschrift geworben wurde. Man sieht einen offenbar behinderten Menschen und einen Pfleger, der ihm die Hand auf die Schulter legt. Der Text dazu: "60 000 RM kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit. Volksgenosse das ist auch Dein Geld."

Neues Volk, schreibt Claudia Kiessling, "ist konzipiert als Kampfblatt für die bevölkerungspolitischen Ziele des nationalsozialistischen Staates". In Ungers erstem Leitartikel hagelt es Begriffe, die man auch aus den Propagandafilmen der Nazis kennt. Er beschwört ein "Vaterland, das friedvoll sein will gegen seine Nachbarn, wenn man ihm nur den Atem zum Leben gönnt und seine Kräfte nicht schmälert, das wirken und schaffen will um Fortbestand seiner Art und Rasse. […] Ein Vaterland, das wir lieben. Ein Vaterland, dem wir zu dienen haben, wie wir der Volksgemeinschaft dienen, die mit uns im Aufbruch und im Werke ist." Leider gönnten die Nachbarn dem deutschen Volk aber nichts, weshalb es dann nicht ganz so friedvoll sein konnte wie gewünscht. Neues Volk veröffentlichte in den kommenden Jahren Artikel zur Eugenik, zur Mutterrolle, zum Geburtenrückgang (wer soll in 50 Jahren "Heil Deutschland" rufen, "Die Wacht am Rhein" singen und die Fahnen schwingen?, fragt die erste Nummer).

Immer wieder widmete sich die Zeitschrift den Bedrohungen, denen die Volksgemeinschaft und die Rassereinheit durch geistig Behinderte, "Minderwertige", "Kriminelle", "Asoziale", "Zigeuner", "Mischehen" und Juden ausgesetzt war. Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP erläuterten die Nürnberger Gesetze. Wer Neues Volk las erfuhr (illustriert mit Bildern von "Degenerierten"), dass die Juden einen Plan hatten, wie sie Deutschland schaden und auf der Suche nach einer neuen Heimat gleichsam überrennen konnten. Auslandskorrespondenten berichteten über angeblich in anderen Ländern ergriffene Maßnahmen gegen die "jüdische Gefahr", was den Antisemitismus im Dritten Reich relativieren und normal erscheinen lassen sollte. Dazu gab es viel Unterhaltsames mit Gedichten, heiteren Geschichten über das bäuerliche Leben, einer "Bücherecke" und so weiter. So ließ sich die Ideologie leichter schlucken.

Tuberkulose und Wehrkraft

1933 setzte Gerhard Wagner seinen Parteigenossen Kurt Klare als Chef der Vereinigung der medizinischen Fachpresse ein. Klare hatte die Aufgabe, die Druckwerke vor "Fremdeinflüssen" zu schützen. In einem im Deutschen Ärzteblatt (1933, Nr. 63) erschienenen Artikel mit dem Titel "Die Umstellung der medizinischen Fachpresse" wettert er gegen eine "geistige Oberschicht", die "widerspruchslos die Überfremdung unseres Schrifttums" hingenommen habe. "Etwa ein Drittel unseres medizinischen Schrifttums" sei "von Juden bestritten" worden. Das werde sich jetzt ändern. Klare kündigt eine "Säuberung des Referatenteiles der Zeitschriften von jüdischen Referenten" an, Buchbesprechungen seinen fortan Sache "von arischen Ärzten", deutsche Fachpublikationen dürften "künftighin nur mehr von deutschstämmigen Ärzten redigiert werden, im Herausgeberkollegium und im Beirat haben deutsche Ärzte zu entscheiden". Auch deutsche Juden waren Deutsche, für völkisch denkende Rechtsextreme aber nicht.

