Emil und die Tochter des Waldhüters
Seite 5: Paläste für die Erbkranken, Hütten für die Arbeiter
- Emil und die Tochter des Waldhüters
- Tod und Ideologie
- Der Arzt als Engelmacher
- "Medizin ist Liebe"
- Paläste für die Erbkranken, Hütten für die Arbeiter
- Mensch und Hund
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Robert Koch, der Bekämpfer des Todes ist kein Reklamefilm für die NS-Version von der Euthanasie wie Ich klage an. Doch er ist alles andere als harmlos, wenn man Goebbels’ Idealvorstellung von der verdeckten Propaganda zugrunde legt. Gefragt war nicht die Holzhammermethode, sondern Gewöhnung mittels Wiederholung. Prof. Heyt versucht, ein Heilmittel für die multiple Sklerose seiner Frau zu entwickeln. Er scheitert, macht aber quasi nebenbei bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen. Hauptthema ist die Tötung unheilbar kranker (genauer: pflegebedürftiger) Menschen. Im zwei Jahre davor entstandenen Robert Koch ist es umgekehrt. Das Hauptthema ist die bedeutende wissenschaftliche Entdeckung (des Tuberkulosebakteriums). Aber die Filmemacher haben sich dafür entschieden, eine Szene an den Anfang zu stellen, in der Dr. Koch einem kleinen Mädchen "liebevoll […] auf ihrem Weg in den Tod" hilft (Reim) und das Marthelchen - zwischen den Bildern - vergiftet.
Dramaturgisch gab es dafür keine Notwendigkeit. Wenn jedes vierte Kind an der Tuberkulose stirbt reicht das völlig aus, um dem Helden die Motivation für den "Kampf" gegen diese Krankheit zu liefern. Es muss also andere Gründe dafür geben, dass Dr. Koch die "Verantwortung" übernimmt (im Sinne des Geschworenen in Ich klage an) und die Tochter des Waldhüters zum Engel macht. Oder bilde ich mir das alles ein? Man sieht nicht, wie Koch das Marthelchen vergiftet. Niemand spricht darüber. Keiner hält ein Plädoyer für die Euthanasie. Kein Wort davon im Prüfbericht der FSK. Ist also meine Phantasie mit mir durchgegangen? Ich glaube nicht. Jemand muss entschieden haben, den Film mit dem Tod des kleinen Marthelchens zu beginnen, was man wie zeigen und was man weglassen sollte und warum. Da ist nichts improvisiert, alles war genau geplant. Jannings nutzte seine starke Stellung bei der Tobis, um zeitintensive Proben mit den Schauspielern anzusetzen, bei denen bestimmt über Sinn und Zweck der einzelnen Szenen diskutiert wurde. Steinhoff und sein Hauptdarsteller müssen irgendwann darüber geredet haben, mit welcher Motivation Robert Koch in das Sterbezimmer geht und was er da macht. Was dabei wohl besprochen wurde? Man kann ein mulmiges Gefühl kriegen, wenn man darüber nachdenkt. Für mich sind Robert Koch und Ich klage an Dokumente einer Radikalisierung im Umgang mit "lebensunwertem" Leben, mit Ich klage an als nächster Eskalationsstufe.
Der Augenarzt und NS-Multifunktionär Hellmuth Unger war nicht nur deshalb als "wissenschaftlicher Bearbeiter" mit von der Partie, weil er eine Koch-Biographie geschrieben hatte. Wie bei den Ärzteblättern und der Zeitschrift Neues Volk, die er redaktionell betreute, achtete er auch beim Film darauf, dass dort die NS-Gesundheits-, Bevölkerungs- und Rassenpolitik propagiert wurde. Seine Tätigkeit für das Rassenpolitische Amt der NSDAP liefert Hinweise darauf, worin seine Aufgabe im Propagandaapparat bestand. Unger kümmerte sich unter anderem um die kurzen, für den internen Gebrauch bestimmten "Aufklärungsfilme". Die ersten der bei Parteiveranstaltungen gezeigten "Schulungsfilme" zur Diffamierung geistig und körperlich behinderten Menschen entstanden 1935. Sünden der Väter und Abseits vom Wege warnten vor den Gefahren für den deutschen Volkskörper durch fehlende "natürliche Auslese", wurden aber kaum nachgefragt, weil sie so dilettantisch gemacht waren.
Größere Verbreitung fand der 40-minütige Schmalfilm Erbkrank (stumm mit Untertiteln), der eine pseudodokumentarische Reise durch die Welt des "lebensunwerten Lebens" antrat und den Eindruck erweckte, dass gesunde Volksgenossen ein elendes Dasein fristen mussten, weil das ganze Geld für die Behinderten draufging. Erbkrank (1936) wurde bei Veranstaltungen gezeigt, zu denen Walter Groß vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP einen Referenten entsandte. Groß, mit dem Dr. Unger eng zusammenarbeitete, war am Anfang des Films als Redner zu sehen. Untertitelung: "Wo den Nachkommen von Säufern, Verbrechern und Schwachsinnigen Paläste gebaut werden, indes der Arbeiter und Bauer mit einer kümmerlichen Hütte Vorlieb nehmen muß, da geht ein solches Volk mit Riesenschritten seinem Ende entgegen."
