Emil und die Tochter des Waldhüters
- Emil und die Tochter des Waldhüters
- Tod und Ideologie
- Der Arzt als Engelmacher
- "Medizin ist Liebe"
- Paläste für die Erbkranken, Hütten für die Arbeiter
- Mensch und Hund
- Auf einer Seite lesen
Geschichte einer Verstrickung 8
Zu Teil 7: Emil und der Menschenhelfer
Am Anfang meiner Schulzeit kam noch der Röntgenbus (in der DDR war es der Röntgenzug), und da Deutschland damals nicht "rot-grün verseucht" war wie vom AfD-Chef Jörg Meuthen beklagt, stand die schwarze Pädagogik hoch im Kurs. Man musste sich also Horrorgeschichten über Blutsturz und andere schlimme Dinge anhören, damit man - falls die Angst vor den Lehrern und der Gesundheitsbehörde nicht ausreichte - aus Angst vor einem fürchterlichen Tod zum Röntgen ging. Dem gegenüber stand die Angst vor der seit den 1950ern diskutierten Strahlenbelastung, vom Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose zunächst als "Strahlenpsychose der Laienkreise" abgetan. In Debattenbeiträgen der Zeit ist oft die Warnung vor einer "Verseuchung" der deutschen Gesellschaft zu finden. Nicht immer weiß man ganz genau, wie weit das Wort vom politisch-ideologischen Kontext entfernt ist, in den die Nazis es gestellt hatten. Das Bewusstsein für solche Zusammenhänge war auch deshalb stark unterentwickelt, weil die Mediziner die NS-Vergangenheit ihres Berufsstandes so entschlossen verdrängt hatten wie die Juristen.
Der Wald ist groß, die Finsternis auch.
Thomas Bernhard
Eindämmung der Sinnlosigkeit
Der größte Feind der Indoktrination ist die Informationsfreiheit. Je mehr Vorwissen man hat, desto weniger wird man der Propaganda auf den Leim gehen. Wer sich kundig macht, um wen es sich bei dem im Vorspann des Films als "wissenschaftlicher Bearbeiter" genannten Hellmuth Unger handelt, schärft zugleich den Blick für die Ideologeme (die Bausteine, aus denen sich eine Ideologie zusammensetzt), die dem Publikum, den Vorstellungen von Joseph Goebbels nach, so verabreicht werden sollten, dass es davon nichts mitbekam und sich die gewünschte Meinung bildete, ohne sich der Manipulation bewusst zu sein.
Beim Lesen von Ungers Sendung und Gewissen habe ich mich gegruselt, weil es die Geschichte eines Serienmörders ist, die da erzählt wird, eingebettet in eine Welt, die uns an die Mark Brandenburg Theodor Fontanes erinnern soll. Zwischen den ländlichen Episoden berichtet Dr. Terstegen seinen beiden Vertrauten, der ihn liebenden Krankenschwester Marie und dem Erzähler, von den Stationen seines Werdegangs. Ein einschneidendes Erlebnis ist das qualvolle Sterben seiner Mutter, der er am Beginn seiner Karriere den von ihr gewünschten Gnadentod verweigert, was ihn in eine berufliche Sinnkrise stürzt. Dann begegnet er einem alten Landarzt, der einen Knecht mit einer Überdosis Morphium "erlöst" wie schon oft, wenn ein Mensch unrettbar verloren war und nur hätte leiden müssen. Eine "Tötung auf Verlangen" ist das nicht, weil der Knecht nach einem Hufschlag an den Kopf nichts mehr sagen kann, aber ein guter Arzt weiß ohnehin am besten, was im Interesse seiner Patienten ist.
Auch Dr. Terstegen mordet mit Morphium. Den ersten Gnadentod gewährt er als Militärarzt. Ein alter Bekannter erleidet eine irreparable Kopfverletzung und wird erlöst. Mittlerweile könnte Dr. Terstegen mit Schwester Marie und dem Erzähler auf den 50. Gnadentod anstoßen, wenn das nicht zu makaber wäre. Außerdem ist beim Jubiläum etwas schiefgegangen. Der Doktor hat einen alten Mann aus dem Dorf erlöst, von dem sich hinterher herausstellt, dass er trotz gegenteiliger Diagnose kein hoffnungsloser Fall war, und nur bei hoffnungslosen Fällen hält Terstegen die tödliche Injektion für vertretbar, denn er ist ein seinem Berufsethos verpflichteter Ehrenmann. Kann passieren, beruhigt der Erzähler, der Patient wäre auch ohne die Morphiumspritze bald gestorben, und man muss das große Ganze sehen (ich lasse hier das Pathos und die edlen Gefühle weg, weil sie nur Staffage sind). Terstegen ist das zu wenig. Er entschließt sich zur Selbstanzeige. Ein Gericht soll entscheiden, was richtig und was falsch ist. Daraus wurde dann Wolfgang Liebeneiners Euthanasiefilm Ich klage an.
