Emil und die Tochter des Waldhüters
Seite 4: "Medizin ist Liebe"
Das Marthelchen sagt kein Wort, weil Drehbuch und Regie es so wollen. Dr. Koch besieht das schweigende Kind, informiert die Eltern über die Hoffnungslosigkeit des Falles, dann stirbt die Kleine einen "guten Tod" - dies aber nicht unbedingt in der ursprünglichen Bedeutung von "Euthanasie", sondern eher im Sinne von Karl Binding. Ein Widerspruch liegt nicht vor, also darf das Marthelchen "erlöst" werden. Wer sollte das machen wenn nicht Dr. Robert Koch, als Kreisphysikus der Vertreter des staatlichen Gesundheitsamtes? Ulrike Reim fasst in ihrer Doktorarbeit über den Bekämpfer des Todes den Inhalt zusammen. Dort schreibt sie einen Satz, den ich ziemlich irritierend finde: "Liebevoll hilft er [Koch] der Kleinen auf ihrem Weg in den Tod, während die geplagten Eltern vor der Tür warten."
Das suggeriert eine Komplizenschaft, die es im Film nicht gibt. Die geplagten Eltern wissen gar nicht, dass der Doktor ihrem Kind "liebevoll" in den Tod hilft. Das entscheidet der Doktor ganz allein. Zur Infamie von Steinhoffs Film gehört es, dass uns die Göhrkes als ein naives, ungebildetes, von der Situation hoffnungslos überfordertes Paar präsentiert werden, dem ein guter und verantwortungsbewusster Mensch wie Robert Koch diese Entscheidung abnehmen muss, auch wenn ihm das natürlich schwerfällt. Es spricht für die propagandistische Qualität des Films, dass diese Ungeheuerlichkeit so einfach durchgeht (und nicht etwa - wie ich stark annehme - für das berufliche Selbstverständnis Frau Reims und ihres Doktorvaters an der Medizinischen Fakultät der Uni München, wo die Dissertation entstanden ist).
"Der höchste Grund [oder auch: Grad] der Arznei ist die Liebe", lautet ein berühmter Ausspruch von Paracelsus. Werner Krauß sagt den Satz im Paracelsus-Film von G. W. Pabst. Im NS-Propagandakino wurde aus diesem und aus ähnlichen Paracelsus-Zitaten wie "Das grundlegende Prinzip der Medizin ist die Liebe." oder "Was ist die Hilfe der Arznei anderes als Liebe?" das Glaubensbekenntnis des deutschen Arztes (der seine Patienten auch mal umbringt, wenn die Liebe es verlangt). In Liebeneiners Ich klage an sagt Prof. Schlüter, ein väterlicher Freund der Familie, im Mordprozess gegen Dr. Thomas Heyt aus, der seine unheilbar kranke Frau vergiftet hat. Folgende Dialogzeilen hat man dem Darsteller Albert Florath (in den 1950ern Stammgast im Heimatfilm, von Einmal am Rhein über Dein Herz ist meine Heimat bis zu Drei Birken auf der Heide) ins Drehbuch geschrieben:
"Die Natur lässt das nicht oder nicht mehr Lebensfähige schnell zugrunde gehen. Der ärztlichen Wissenschaft blieb es vorbehalten, die Gnade und die Wohltat des schnellen natürlichen Todes immer wieder künstlich hinauszuschieben, obgleich eine Heilung oder eine Besserung vollkommen unmöglich ist. Ja, das ist doch die Umkehrung des wahren Arzttums, die jedem Arzte bei seinem schweren Lebenswerke furchtbar zu schaffen macht. So ist das. Der große deutsche Arzt Paracelsus hat gesagt: ‚Medizin ist Liebe.’ Ich weiß, dass Professor Heyt nur aus Liebe gehandelt hat."