Gnadensachen
In einem Text zu "Zehn Monate Aufklärungsamt. Ziel und Weg" kommentierte Unger den Begleitfilm zur Zwangssterilisation wie folgt: "Die Notwendigkeit dieses Gesetzes wurde durch eine Reihe packender Szenen aus deutschen Idiotenanstalten dargetan. Bewußt zeigten wir im Gegensatz zu dem erschütternden armseligen Zug der hoffnungslosen geistigen Kinder die kraftvollen Gestalten unseres Olympianachwuchses […]." Der Weg zum Ziel führte über die Emotionalisierung des Publikums durch den scharfen Kontrast zwischen diffamierenden Bildern von geistig behinderten Menschen und arischen Athletenkörpern. Merkmale dessen, was Leute wie Unger als Normalität verkauften, waren Gesundheit, Rassenreinheit und Uniformität. In den Wochenschauen der NS-Zeit sieht man dauernd junge Berufsanfänger (Lehrer, Ärzte, Juristen usw.), die nicht nur Bücher lesen, sondern mit militärischem Drill ihre Körper stählen, um sich auf den Kampf ums Dasein vorzubereiten und die Fortpflanzung einer gesunden deutschen Herrenrasse zu sichern. Eine geistige oder körperliche Behinderung macht aus Menschen "Minderwertige".
Das Rassenpolitische Amt brachte die - angeblich auf wissenschaftlicher Basis gewonnene - Erkenntnis von der höheren Fortpflanzungsrate der "Minderwertigen" unters Volk (weshalb dringend etwas unternommen werden musste, um die gesunde arische Rasse nicht zu gefährden). Wie das weitergegangen wäre lässt der Text zu Was Du ererbet … erahnen, einem stummen Schulungsfilm des RPA von 1939. Gewarnt wird da außer vor Juden und anderen "Schädlingen" auch vor der "Überalterung des Volkskörpers": "Auf 100 Arbeitsfähige kommen heute 11 Menschen über 65 Jahre, in 40 Jahren aber schon 25,5. Je weniger Kinder, desto schwerer ihre Zukunft, desto ungesicherter ihr Alter." Das war nicht nur die Aufforderung, die Geburtenrate zu steigern.
1939 reifte in der Kanzlei des Führers der Entschluss, sich für die filmische Propagierung der Euthanasie professionelle Hilfe zu suchen. Damit befasst war Hans Hefelmann, in der KdF Abteilungsleiter für "Gnadensachen" und einer der Hauptverantwortlichen für das Euthanasieprogramm. Die Tobis war die logische Anlaufstation, weil sie seit 1937 verstaatlicht war und Goebbels die Schlüsselpositionen schon sehr früh mit eigenen Leuten besetzt hatte (bei der Ufa dauerte es länger). Den ehemaligen Reichsfilmdramaturgen Ewald von Demandowsky installierte der Minister 1939 als Produktionschef. Viktor Brack, Oberdienstleiter des Amtes II in der KdF, heuerte im Oktober 1939 seinen Jugendfreund Hermann Schwenninger an (je nach Quelle auch oft "Schweninger" geschrieben). Bei der Gründung der "Gemeinnützigen Krankentransport GmbH" war Schwenninger einer der Strohmänner, deren Namen ins Handelsregister eingetragen wurden. Er leitete die Staffel mit den grauen GEKRAT-Bussen, mit denen in Süddeutschland Tausende von Euthanasieopfern in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht wurden, bis der rauchende Schornstein des Krematoriums die Bevölkerung so beunruhigte, dass die Mordaktionen dezentralisiert fortgesetzt wurden, hinter den Mauern der einzelnen Heil- und Pflegeanstalten.
Der Studienabbrecher Schwenninger (Maschinenbau und Germanistik) hatte sich in den Jahren davor als Vertreter und LKW-Fahrer durchgeschlagen und Gelegenheitsjobs beim Film ergattert. Sein Traum war es, Regisseur zu werden. Historiker vermuten, dass Schwenninger in seiner Eigenschaft als "Filmexperte" den Kontakt zwischen Hefelmann und der Tobis herstellte. Genauso gut hätte es Hellmuth Unger sein können. Er und Hefelmann kannten sich offenbar sehr gut. Als Hefelmann sich 1948 nach Argentinien absetzte blieben sie brieflich in Verbindung, bis zu Ungers Tod 1953. Das alles ist kein Beweis dafür, dass es einen Plan gab, im Koch-Film ein paar Minuten Propaganda für die Euthanasie unterzubringen, aber die Indizien sind doch sehr zahlreich. In einer Tobis-Produktion würde man so etwas am ehesten erwarten.
