Emil und die Tochter des Waldhüters

Seite 3: Der Arzt als Engelmacher

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Durch das Gezänk der Eltern ist etwas Zeit vergangen. Koch hatte eine Ampulle in der Hand, als er in das Zimmer des Marthelchens ging. Das Fläschchen ist verschwunden, wenn wir ihn am Bett der Kleinen sitzen sehen. Auf dem Nachttisch brennt eine Kerze, daneben steht eine Tasse. In einem Film des Perfektionisten Hans Steinhoff sind solche Details genau geplant. "Nun wird’s immer leichter, gelt Marthelchen", sagt der Onkel Doktor. "Nun brauchst du keine Angst mehr zu haben. Jetzt hast du auch gar keine Schmerzen mehr. Siehst du den Engel dort, ganz in Weiß und Silber - jaja, das ist dein Engel, Marthelchen. Den schickt dir der liebe Gott. Sieh mal, wie schön er ist. Er lächelt. Ja. Ja, Marthelchen, er wird jetzt immer bei dir bleiben." Das NS-Kino ist reich an gruseligen Szenen. Für mich ist das eine der gruseligsten.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Draußen läuft eine Horde Kinder mit Schulranzen durch den Winterwald. Im Haus flucht Göhrke, weil er so hilflos ist und darauf warten muss, dass sein Kind langsam stirbt. Dabei ist das Marthelchen bereits einen schönen Tod gestorben. Der Vater weiß es nur noch nicht. Im Sterbezimmer steht der Doktor auf wie nach der Erfüllung einer schweren Pflicht und legt der Kleinen einen Kranz auf die gefalteten Hände, während die Kinder in das Haus kommen, weil sie Kochs Einspänner gesehen haben und hoffen, dass er sie wie so oft mit in die Schule nimmt. Der nette Onkel Doktor verspricht das dann auch gleich. Sehen werden wir es nicht, weil das ein Unsinn ist. Wollte Koch tatsächlich die acht Kinder, die Steinhoff als Statisten angefordert hat, in seiner Kutsche transportieren, wäre er vor allem ein verantwortungsloser Mensch. Einige von den Kindern würden auf dem Weg zur Schule unweigerlich herunterfallen und sich dabei verletzen. Emotionalisierung geht hier vor Logik.

Dramaturgisch haben die Schüler eine doppelte Funktion. Ihre freudige Reaktion auf Kochs Anwesenheit soll uns demonstrieren, dass der Doktor ein Freund der Kinder ist. Außerdem haben wir bereits erfahren, dass jedes vierte Kind an der Tuberkulose sterben wird. Jedes vierte dieser Kinder! Umso dringender ist es, der Krankheit auf die Spur zu kommen, und umso eher heiligt der Zweck die Mittel. Schließlich geht es um das Leben dieser Kinder. Auch hier wird das Gefühl angesprochen. Mehr als drei Schüler müssen es allerdings schon sein, weil die gewünschte Wirkung ausbleibt, wenn der vierte nicht dabei ist.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Der Doktor geht aus dem Sterbezimmer zurück in den Hauptraum des Hauses. "Sie ist eingeschlafen", sagt er zu den Eltern und wendet sich dann an die Kinder: "Ja, das Marthelchen, das is nu eingeschlafen", wiederholt er. "Für immer." Wir sehen dazu acht kleine Kinder. Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Zwei werden an der Schwindsucht sterben. Und wenn das tote Marthelchen etwas dazu beitragen könnte, das zu verhindern, dann wäre es bestimmt dazu bereit (der Onkel Doktor wird später wiederkommen, um das Marthelchen zu sezieren, und leider muss er es heimlich und ohne Zustimmung der Eltern tun, weil in diesem Haus im Wald der Aberglaube herrscht und nicht der aufgeklärte Geist der Wissenschaft). Die Mutter kann gar nicht glauben, dass ihr Kind jetzt tot ist und wird hysterisch. Der Doktor wirkt beruhigend auf sie ein und schickt sie in das Sterbezimmer. "Mit Toten, da muss man sanft umgehen. Die wollen ihren Frieden haben", sagt er. Im Lichte dessen, was er noch mit der Toten machen wird, ist das der blanke Zynismus. Aber selbstverständlich ist nur gemeint, dass die Mutter still sein und nicht schreien soll. Für das, was der Held im NS-Film tun muss, gelten eigene Gesetze. Und Frauen sind immer so emotional. Darum taugten sie auch nicht als Heldinnen im Geniefilm. Ein Genie ist männlich.

"Ja warum haben Sie uns denn nicht zu ihr gelassen, die letzten Minuten?", fragt der Vater. "Weil ich Ihnen das ersparen wollte", antwortet Dr. Koch. Was soll das heißen? Was wollte er den Eltern ersparen? Sollten sie den Blutsturz nicht sehen, den es nicht gab, weil die Kleine sanft entschlafen ist, weshalb sie jetzt daliegt "wie ein Engel". Ist das ein Grund, den Eltern zu verwehren, am Bett ihres Kindes zu sitzen, wenn dieses stirbt? Mir fällt nur eine Erklärung dazu ein. Sie hat mit dem verschwundenen Fläschchen zu tun und mit der Tasse, die neben der Kerze auf dem Nachttisch steht. Den Engel hat nicht der liebe Gott geschickt, sondern der Doktor. Koch gibt dem Marthelchen ein schnell wirkendes Gift, während die Eltern noch darüber diskutieren, ob ihn die reine Nächstenliebe antreibt oder vielleicht doch etwas anderes. Steinhoff und seine Drehbuchautoren machen sich da ein bewährtes rhetorisches Mittel zunutze: Man nehme der Gegenseite den Wind aus den Segeln, indem man die von ihr vorzubringenden Einwände gleich selbst benenne und (scheinbar) entkräfte. Dann sind sie abgeräumt.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Alles in diesem Film zeugt davon, dass es tatsächlich die Nächstenliebe ist, die Koch antreibt, und die Sorge um das große Ganze. Das ändert aber nichts daran, dass das kleine Marthelchen stirbt, allein mit dem Doktor in einem Zimmer, während die Eltern noch denken, dass er ihre Tochter untersucht und dem Kind seine Medizin gibt. Wie und in wessen Beisein das Marthelchen stirbt bestimmt der Doktor ganz allein, weil er weiß, was das Beste ist. Will man so einen in sein Haus lassen? Und will man einen Film mit einer solchen Identifikationsfigur seinen Kindern zeigen? Die Kinder, die ich so kenne, sind sehr gute Beobachter. Sie haben ein feines Gespür dafür, wenn Sachen nicht zusammenpassen, weil etwas ausgespart wurde, das nicht direkt angesprochen werden sollte.

