Emil und die Tochter des Waldhüters

Seite 6: Mensch und Hund

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Ich frage mich, ob sich Emil Jannings bei seiner minutiösen Vorbereitung auf Robert Koch die Zeit nahm, Ungers Euthanasieromane zu lesen, weil ihn doch irgendwie interessiert haben könnte, was das für ein Mann war, mit dem er da zusammenarbeitete und der ihn und Steinhoff in Interviews dafür lobte, dass man mit den beiden Filmkünstlern fachsimpeln könne wie unter Kollegen, weil sie sich so intensiv in die Materie vertieft hätten. Falls ja, wäre er in Sendung und Gewissen auf Szenen rund um die kleine Anita gestoßen, die ähnlich gruselig sind wie der Tod des kleinen Marthelchens, obwohl die Zirkusartistin Anita nicht sterben muss. Die Episoden dieses als Bericht vom dörflichen Leben in der Mark Brandenburg getarnten Schauerromans über einen Serienmörder und seine "Sendung" werden durch ein Gerüst zusammengehalten, das die Grenze zwischen Mensch und Tier aufweicht. Das allein war schon Reklame für ein Regime, das ganzen Bevölkerungsgruppen das Menschsein absprach und damit den Massenmord legitimierte.

Erst erschießt Dr. Terstegen den blinden Jagdhund Pluto, weil er nicht mehr zum Jagen taugt und darum - sagt der Doktor - vom Leben nichts mehr hat. Im Gespräch mit dem Erzähler preist Terstegen die Segnungen des "Gnadentods", den er schon oft "gewährt" habe, beim Tier wie auch beim Menschen. Dann kommt der Zirkus ins Dorf. Anita stürzt beim Seiltanz auf den Boden und verletzt sich. Dr. Terstegen schreitet zur Untersuchung, wie stets assistiert von Schwester Marie (auch beim Gnadentod), die ihn liebt, weil er ein so guter Mensch ist. "Durch einen Blick und wenige Worte verständigen sich die beiden Arbeitskameraden und ergänzen einander in wirklich vollkommener Art", kommentiert der Erzähler.

Terstegen gibt der kleinen Anita "in winziger Dosis das große Zaubermittel der Ärzte, das für Stunden jedes Leiden schmerzlos macht" und diagnostiziert: "Nur der Unterschenkel zum Glück. Die Maske und etwas Äther, Schwester … Ganz langsam tropfen! … Langsam. Sie schläft schon! […] Nicht mal gesplittert, da kann sie von Glück sagen … Wenn die Wirbelsäule nicht verletzt ist …" Die Wirbelsäule ist heil geblieben. Aber was, wenn es anders wäre? Wäre das Leben einer gelähmten Seiltänzerin noch lebenswert, oder würde der Doktor nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss kommen, dass Anita ein hoffnungsloser Fall ist wie der Jagdhund Pluto? Was, wenn sie Schmerzen hätte? Würde Schwester Marie dann eine Spritze mit einer Überdosis des Zaubermittels Morphium aufziehen, damit der Doktor sie erlösen kann? Beim Lesen habe ich mir unwillkürlich diese Frage gestellt, weil der Roman sie suggeriert.

Die Beinbruch-Szene gibt Dr. Terstegen die Gelegenheit, als guter Samariter aufzutreten. Wenn man die Begeisterung des Erzählers und von Schwester Marie für diesen "Menschenhelfer" nicht teilt ist das zum Frösteln, weil einem klar wird, was für eine gnadenlose Welt Unger da entwirft. Jede und jeden kann es treffen. Das Buch macht dazu ein paar Angebote, wen man erlösen könnte: Alte Handwerker aus dem märkischen Dorf; junge Knechte nach einem Arbeitsunfall; Kriegsversehrte; die Frau des Erzählers, falls sich nach dem Kuraufenthalt herausstellen sollte, dass sie doch nicht von der Tuberkulose genesen ist; kleine Artistinnen, die in der Manege vom Seil fallen und sich mehr brechen als den Unterschenkel; und blinde Jagdhunde nicht zu vergessen.