Allmähliche Gewöhnung
Die "Vernichtung unwerten Lebens" begann in einem Graubereich aus Illegalität, Tarnfirmen, pseudowissenschaftlich erstellten Todeslisten, stillschweigender Billigung durch einen Teil der Angehörigen und Versicherungen aus der Kanzlei des Führers, das Ganze demnächst auf eine legale Grundlage zu stellen und aus dem Halbdunkel der verschleierten Tötungsaktionen herauszuholen. Im Bereich der Filmpropaganda war beabsichtigt, das Publikum allmählich an die Idee von einer staatlich organisierten "Sterbehilfe" zu gewöhnen. Dann sollten die durch Spielfilme und pseudodokumentarische Kulturfilme vorbereiteten Volksgenossen endgültig von der Notwendigkeit solcher Maßnahmen überzeugt werden. Hermann Schwenninger arbeitete bei der Tobis an mehreren Projekten der Kategorie 2, mit denen geerntet werden sollte, was zuvor gesät worden war.
Ich klage an, wo er Teile des Drehbuchs schrieb, ist das Melo zum Euthanasiegesetz, das nie kam, weil man sich nach anfänglicher Indifferenz in der deutschen Öffentlichkeit mit starken Widerständen konfrontiert sah. In dem Film wird das Thema "Euthanasie" klar angesprochen. Die Frage, ob ein Arzt - um es mit Ungers Vokabular zu sagen - "den Gnadentod gewähren" darf ist genauso rhetorisch wie die, ob der Staat darüber entscheiden sollte, wer "erlöst" wird. Bei Dasein ohne Leben (1942) durfte Schwenninger endlich Regisseur sein. Eine erhaltene Kopie dieses "Kulturfilms" ist derzeit nicht nachweisbar. Knapp die Hälfte des ungeschnittenen Rohmaterials wird im Bundesarchiv aufbewahrt, der Inhalt des fertigen Films ist gut dokumentiert. Um es kurz zu machen: Das Werk warnte vor der Geisteskrankheit als der größten Gefahr für die Volksgesundheit, weshalb sie entschlossen bekämpft werden müsse (durch die Ermordung der Patienten).
Die ersten Szenen von Robert Koch würde ich der Kategorie "Allmähliche Gewöhnung" zuordnen. Immer wieder wurde der Kostenfaktor hervorgehoben. Um das Leben der unheilbar Kranken und Behinderten zu erhalten, so die Propaganda, mussten die gesunden Volksgenossen darben. Das Kostenthema macht deutlich, wie vergiftet Arztfilme wie der Bekämpfer des Todes und Paracelsus sind. Beide Titelhelden werden damit eingeführt, dass sie die Medikamente von Patienten bezahlen, die sich diese nicht leisten könnten. Das wirkt sehr sympathisch. Man kann aber den Kostenfaktor auch ins Spiel bringen, indem man den Helden sagen lässt, dass sich die Angehörigen der Kranken deswegen keine Sorgen zu machen brauchen. Da schwingt dann nämlich die Frage mit, was wäre, wenn der Doktor nicht mehr so spendabel ist.
Gut ins Konzept passte ein kleines Mädchen, das der Doktor liebevoll in den Tod begleitet, weil es unheilbar an Tuberkulose erkrankt ist und schlimme Schmerzen hat (und nicht, weil es mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung in einem Heim untergebracht ist und dem Staat noch Jahrzehnte auf der Tasche liegen wird). Frau Göhrke ist erleichtert, weil Koch, der Mann vom staatlichen Gesundheitsamt, das Medikament mitbringt, das für ein Waldhüterpaar zu teuer wäre. Dann schließt sich der Doktor mit dem unheilbar kranken Kind ein und kümmert sich um alles Weitere. Das Mädchen stirbt einen schönen Tod. Unter finanziellen Gesichtspunkten ist das am günstigsten. An keiner Stelle im Film wird so etwas direkt gesagt. Das übernahm die Propaganda außerhalb des Kinos, in der Zeitschrift Neues Volk beispielsweise, die im Wartezimmer des Hausarztes auslag.
Den Göhrkes im echten Leben wurde mitgeteilt, dass man das Geld auch sinnvoller verwenden könne, etwa zur Steigerung der Wehrhaftigkeit des von Feinden umstellten deutschen Volkes. "Wehrhaftigkeit" war eine Umschreibung für die Vorbereitung auf Angriffskriege, in deren Verlauf auch in anderen Ländern Menschen ermordet wurden, die nicht dem Rasse- und Gesundheitsschema der Nazis entsprachen. Manchmal bleibt einem die Spucke weg angesichts des Zynismus, mit dem da argumentiert (und an die niedrigen Instinkte im Volksgenossen appelliert) wurde. Wie das funktioniert lässt sich an Robert Koch genauso studieren wie an Heimkehr nach Insulinde und Sendung und Gewissen von Dr. Hellmuth Unger.
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