Der Wert eines Menschenlebens

Interessant ist die Inhaltsangabe im Illustrierten Film-Kurier. Wer Robert Koch nicht gesehen hat und diesen Text liest muss glauben, dass das Marthelchen schon gestorben ist, wenn der Doktor in das Haus im Wald kommt und jetzt nur noch den Tod feststellen kann: "Erschüttert steht Koch an der Leiche der Kleinen. Jedes vierte Kind im Kreise … und keine Aussicht, diese fürchterliche Seuche mit Erfolg zu bekämpfen." Das kenne ich von den Inhaltsangaben zu den Filmen, die heute noch auf der Vorbehaltsliste stehen. Da ist es auch oft so, dass der im Programmheft abgedruckte Text heikle Stellen in der Handlung vorsichtig umschifft und zum Mittel der Tarnung greift, weil Goebbels eine Propaganda wollte, die verdeckt war.

Man darf da also keine Szene erwarten, in der Dr. Koch kommt und zu den Eltern sagt: Euer Kind ist nicht mehr zu retten. Darum gehe ich jetzt in das Zimmer der Kleinen und bringe sie rasch um, damit sie nicht mehr leiden muss. Hinterher dürft ihr dann an ihr Bett treten, und sie wird aussehen wie ein Engel. Auch das Wort "Euthanasie" kommt nicht vor. Das wäre viel zu direkt. Hier sollte man daran erinnern, dass der Begriff seit der Veröffentlichung von Adolf Josts Streitschrift Das Recht auf den Tod (1895) einen Bedeutungswandel erfahren hatte. Jost trat dafür ein, den "Wert" eines Menschenlebens nach dem Nutzen bzw. Schaden für die Gesellschaft zu bemessen und leitete daraus ab, dass nicht nur der jeweilige Mensch, sondern auch die Gesellschaft das Recht habe, ein Leben zu beenden. 1895 stellte der Arzt Alfred Ploetz Überlegungen dazu an, ob es einem Ärztekollegium nicht erlaubt sein sollte, "schwächlichen" oder "missgestalteten" Säuglingen durch eine Dosis Morphium einen "sanften Tod" zu bereiten. Zehn Jahre später gründete er die Gesellschaft für Rassenhygiene.

1920 erschien das Buch Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, verfasst vom Juristen Karl Binding und vom Psychiater Alfred Hoche (übrigens ein Nazi-Gegner, der damals noch nicht ahnte, wofür er der geistige Wegbereiter werden sollte). Wie Ploetz ging es den Autoren um eine Kosten-Nutzen-Rechnung zur Bestimmung des "Werts" eines Menschenlebens. Die Argumentationslinie solcher Schriften ist oft sehr ähnlich. Man fängt mit unheilbar kranken, unter starken Schmerzen leidenden Menschen an, die um aktive Sterbehilfe bitten, erweitert den Kreis der für die Tötung auf Verlangen in Frage kommenden Menschen um solche mit körperlicher oder geistiger Behinderung, führt den Kostenfaktor ein und fragt, was eigentlich mit Leuten ist, die nicht selbst um ihren Tod bitten können. Der Jurist Binding gelangt zu dem Schluss, dass die Tötung von unheilbar Kranken, von im Koma liegenden Unfallopfern und von "unheilbar Blödsinnigen" auch ohne deren Einwilligung erfolgen dürfe. Es reiche aus, wenn die Patienten nicht ausdrücklich widersprechen. Wer getötet wird, so Binding, sollte ein vom Staat geschaffenes Gutachtergremium bestimmen.

In der Weimarer Republik ließ sich ein solcher Vorschlag politisch nicht durchsetzen. Die - auch durch die hohe Kosten verursachenden Kriegsversehrten und durch Engpässe in der Versorgung mit Lebensmitteln und Heizmaterial befeuerte - Debatte der 1920er trug jedoch zu einer Vieldeutigkeit des aus dem Griechischen übernommenen Begriffs "Euthanasie" bei, unter dem man früher schlicht einen "guten Tod" verstanden hatte ("gut" aus Sicht des Sterbenden, nicht eines Ärztekollegiums oder des Finanzministers), oder auch die Kunst, friedlich und in Würde zu sterben. Jetzt konnte die passive oder aktive Sterbehilfe damit gemeint sein, die Tötung auf Verlangen oder ohne. Die Nazis nützten dieses Durcheinander für ihre Zwecke. In der Propaganda wurden Dinge vermengt, die nicht zusammengehörten. Das Ziel: Durch das Aufweichen der Grenzen sollte die Akzeptanz für das mit Begriffen wie "Euthanasie" oder "Gnadentod" getarnte Mordprogramm gesteigert werden.

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