Der Richter signalisiert durch sein Mienenspiel, dass er dem nur zustimmen kann. Der Staatsanwalt hat keine Fragen an den Zeugen. Er hätte wenigstens darauf hinweisen können, dass Professor Heyt mitnichten der Natur ihren Lauf und die geliebte Frau und Patientin sterben ließ, statt ihr Leben künstlich zu verlängern. Er hat das den Tod hinauszögernde Medikament nicht abgesetzt, sondern Hanna eine Überdosis gegeben, damit sie schneller stirbt. Von der "Gnade und der Wohltat des schnellen natürlichen Todes" kann keine Rede sein, wenn die Patientin vom Arzt vergiftet wird. Daran ändert auch die Liebe nichts, die einem bitter aufstößt, wenn man verstanden hat, wie das funktioniert. Typisch für solche Dialoge im NS-Film ist das "schwere Lebenswerke", das dem liebenden Arzt aufgegeben ist. Es fängt an mit den armen Kranken, die mehr und länger leiden müssen, als es zu wünschen wäre. Dann ist man ganz schnell beim Arzt und bei den Angehörigen, die leiden müssen, weil der Umgang mit kranken Menschen eine schwere Last ist.
Lieben, was hilflos ist?
Prof. Heyt vergiftet seine Gattin, nachdem ihr Freund und Hausarzt Dr. Bernhard Lang der auch von ihm geliebten Hanna den von ihr erbetenen Gnadentod verweigert hat. Dr. Lang hält das für nicht vereinbar mit dem ärztlichen Berufsethos und wirft Heyt vor, Hanna nicht erlöst, sondern ermordet zu haben. Bevor er eine längere Reise antritt rettet er die an einer Hirnhautentzündung erkrankte Tochter des Ehepaars Günther vor dem Tod. Bei seiner Rückkehr findet er einen Brief der Eltern vor, die dringend um seinen Besuch bitten. Beim verspäteten Hausbesuch erfährt er, dass das Kind zwar überlebt hat, jetzt aber blind und taub und "ganz idiotisch" ist. Sie und ihr Mann hätten sich gewünscht, dass Dr. Lang noch einmal gekommen wäre und ihrer Tochter "geholfen" (sie getötet) hätte, sagt die Mutter. Die Günthers leiden darunter, dass ihr behindertes Kind lebt und in einer Anstalt untergebracht ist, statt auf dem Friedhof zu liegen.
Im Dritten Reich wurden mehr als tausend Spielfilme produziert. Ich kenne nur einen kleinen Teil davon. Hundert werden es wohl sein, die ich gesehen habe, vielleicht das Doppelte. Manche sind mir in Erinnerung geblieben, viele habe ich gleich wieder vergessen. Meinem notwendigerweise subjektiven Eindruck nach gab es bestimmte, eng mit Politik und Ideologie des Regimes verzahnte Themen, die natürlich nicht in jedem Film zu finden sind, aber immer mal wieder auftauchten, wenn sie sich unauffällig in die Handlung einfügen ließen. Dabei ist es nur logisch, dass die Dosis im Laufe der Zeit erhöht werden konnte, weil beim Publikum ein Gewöhnungseffekt eintrat. Harlans Jud Süß hätte 1933 anders gewirkt als er es 1940 tat, nach sieben Jahren der antisemitischen Indoktrinierung. Auch Robert Koch, der Bekämpfer des Todes ist in diesem Zusammenhang durchaus interessant.
Der Medizinalrat Ewald Meltzer, Leiter der sächsischen Landespflegeanstalt Katharinenhof, verschickte 1920 200 Fragebögen an die Eltern geistig behinderter Kinder. Erste Frage: "Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens Ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, dass es unheilbar blöd ist?" Meltzer war ein Gegner der "Euthanasie". Das Ergebnis seiner Aktion war für ihn ebenso unerwartet wie bedrückend. 119 von den 162 Eltern oder Elternpaaren, die den Fragebogen zurückschickten, antworteten mit "Ja", 43 mit "Nein". 24 von den 43 Teilnehmern machten ihr Einverständnis von bestimmten Bedingungen abhängig. Die Ergebnisse der Umfrage veröffentlichte Melzer 1925 in seiner als Gegenrede zu Binding und Hoche konzipierten Schrift Das Problem der Abkürzung "lebensunwerten" Lebens. Darin führte er aus, warum die Tötung von geistig Behinderten aus medizinischen wie aus ethischen Gründen abzulehnen sei.