Dr. Terstegen operiert Anita, trägt selbstverständlich alle Kosten (so wie die Helden in den Arztfilmen) und nimmt das Mädchen bei sich auf, weil er den Heilungsprozess so am besten überwachen kann. Das freut auch Emma, seine Haushälterin, die sehr darunter leidet, dass Pluto sterben musste. Das Mädchen ersetzt ihr den toten Hund. Anita wird wieder ganz gesund. Der Doktor möchte sie für immer bei sich behalten, aber Anita geht lieber zurück zum Zirkus. Das ist richtig so, sagt der Roman, denn "ohne Schaden reißt man niemand aus seinem Kreise heraus. Schicksal und Bestimmung haben wir alle im Blut." Vorher kommt noch der Welpe Hasso ins Haus, mit dem Emma "wieder etwas Neues zu betreuen" hat, weil der junge Hund noch hilflos und tollpatschig ist (dies aber nicht bleiben wird, denn sonst müsste Dr. Terstegen sein Gewehr laden und Hasso neben Pluto unter der alten Eiche im Wald vergraben). Hassos Ankunft erleichtert Emma den Abschied von Anita ganz enorm. Anzeichen dafür, dass das Buch eine schwarze Komödie sein will, sind nicht erkennbar.

Reichsausschuß

Liebeneiners Ich klage an übernimmt nicht den Plot von Ungers Roman, ist aber in dessen Geist entstanden. Die Frau, meint der Direktor der Pflegeanstalt im Film, "die liebt alles, was hilflos ist. Ob es ein Säugling ist oder ein Kranker, das ist nicht so wichtig." Oder ein Hund, darf man als Leser von Sendung und Gewissen ergänzen. Der nationalsozialistische Mann hat es da schwerer. Er muss entscheiden, ob Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit zum Weiterleben oder zum Gnadentod berechtigen. "Ich habe also gegen das Gesetz gehandelt", sagt Dr. Terstegen am Schluss des Romans. "Gegen ein noch bestehendes Gesetz, das ich als Arzt für mich längst aufgehoben hatte, weil ich in jedem einzelnen Fall vor dem eigenen Gewissen bestand. So war ich stärker als dieses Gesetz geworden, denn mein Wollen war nach meiner Überzeugung etwas Höheres als irgendein beeinträchtigendes Verbot. […] Ein Führer ist nicht, wer befiehlt oder überredet, Führer ist einzig nur, wer durch Taten überzeugt." 50 mit Morphium getötete Patienten beweisen, dass Dr. Terstegen solch ein Führer ist.

Im Dritten Reich wurde aus den Tötungsphantasien zwischen zwei Buchdeckeln Realität. Zur Vorbereitung und Lenkung der "Kindereuthanasie" wurde eine Tarnorganisation namens "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" gegründet. Der "Reichsausschuß" sollte dabei helfen, einen "rassenreinen und rassentüchtigen arischen Volkskörper" zu schaffen, wie es bei der seit 1933 betriebenen Zwangssterilisation geheißen hatte. Mit dabei in der handverlesenen Gruppe war der Augenarzt Hellmuth Unger. Durch einen Erlass des Reichsinnenministers vom 18. August 1939 wurden Ärzte und Hebammen verpflichtet, missgebildete sowie chronisch kranke Kinder und Säuglinge an die Gesundheitsämter zu melden. Dafür gab es ein Formblatt. Zuerst waren nur Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres betroffen, dann wurde die Erfassung auf immer mehr Altersgruppen ausgedehnt. Ermordet wurden auch völlig gesunde Kinder, die nicht in das Wahnbild vom "gesunden Volkskörper" passten und als "gemeinschaftsunfähig" eingestuft wurden.

Der jeweilige Amtsarzt schickte die Meldebögen an die Adresse des "Reichsausschusses" (es gab nur einen Briefkasten), von wo sie zur Kanzlei des Führers weitergeleitet wurden. Nehmen wir kurz an, der Bekämpfer des Todes würde nicht von der Bismarckzeit handeln, sondern vom Jahr 1939, in dem er gedreht wurde. In Preußen war der Physikus der staatliche Gesundheitsbeamte eines Kreises. Durch das Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens von 1934 wurden die oft als Ein-Mann-Betrieb operierenden Kreisärzte durch die staatlichen Gesundheitsämter ersetzt, was eine straffere Organisation und eine bessere Kontrolle des medizinischen Personals ermöglichte. Dr. Koch wäre somit der Amtsarzt gewesen, der die Formblätter nach Berlin weiterleitete. In der KdF fiel der "Reichsausschuß" in den Zuständigkeitsbereich des schon erwähnten Hans Hefelmann, des späteren Brieffreundes von Dr. Unger.

