Es wird sehr ernst im Atomkraftwerk Saporischschja
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Nach einem Beschuss wurde auch der sechste Meiler heruntergefahren, da die letzte Hauptstromleitung ausgefallen ist. Gekühlt wird nun allein über Notstromaggregate.
"Wir spielen mit dem Feuer und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren", erklärte der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) nach seinem Besuch im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja am Dienstag vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) in New York.
Die Lage im größten Atomkraftwerk Europa sei extrem gefährlich, fügte Rafael Grossi an. Man habe bei der Untersuchung Schäden nahe der sechs Reaktoren und an den Lagerstätten für abgebrannte Brennstäbe festgestellt.
Die wohl größte Gefahr auf dem Gelände geht derzeit von abgebrannten Brennelementen aus, die noch nicht für eine Trockenlagerung geeignet sind. Sie klingen in schlecht geschützten Wasserbecken ab und müssen weiter stark gekühlt werden.
Deshalb hat sich die Lage in dem Atomkraftwerk in der Stadt Enerhodar deutlich verschärft. Schon am vergangenen Samstag wurde nach IAEA-Angaben nach erneutem Beschuss die letzte verbliebene Hauptstromleitung zwischen dem Kraftwerk und dem ukrainischen Stromnetz gekappt. Es ist also nun der sogenannte "station blackout" eingetreten.
Am Montag wurde schließlich auch der letzte der sechs Reaktoren wegen eines "durch Angriffe ausgelösten Feuers" vom Netz genommen, teilte der ukrainische Betreiber Energoatom mit. Damit steigt das Gau-Risiko in dem riesigen Atomkraftwerk weiter. Denn jetzt sind die Kraftwerksblöcke und die Lagerstätten für abgebrannte Brennelemente allein auf eine Notkühlung über Diesel-Notstromaggregate (EDG) angewiesen.
Die Stromversorgung
Die IAEA-Inspekteure, die am 1. September nach einer gefahrvoller Anreise im Atomkraftwerk Saporischschja eintrafen, stellten in ihrem gerade veröffentlichten Bericht fest, dass es "extrem wichtig" ist, "dass externe Stromversorgungen wie vorgesehen verfügbar bleiben, und ungeplante und unbeabsichtigte Ausfälle der externen Stromversorgung minimiert werden, um einen sicheren Betrieb der der Anlage unter allen Bedingungen zu gewährleisten".
Dem IAEA-Team sei bestätigt worden, dass normalerweise jedes Notstromaggregat "über einen Treibstoffvorrat verfügt, um den Betrieb für zehn Tage aufrechtzuerhalten". Die Uhr tickt also seit Montag und in einer Woche könnte es ernst werden. Das Kraftwerk verfüge insgesamt über 2.250 Tonnen Dieselkraftstoff für den gesamten Standort, berichten die Experten.
Das Kraftwerk habe zwar einen Liefervertrag, um das Atomkraftwerk mit Diesel zu versorgen, doch die Lieferungen seien "durch die aktuelle Situation erschwert". Es würden "Gespräche geführt, um die Lieferung von Brennstoff an den Standort zu ermöglichen".
Die aktuelle Lage sei Folge davon, dass durch "intensiven Beschuss" in den letzten drei Tagen auch die Reserveleitung beschädigt worden sei, das sei die "letzte Leitung" gewesen, die das Kraftwerk "mit dem Stromnetz der Ukraine" verbunden hatte.
"Infolgedessen wurde der Block Nr. 6, der derzeit den Eigenbedarf des ZNPP deckt, entladen und vom Netz getrennt", teilte Energoatom in einer Presseerklärung mit. Der Betreiber des von russischen Truppen besetzten Atomkraftwerks macht für den Beschuss die "russischen Besatzungstruppen" verantwortlich.
Wie schon mehrfach ausgeführt, kann aus der Ferne nicht beurteilt werden, wer nun tatsächlich das Atomkraftwerk beschießt. Beide Kriegsparteien werfen sich seit Monaten gegenseitig jeweils den Beschuss vor. Die Logik von Energoatom erschließt sich allerdings nicht wirklich: Warum sollten russische Truppen sich in dem Atomkraftwerk selbst "intensiv" beschießen?