Die Vordenker und Organisatoren des im Dritten Reich initiierten Mordprogramms griffen Meltzers Schrift dankbar auf, verkehrten die Intentionen des Verfassers in ihr Gegenteil und nützten die Studie zur Legitimierung ihres Plans. Die Fragebogenaktion lieferte wertvolle Hinweise, wie der Widerstand der Angehörigen möglichst gering zu halten war. Das Töten sollten andere erledigen. "Experten" mussten den Angehörigen die Verantwortung abnehmen. Es empfahl sich, eine Situation zu schaffen, in der die Angehörigen nicht wissen mussten, was sie nicht wissen wollten. Die Marthelchen-Episode in Robert Koch finde ich auch deshalb so gruselig, weil einem da eine Versuchsanordnung präsentiert wird, in der nur noch ein Schritt fehlt, um die Eltern tatsächlich zu Komplizen zu machen, die durch ihr Schweigen Zustimmung signalisieren. Ein Dialogsatz, ein Austausch von Blicken würde reichen.
Das Euthanasieprogramm begann mit der Ermordung von Kindern. Das war 1939, als Robert Koch gedreht wurde. 1941, als Ich klage an in die Kinos kam, war die erste Phase der inzwischen auf die Erwachsenen ausgedehnten Tötungsaktion abgeschlossen. Wenn Dr. Lang die Günthers besucht, ist mehr als der eine Schritt getan. In Robert Koch stehen die naiven Eltern vor der Tür zum Kinderzimmer und wissen nicht, dass dahinter der Arzt ihre Tochter liebevoll in den Tod begleitet oder wie man das auch immer nennen will. Bei Liebeneiner ist der Arzt der Naive. Die Eltern waren überzeugt, Dr. Lang ausreichend signalisiert zu haben, dass er die Tochter - weil leidend und unheilbar krank - töten sollte. Dr. Lang verstand damals nicht, was von ihm verlangt wurde. Jetzt müssen die Eltern der "kleinen Günther" deutlicher werden, damit er es kapiert.
Dr. Lang kann gar nicht glauben, was eine Mutter ihm da sagt und eilt - geplagt von Zweifeln an sich und seiner Vorstellung von der ärztlichen Standespflicht - zur Anstalt. Zusammen mit dem freundlichen Direktor verschwindet er hinter der Tür zur Kinderabteilung. Er wirkt sehr angegriffen, wenn er wieder herauskommt. Zu erwarten wäre nun eigentlich ein Dialog über den Zustand des behinderten Kindes. Kann man etwas für "die kleine Günther" tun, hat sie Schmerzen, wie wären sie zu lindern? Die Sorge von Dr. Lang gilt nicht seiner ehemaligen Patientin, sondern dem Personal, das täglich solche Wesen sehen muss, die für den Doktor nichts Menschliches mehr haben. "Wie hält die Schwester das aus?", fragt er. "Die Schwester? Tja. Sehen Sie, das ist eben eine Frau", antwortet der Direktor. "Die liebt alles, was hilflos ist. Ob es ein Säugling ist oder ein Kranker, das ist nicht so wichtig."
Die Botschaft ist in der Leerstelle untergebracht, die das von Liebeneiner geschickt gelenkte Publikum füllen soll. Was, so die unausgesprochene Frage, ist mit den Männern? Die Männer, sagt der Film, sind keine Frauen, und darum gehört es zu "ihrem schweren Lebenswerke", zwischen (gesunden) Säuglingen und Kranken zu unterscheiden. Der (sehr männliche) NS-Staat sagte das auch. Menschen, die hilflos waren und es bleiben würden, konnte (wollte) sich ein Regime nicht leisten, das Angriffs- und Vernichtungskriege führte, als Liebeneiner diesen Film drehte. Darum hatten die Nazis ein als "Euthanasie" getarntes Mordprogramm in Gang gesetzt, zur Entlastung der Sozialsysteme von "unwertem Leben" und den damit verbundenen Kosten.