Zu sagen, dass der "Reichsausschuß" nach Aktenlage entschied, wäre eine Beschönigung. Entschieden wurde nach Durchsicht der Meldebögen. Kinder, die von den Gutachtern ein "+" erhielten, kamen auf die Todesliste, solche mit einem "-" durften weiterleben, bei unklaren Fällen wurde ein "B" (für "Beobachtung") eingetragen. Das Ganze war so organisiert, dass der Eindruck entstehen konnte, als gehe es um eine bessere fachärztliche Betreuung der Patienten. Kinder mit einem "+" wurden zur "Behandlung" (= Tötung) in die neu eingerichteten "Kinderfachabteilungen" der Krankenhäuser und Heilanstalten eingewiesen, Kinder mit einem "B" zur weiteren Beobachtung. Der zuständige Arzt nahm bei "B"-Fällen eine genauere Untersuchung vor und schickte einen Beobachtungsbericht an den "Reichsausschuß".

Maßgebliches Kriterium bei der Beurteilung war die zu erwartende künftige Arbeitsleistung der Kinder. Schätzungen gehen davon aus, dass der "Reichsausschuß" in etwa 95 Prozent der Fälle das "B" in ein "+" umwandelte. "Behandelt" wurden die Opfer der Kindereuthanasie nicht in Gaskammern wie jener in der Tötungsanstalt Grafeneck, sondern mit gezielt eingesetzter Magerkost (langsames Verhungern) oder mit Spritzen. Das am häufigsten gewählte Gift war die Überdosis Morphium, mit der die Romanfigur Dr. Terstegen 50 Patienten "den Gnadentod gewährt". Der "Reichsausschuß" organisierte auch Tötungen auf Verlangen. Durch diese "Vermischung von individuellem Todeswunsch und der geplanten Tötung von Patienten, denen das Recht abgesprochen und die Möglichkeit genommen wurde, sich selbstverantwortlich zu artikulieren" (Claudia Kiessling), wurden wieder Grenzen aufgehoben. Bei den NS-Verbrechen hatte das Methode.

Die meisten Unterlagen des "Reichsausschusses" wurden bei Kriegsende vernichtet. Wie tief Hellmuth Unger in die Verbrechen verstrickt war ist nicht zweifelsfrei dokumentiert. Vermutlich war er als Gutachter für den Ausschuss tätig, bei dessen Etablierung er als persönlicher Referent von Reichsärzteführer Wagner eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben dürfte. Bei den Treffen zur Vorbereitung eines nie verabschiedeten, als Entwurf für die Mordaktionen aber trotzdem bedeutsamen Euthanasiegesetzes war er - ausweislich der Anwesenheitslisten - nicht dabei. Als enger Mitarbeiter Wagners hatte er jedoch andere Einflussmöglichkeiten. Jedenfalls bleibe festzuhalten, resümiert Kiessling, "wie wichtig Sendung und Gewissen als Ideengeber und Anstoß für diesen neuen Abschnitt der negativen Bevölkerungspolitik ist, denn der Gesetzentwurf und das Buch tragen eine gleiche Handschrift."

Als man sich bei der Tobis daran machte, das Drehbuch für Robert Koch zu entwickeln, hatten die Vorbereitungen für die Kindereuthanasie begonnen. Mit Dr. med. Hellmuth Unger kann man eine Person identifizieren, die bei beidem, beim Film und bei der Mordaktion, eine nicht ganz unerhebliche Rolle spielte. Als die Szenen mit dem kleinen Marthelchen auf deutschen Leinwänden zu sehen waren hatten die Gutachter ihre Tätigkeit aufgenommen. Die Euthanasiepläne unterlagen einer strengen Geheimhaltung. Ich glaube nicht, dass Jannings und Steinhoff davon wussten, als sie Robert Koch drehten. Doch in Dr. Hellmuth Unger hatten sie einen Mitarbeiter, der es ihnen hätte sagen können und der darauf achtete, dass sich die NS-Ideologie auf der Leinwand wiederfand. Als langjähriger Propagandist hatte er in solchen Dingen viel Erfahrung. Erfahrene Profis waren auch Jannings und Steinhoff. Darum ist andererseits schwer zu glauben, dass Unger ihnen Sachen unterjubelte, von denen sie gar nichts ahnten.

Im nächsten Teil dieser Geschichte einer Verwicklung wird Emil Jannings als Robert Koch endlich die Entdeckung gelingen, die den Forscher für die NS-Propaganda erst richtig interessant machte. Um es vorwegzunehmen: Sehr sympathisch ist auch das nicht. Jannings’ Gegenspieler wird Werner Krauß als Rudolf Virchow sein, den der von Dr. med. Hellmuth Unger wissenschaftlich bearbeitete Film als "Leichenheini", "Charité-Onkel" und "Demokrat" verunglimpft (im NS-Staat war "Demokrat" ein Schimpfwort). Mehr dazu in der nächsten Folge:

Emil und der Tuberkelbazillus

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