Die mehr als 30 regionalen Ärzteblätter der Weimarer Republik wurden zusammengelegt und auf 13 reduziert, weil sie so leichter zu kontrollieren waren. Auch die Ärzteblätter waren Teil des Propagandaapparats. Eine wichtige Rolle bei der Gleichschaltung spielte Dr. Hellmuth Unger. Spätestens 1938 war er Hauptschriftleiter aller Regionalausgaben, nahm er Einfluss auf deren Inhalt und Form. Die Grenzen zwischen Fachaufsatz und Propaganda sind fließend. Die Nr. 1 des Ärzteblatts für Bayern von 1938 beispielsweise wartet mit einem Leitartikel "Zum Jahresende!" (1937) auf, in dem das NS-Regime gelobt wird, weil Deutschland, "immer mehr losgemacht von den Fesseln seiner Gegner", auf dem Weg zur "Weltgeltung" sei: "Mitten in dieser aufgewühlten Welt steht das Deutsche Reich, gerüstet und bedacht, daß seine Lande geschützt bleiben." "Gerüstet" ist wörtlich zu verstehen. Gemeint ist die Aufrüstung. Nach einigen Überlegungen, was der deutsche Arzt für "Führer, Volk und Vaterland" tun kann endet der Artikel mit einer Danksagung: "Wir wollen aber ganz besonders in dieser Stunde dem Führer der Nation und seinem Beauftragten, dem Reichsärzteführer, unseren Dank abstatten für ihre unablässige Sorge um den deutschen Arzt."

Daran schließt sich ein Aufsatz von Dr. med. Sprungmann über "Ziel und Weg in der Tuberkulosebekämpfung" an, eingeleitet mit "Worten des Führers" über den Unterschied zwischen Pest und Tuberkulose (nachzulesen in Mein Kampf). Dr. Sprungmann meint, dass das Vaterland dank der Partei und einer zentralen Führung auf einem guten Weg sei, und dann glaubt man plötzlich, im Text eines Kriegsberichterstatters gelandet zu sein: "Der ‚negativen Totalität’ der Tuberkuloseseuche muß die ‚positive Totalität’ der Gemeinschaftsarbeit unter Einsatz sämtlicher verfügbarer Machtmittel gegenübergestellt werden, um aus dem bisherigen Schützengrabenkrieg der Verteidigungsstellung in der Tuberkulosebekämpfung wieder zum Angriff kommen zu können. Es sind in diesem Kampf in Teilabschnitten durch die Einzelleistungen besonderer Organisationen hervorragende Leistungen, auf die wir stolz sein können, errungen worden, die sich aber der gesamte Frontabschnitt nur wenig nutzbar machen konnte und im Stellungskrieg verharren musste."

Dr. Sprungmann hat sich hier nicht etwa vergaloppiert, und der Hauptschriftleiter Dr. Unger wusste, was er tat, als er diesen von der Zentrale in Berlin in Auftrag gegebenen Text redigierte und dann an die regionalen Ärzteblätter zum Abdruck schickte. Die Kriegsmetaphorik folgt der Logik des NS-Staats, für den die Gesundheitspolitik ein Teil der Kriegsvorbereitungen war. In solchen von Ärzten verfassten Aufsätzen findet man sie genauso wie in Robert Koch, der Bekämpfer des Todes. Die Tuberkulose, schreibt Dr. Sprungmann, führt zu Arbeitsunfähigkeit und Tod. Familien verlieren den Ernährer, junge Männer sterben viel zu früh, und wenn es junge Frauen "im besten gebärfähigen Alter" erwischt können sie keine Kinder mehr kriegen, die der Staat dringend braucht: "Verlust der Wehrkraft von zirka fünf kriegsstarken Armeekorps sind Rückwirkungen, die erhebliche Hemmungen der Bevölkerungs- und Wehrpolitik bedeuten."