Wie genau wird hingeschaut?
Deutlich ist, dass keine definitiven Angriffe geführt werden, sondern es werden unter anderem die Überlandleitungen zerstört. Gezeigt wird auch, dass man die gefährlichen Brennelemente-Lager treffen kann. Damit wird vor allem die Drohkulisse verstärkt, doch das nutzt Russland derzeit eigentlich nichts, da man bei einer Katastrophe deutlich in Mitleidenschaft gezogen würde.
Wie an dieser Stelle dargestellt, hat sich der ukrainische Militärgeheimdienst selbst damit gerühmt, am 22. Juli Einrichtungen im Hochsicherheitsbereich in unmittelbarer Nähe von Reaktor 1 und der Notkühlung des Kraftwerks mit einer Kamikaze-Drohne angegriffen zu haben.
Ein Video, das dem Tweet angehängt war, zeigt den Angriff auf die Zelte. Auch die in Großbritannien ansässigen Lobbyvereinigung World Nuclear Association (WNA) hat in einem Bericht bestätigt, dass der Angriff in einem sensiblen Bereich des Kraftwerks stattfand.
Zudem hatte Präsident Selenskyj "jeden russischen Soldaten, der entweder auf die Anlage schießt oder im Schutz der Anlage schießt", zum "besonderen Ziel" erklärt. Das hat die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe auch nicht gerade erhöht, dass die Russen die Anlage selbst beschießen würden.
Trotz allem wird hier – auch von der Bundesregierung – allseits das Narrativ der Ukraine und Energoatom übernommen, wonach allein Russland für den Beschuss des Atomkraftwerks verantwortlich ist. Das geht auch aus einer Antwort auf eine schriftliche Frage der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen und Sarah Wagenknecht hervor.
Die Bundesregierung erklärt zwar, dass der Bundesregierung keine "gesicherten Erkenntnisse zur Urheberschaft der Angriffe auf das Gelände des Kernkraftwerks und der dabei verwendeten Waffensysteme" vorliegen würden. Wagenknecht ist darüber entsetzt, dass nur an eine Seite appelliert wird, den Beschuss einzustellen.
Sevim Dagdelen, Obfrau im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags, erklärte gegenüber der Berliner Zeitung, dass es "bemerkenswert" sei, dass man sich in Berlin die "schweren Anschuldigungen des ukrainischen Präsidenten Selenskyjs zu eigen macht".
Dagdelen hält es für "besorgniserregend", dass die Ampel "offensichtlich um die Verantwortung der ukrainischen Armee für einen Beschuss des Kernkraftwerks weiß, aber dennoch weiter und bedingungslos schwere Waffen an Kiew liefert".
Sie hält es für einen "brandgefährlichen Treppenwitz der Geschichte", dass die Grünen "als einstige Anti-Atom-Partei" selbst eine Nuklearkatastrophe in Kauf nehmen würde, um "das ausgegebene Ziel, Russland zu ruinieren" umzusetzen. Für Dagdelen ist offensichtlich weitgehend geklärt, dass die Ukraine das von Russland besetzte Atomkraftwerk beschießt. Sie fordert deshalb:
Neben der russischen Besetzung muss auch ein ukrainischer Beschuss des Atomkraftwerks in aller Deutlichkeit verurteilt werden.
Sevim Dagdelen
Es ist theoretisch möglich, dass Russland sich selbst beschießt. Aber schaut man sich die Interessenslage an, so erscheint es wahrscheinlicher, dass die Ukraine für den Beschuss verantwortlich ist.
Denn darüber wird der Druck stark auf Russland erhöht. Die Ukraine hat ein großes Interesse, wieder die vollständige Kontrolle – vor allem vor dem Winter und dem extremen Strombedarf – zurückzuerhalten. Betrieben wird das Atomkraftwerk weiter von ukrainischem Personal.
Vor allem die Interessen der Ukraine werden über die IAEA-Inspektion befördert, die Russland sogar gefordert hatte. Die Besorgnis der IAEA über die "unhaltbare" Lage in dem Kraftwerk mündet nämlich in die Forderung, dass dringend eine nukleare Sicherheitszone rund um das Kraftwerk eingerichtet werden müsse, wie der IAEA-Chef Grossi erklärte.