Eine harte, aber notwendige Arbeit
Dr. Lang hat es noch immer eilig. Er muss ganz schnell zum Gericht, um sich für Prof. Heyt ins Zeug zu legen. Durch den Besuch bei der "kleinen Günther" hat er gelernt, dass sein Freund Heyt doch kein Mörder ist, sondern ethisch richtig handelte, als er seine Frau vergiftete, um sie zu erlösen. So wird der Fall eines behinderten Mädchens mit dem einer erwachsenen Frau vermengt, die an einer unheilbaren Krankheit leidet und eine ihr nahestehende Person um Sterbehilfe bittet. Der Film ist so angelegt, dass das eine das andere rechtfertigt. Weil Dr. Lang sich in der Anstalt davon überzeugt hat, dass es besser wäre, wenn "die kleine Günther" tot wäre, billigt er die Tat von Prof. Heyt, die er zuvor als Mord verurteilt hat. Und wenn es in Ordnung ist, das Leben einer an multipler Sklerose erkrankten jungen Frau abzukürzen, soll sich der Zuschauer denken, kann es nicht falsch sein, "die kleine Günther" aus der Welt zu schaffen, die kein Mensch mehr ist, sondern ein Monster, dessen Anblick ein so erfahrener und ethisch über jeden Zweifel erhabener Arzt wie Dr. Lang nicht ertragen kann, obwohl er bestimmt schon viel gesehen hat. Einen Vornamen hat "die kleine Günther" nicht, weil das zu individuell wäre. Gruppen (alle geistig oder körperlich behinderten Menschen hinter der Tür zur Kinderabteilung) lassen sich leichter ausgrenzen als Individuen.
Das passiert, wenn man anfängt, den "Wert" eines Menschenlebens zu taxieren wie in der Euthanasiedebatte der 1920er, die dem Massenmord im Dritten Reich vorausging. Alfred Hoche, der Co-Autor von Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, spricht von "Defektmenschen" (hohe wirtschaftliche und soziale Belastungen, wenn man sie am Leben lässt!) und teilt diese in "Halb-, Viertel- und Achtelexistenzen" ein. Solche Hierarchisierungen, und das Denken in diesen Kategorien, brauchte die NS-Propaganda, damit sie funktionieren konnte. Man musste sie nur noch umdrehen. Wenn erst geklärt war, dass Hanna Heyt ein Recht auf den von ihr gewünschten Tod hatte, brauchte man mit den kleinen und großen Günthers in der von ihnen zu befreienden Volksgemeinschaft nicht mehr viel Federlesens zu machen.
Wer denkt, dass Ich klage an etwas mit der aktuellen Diskussion über die Legalisierung der Sterbehilfe zu tun hat, oder mit den Auswüchsen einer Medizin, die das technisch und pharmazeutisch Machbare über das für den Patienten Wünschenswerte stellt, ist der Propaganda schon auf den Leim gegangen. Vor Gericht wird gegen Prof. Heyt wegen "Tötung auf Verlangen" verhandelt. Aber was ist mit Menschen, die ihre Tötung nicht verlangen, obwohl ihr Leben für die braun eingefärbte Volksgemeinschaft keinen Nutzen mehr hat? "Ja, wenn einer verrückt ist oder schwermütig oder sonst keinen freien Willen mehr hat", sagt einer von den Geschworenen im Beratungszimmer, "da muss eben der Staat die Verantwortung übernehmen." Als Ergänzung kann man eine Eintragung in Goebbels’ Tagebuch vom 31. Januar 1941 lesen: "Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 80000 sind weg, 60000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch eine notwendige Arbeit. Und sie muß jetzt getan werden." Phillip Bouhler, der Chef der Kanzlei des Führers, war mit der Organisation des Mordprogramms beauftragt.
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