Die Tuberkulose, so Sprungmann, sei einer der "gefährlichsten Feinde für die Erhaltung und Höherentwicklung der Rasse", und teuer sei sie auch: "Wenn die wirtschaftlichen Gesamtschäden der Tuberkulose auf jährlich rund 1,5 Milliarden geschätzt werden, so kann ermessen werden, wie große finanzielle und personelle Mittel und Kräfte für die Maßnahmen zur Krankheitsbekämpfung absorbiert und damit für Aufbauarbeiten kultureller und wehrpolitischer Art entzogen werden." Fast die Hälfte aller Tuberkuloseopfer, beklagt der Doktor, seien zwischen 15 und 30 Jahren und also im leistungsfähigsten Alter. Man fragt sich, ob ihm der Krieg gegen die Tuberkulose genauso am Herzen liegen würde, wenn überwiegend alte Leute betroffen wären, die nicht mehr gegen die Feinde in anderen Ländern kämpfen und keine Kinder mehr kriegen können (das Personal für künftige Raubzüge und zur dauernden Absicherung der NS-Herrschaft).

Kampf gegen den Schmutz

Den Wert eines Menschenlebens bemaßen die Nationalsozialisten nach seinem Nutzen für den "Volkskörper". Das bestimmte auch die Gesundheitspolitik (oder was sich so nannte). Geistig und körperlich behinderte Menschen kosteten Geld, das man an anderer Stelle sinnvoller einsetzen konnte. Gleich nach der Machtübernahme flammte unter Ärzten und Juristen die bereits aus der Weimarer Republik bekannte, sich jetzt aber radikalisierende Diskussion über die Euthanasie wieder auf. Eine diesbezügliche Reform des Strafrechts, in Weimar politisch nicht durchsetzbar, schien in greifbare Nähe gerückt zu sein. Hitler allerdings wollte keine gesetzliche Regelung, weil ihm die Angelegenheit zu heikel war.

Der Reichsärzteführer Wagner hasste solche Bedenkenträgerei. Mehrere Angeklagte im Nürnberger Ärzteprozess (1946/47) sagten aus, dass er beim Reichsparteitag 1935 einen Führererlass zur Euthanasie gefordert habe. Karl Brandt, Hitlers "Begleitarzt", gab vor dem Militärtribunal zu Protokoll, dass Hitler angekündigt habe, sich der Sache anzunehmen, "wenn Krieg sein soll". Im Krieg, so Hitler, sei mit weniger Widerstand durch die Kirche zu rechnen und die Sache darum leichter durchführbar. Bei dieser Form von "Rassenhygiene" kam es nicht zuletzt darauf an, die Sozialsysteme von Kosten zu entlasten, die keinen wehrpolitischen Zweck erfüllten. Zwangssterilisation, Euthanasie und zahlreiche andere Aspekte der NS-Gesundheitspolitik dienten von Anfang an der Vorbereitung eines Krieges, der "sein sollte", weil Hitler es so wollte.

Im Jahr nach Wagners Vorstoß beim Reichsparteitag erschien Hellmuth Ungers Briefroman Sendung und Gewissen. Inwieweit Unger zu diesem Zeitpunkt in die Euthanasiepläne eingeweiht war ist nicht dokumentiert. Ich finde die Vermutung nicht ganz abwegig, dass er ständig auf dem Laufenden war. Als Pressereferent der Reichsärztekammer und des Reichsärzteführers, Schriftleiter bzw. Hauptschriftleiter von Ärzteblättern und der Zeitschrift Neues Volk sowie Leiter der Abteilung Presse, Funk und Film im Aufklärungsamt war er dafür zuständig, die Maßnahmen des Regimes propagandistisch zu begleiten. Die Aufgabe des Aufklärungsamtes, für das er auch die Korrespondenz für Volksaufklärung und Rassenpflege redaktionell betreute, definierte Unger 1934 als ein "volksaufklärendes Einwirken", sodass "auch in bisher völlig unbeteiligten Kreisen Interesse an solchen Ideen geweckt wurde, die für den Fortbestand und die Weltgeltung unseres Volkes von besonderer Bedeutung sein werden." Geworben wurde für Ideen wie die, den Volkskörper von "Ballast-Existenzen" zu befreien.