Das Ärzteblatt für Bayern (12.12.1936, S. 766-68) druckte unter der Überschrift "Kamerad Pluto" einen Auszug aus dem Roman ab. Einleitend heißt es: "Ein außerordentlich brennendes Zeitproblem ist der ‚Tod durch Gnade’. Hat der Arzt das Recht, einen hoffnungslos Leidenden durch den Gnadentod zu erlösen? Innerhalb eines literarisch wertvollen Romans wirft Hellmuth Unger diese Frage auf und beantwortet sie." Dann kommt der Romanauszug. Dr. Terstegen knallt seinen blinden Hund ab und begräbt ihn unter einer alten Eiche. Wenn der Hintergrund nicht so traurig wäre könnte man das fast komisch finden.
Ein paar Nummern später (16.1.1937, S. 37-38) wurde die Problematik wieder aufgegriffen. Bei der Überschrift "Zur Frage des Gnadenschusses" denkt man zuerst an die Veterinärmedizin. Es geht dann aber um diverse Menschengruppen, für die der "Gnadenschuss" (eine tödliche Morphiuminjektion) eventuell in Frage käme. Nach Meinung des anonymen Verfassers dürfte es "das Zeichen einer gewissen Seelenstärke sein, die nicht geneigt ist, sich den Tatsachen zu verschließen", wenn solche Dinge diskutiert werden. Für ihn ist das ein Beitrag zur "Eindämmung der Sinnlosigkeit", die zu den Aufgaben des Arztes gehöre. "Was entspricht der Würde des Menschen mehr", fragt der Autor, "wenn er in Elend und Schmerzen leistungsunfähig dahinsiecht, oder wenn er die sinnlose Marter verhindert?" Und am Schluss des Artikels: "Welche Mutter liebt ihr Kind mehr, die Mutter, die dem Arzt erlaubt, einen schmerzhaften Einschnitt zu machen, damit es rasch von den Schmerzen befreit wird, oder die Mutter, die sich nicht dazu entschließen kann und lieber ihr Kind längere Zeit Schmerzen erdulden läßt?"
So funktionierte die NS-Propaganda. Was mit dem Erschießen von Pluto beginnt, der wegen seiner Blindheit kein Jagdhund mehr sein kann, führt zu Überlegungen rund um den "Gnadenschuss" für "leistungsunfähige" Menschen, bis hin zu kleinen Kindern. Im Absenken von Standards und im Umdefinieren von dem, was als human zu verstehen ist, waren die Nazis Meister. Ein favorisiertes Mittel der Indoktrination war die Gewöhnung an das Ungeheuerliche durch ständige Wiederholung. Nachdem Liebeneiner Ich klage an gedreht hatte erschien eine zweite Auflage von Sendung und Gewissen, in einer veränderten (radikalisierten) Fassung und mit zunächst 30.000 Exemplaren. 1943 waren schon 45.000 Stück gedruckt. Dazu gab es eine "Frontbuchausgabe", Auflagenhöhe unbekannt. Als "einer der führenden pressepolitischen Repräsentanten der Ärzteschaft" und Verfasser dieses Romans war Dr. med. Hellmuth Unger zu einem "der tragenden Propagandisten der rassenhygienischen Forderungen und Maßnahmen des Nationalsozialismus" geworden, wie Claudia Kiessling in der ihm gewidmeten Studie schreibt.
"Was gestern noch verfemt war, ist Richtschnur von morgen", sagt Dr. Terstegen. "Nicht das Verderben und die Vernichtung sollen siegen, sondern die Gnade. Das ist höchstes Gesetz. Darf ich einen armseligen Hund, der blind und altersschwach wurde, nur aus Mitleid durch einen Gnadenschuß töten, wieviel eher einen hoffnungslos leidenden Menschen durch ein schmerzloses Mittel von unerträglicher Qual befreien!" Hier wird nicht gefragt, ob man das, was man mit Tieren macht, auch mit Menschen tun darf. Aus dem Gnadenschuss für Pluto leiten der Naziheld und sein Autor die moralische Verpflichtung ab, auch Menschen zu "erlösen", für die notfalls der Arzt entscheidet (wie für den Hund), ob ihr Leben lebenswert ist oder nicht. Die zweite Auflage des Romans erschien in einem Land, in dem Funktionäre darüber bestimmten, was unter "hoffnungslos" zu verstehen war, wer leben durfte und wer sterben musste. Kaum jemand wusste das besser als Dr. Unger.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.