1934 konnte Unger bereits erste Erfolge vermelden: "Ungezählte Zeitungsartikel aufklärender und propagandistischer Art wurden den Tageszeitungen zur Verfügung gestellt und bereiteten den Boden vor, so daß, als im Juli das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses veröffentlicht wurde, in Deutschland dies für den Fortbestand unseres Volkes so überaus wichtige Gesetz überall bereits das nötige Verständnis fand." Auf Grundlage dieses Gesetzes vom 14. Juli 1933 wurde bis 1945 etwa eine halbe Million körperlich oder geistig behinderter sowie alkoholkranker Menschen zwangssterilisiert. Schätzungen zufolge überlebten rund 7.000 dieser Menschen den Eingriff nicht. Es liegt nahe, Sendung und Gewissen als einen von Dr. Ungers Beiträgen dazu zu lesen, nun das "nötige Verständnis" für die Euthanasie zu schaffen.

Schauplatz des zunächst in einer Auflage von 5000 Exemplaren erschienen Romans ist ein Dorf in der Mark Brandenburg, nicht weit entfernt vom "schlichten Blockhaus" eines "großen Naturfreunds und Jägers", der "die uralte Zeit wieder erstehn" lassen will (gemeint sind Hermann Göring und sein Landsitz Carinhall in der Schorfheide). Der namenlos bleibende Erzähler schreibt Briefe an seine Frau, die nach schwerer Krankheit einen Kuraufenthalt in der Schweiz angetreten hat. Offenbar ist sie Schwedin wie Görings erste Gattin, nach der das "schlichte Blockhaus" benannt war, und sie hat die Tuberkulose überlebt - anders als die erste Frau Göring, die 1931 daran starb. Was Unger mit den Göring-Bezügen bezweckte, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht sollten sie der Legitimierung eines Themas dienen, das als heißes Eisen galt, weil das Regime sowohl den Widerstand der Kirche als auch negative Reaktionen aus dem Ausland erwartete. Der "Reichsjägermeister" Hermann Göring war ein Verfechter der Euthanasie. Bereits im März 1933 hatte er zum "Kampf gegen den Schmutz" aufgerufen. "Schmutz" waren für ihn Menschen, die nicht zu den Vorstellungen der Nazis von der "Rassenreinheit" des deutschen Volkes passten.

Ein herrliches Wort

"Kannst du dir vorstellen", fragt der Erzähler in einem Brief an seine Frau, "daß jemand einen Menschen tötet, aus voller Überzeugung, ohne Haß oder Rachsucht, sondern einzig aus Hilfsbereitschaft und Mitleid?" Das muss natürlich genauer erklärt werden. Der neue "Menschenhelfer" heißt Dr. Terstegen (nach Dr. Glen in Heimkehr nach Insulinde) und arbeitet als Chirurg an einer Klinik in Berlin. Gelernt hat er bei einem berühmten Geheimrat (Ferdinand Sauerbruch). Terstegen ist leidenschaftlicher Arzt und Jäger und befreundet mit dem Erzähler, der mit ihm und dem alten Pluto, einem echten "Menschenhund", in den Wald geht. Pluto ist blind und kann nicht mehr das ihm angemessene Leben als Jagdhund führen. Dr. Terstegen gibt ihm den Gnadenschuss und begräbt ihn unter einer uralten Eiche, weil er dort "das ewige Lied der Wälder" hört. Der Erzähler ist von der Empfindsamkeit des Freundes ganz überwältigt: "Heimlich bewundere ich ihn, daß er sich solche Gedanken um ein Tier gemacht hat. Und wie gut muß dieser Arzt erst kranke Menschen verstehen!"

"Wenn Sie ein Krüppel wären", fragt Dr. Terstegen den Erzähler, "möchten Sie dahinvegetieren?" Ein Arzt könne da behilflich sein, denn Gott habe ihm "wie einem seiner Stellvertreter eine seiner vielen Gnaden zum Gewähren" übertragen. Weniger schwurbelig heißt das: Gewährt wird der "Gnadentod". Den Ärzten sei nur noch nicht bewusst geworden, dass sie "diese Gnade unter Verantwortung ausüben" dürfen. Dann will Dr. Terstegen vom Erzähler eine Entscheidung haben. Gnadentod oder nicht? "Wenn ich Ihnen als Arzt, dem Sie glauben und vertrauen, sagte: die Frau, die Sie lieben, lieben wie sonst nichts auf der Welt, ist leider unheilbar krank und dem Siechtum verfallen. Sie wird sinnlos Schmerzen zu ertragen haben, wie Dante sie nicht für die Gestraften im Inferno erfand, nur um zu atmen, nur noch, um zu sein, wünschen Sie aus der großen Kraft Ihrer Liebe heraus, dass ich dann als Helfer dies völlig zerstörte Leben künstlich weiter erhalte, nur weil es Leben ist, wie Gott es uns schenkte, oder wünschten Sie, daß ich mein erlerntes Wissen gebrauche, um einen armseligen Menschen zu erlösen? Es gibt einen Gnadentod."

"Gnadentod?", denkt sich der Erzähler in der nächsten Zeile. "Ein herrliches Wort!" Wenn es wirklich hoffnungslos sei, antwortet er, würde er Terstegen um Hilfe bitten. Das sei gut, meint der Arzt. Statt ihn zu verdammen, habe ihn sein Freund freigesprochen. "Wovon?", fragt der Erzähler. Terstegen: "Ich habe schon vielen Kranken Erlösung durch Sterben gebracht." Von der Vernebelungstaktik in Heimkehr nach Insulinde ist da keine Spur mehr. Im Brief an die Gattin, um deren "Gnadentod" er Dr. Terstegen bei unheilbarer Krankheit bitten würde, beschreibt der Erzähler den typischen Helden der NS-Propaganda: "Man kann in gewohnten Bahnen dahintrotten und seinen bescheidenen Alltagspflichten genügen. Das ist auch etwas wert und ehrenhaft. Wer aber um etwas Besseres weiß, das er herbeiführen kann, wer sich nach schicksalsschwerer Entscheidung zu etwas berufen fühlt, der soll vorangehen! Unwichtig, ob er selbst dabei zerbricht. Er hat ein Beispiel gegeben. Nur darauf kommt es an. Man soll nicht Opfer fordern von anderen, wenn man selbst nicht zu opfern bereit ist!" Die Gattin liest das sicher gern. Sie weiß jetzt, was ihr blüht, wenn sie nicht wieder ganz gesund wird. Diese schöne Motivation kann die Genesung nur beschleunigen.

Mich erstaunt immer wieder, wie flott in solchen NS-Szenarien die Perspektive gewechselt und die Täter- mit der Opferrolle vertauscht wird. Ausgangspunkt ist das Leid unheilbar kranker Menschen. Terstegen gibt unumwunden zu, dass er solche Menschen umbringt, wenn er, in seiner Funktion als Arzt und Verantwortungsübernehmer, diese Art der "Hilfe" für richtig hält. An seiner Verantwortung trägt er schwer. Unger braucht nur zwei Buchseiten, um von den leidenden Patienten zum leidenden Arzt zu kommen, der sich selbst aufopfert und zu zerbrechen droht. Wer ein Visionär ist und die Berufung in sich fühlt muss vorangehen - koste es, was es wolle. Die Kosten hatten dann aber meistens die anderen zu tragen.

Zeit zum Durchatmen. Das ist auch nötig. Im nächsten Teil verhilft Robert Koch einem tuberkulosekranken Mädchen zum schönen Sterben für die NS-Propaganda:

Emil und die Tochter des Waldhüters

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