Eskalation als Prinzip: Deutschlands gefährlicher Weg zur "Kriegstüchtigkeit"

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Der Ukraine-Krieg verschärft längeren Trend vom Kalten Krieg zur heißen Front. Bundesrepublik ist mittendrin. Von der Kuba-Krise zur "Zeitenwende". Gastbeitrag.

Die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges hatte nur eine kurze Lebenszeit. Seit Anfang dieses Jahrhunderts wachsen die Militärausgaben wieder, in Europa und anderen Regionen werden Kriege geführt.

"Ukraine-Konflikt: Rote Linien und existenzielle Bedrohungen"

Im Zentrum steht der Krieg in der Ukraine, ausgelöst durch den Widerstand Russlands gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und die Ablehnung einer Verhandlungslösung durch die USA und ihre Verbündeten. Eigentlich hatte Präsident Putin nie einen Zweifel daran gelassen, dass für Russland der Nato-Beitritt Kiews eine rote Linie überschreiten würde.

Angesichts der Auseinandersetzungen im Donbass hielt man offensichtlich in Moskau diesen Punkt im Februar 2022 für gekommen.

Für die USA ist die Ukraine eine Frage des Prinzips, für den Kreml ist die Angelegenheit aber schlichtweg existenziell – in diesem Konflikt geht es nicht um die Ukraine, sondern um das Schicksal Russlands selbst,

… so schätzt der russische Außenpolitik-Experte Dmitri Trenin die Moskauer Sicherheitsinteressen ein.

Kubakrise

Im Herbst 1962 wäre US-Präsident Kennedy bereit gewesen, bis an den Rand des nuklearen Abgrunds zu gehen, um die Sowjetunion daran zu hindern, Kuba zu ihrer Raketenbasis zu machen. Sechzig Jahre später habe der russische Präsident eine Militäraktion angeordnet, um sicherzustellen, dass die Ukraine nicht zu einem unsinkbaren Flugzeugträger der USA werde.

Hubert Thielicke, Botschaftsrat a.D., ist Politikwissenschaftler und Publizist.

Die Kubakrise konnte damals friedlich gelöst werden, mehr noch – sie leitete eine Phase von Rüstungskontrolle und Abrüstung ein, beginnend mit dem "heißen Draht" zwischen Moskau und Washington sowie dem Moskauer Vertrag über den teilweisen Teststopp (1963).

Derzeit ist noch nicht abzusehen, wie der Krieg in der Ukraine enden wird. Zieht er sich noch länger hin, mit großen Opfern auf beiden Seiten, weitet er sich aus? Oder sind beide Seiten bald so erschöpft, dass eine Einigung möglich wird?

Unter Bundeskanzler Scholz schloss sich die Bundesrepublik bedingungslos dem Kurs von USA und Nato an. Es geht in erster Linie um Waffenlieferungen an Kiew – immerhin belegt hier Berlin den zweiten Platz nach den USA –, von der Suche nach einer Verhandlungslösung zwischen Russland und der Ukraine war nicht mehr die Rede.

Westen stoppt Verhandlungen

Im Gegenteil, als Anfang 2022 die russisch-ukrainischen Gespräche in Istanbul Hoffnungen auf ein Ende des Konfliktes entstehen ließen, stoppte der Westen, insbesondere die USA und Großbritannien, diesen Prozess. Wie auch die Regierungen anderer Nato-Staaten trug die Bundesregierung das mit, während Altbundeskanzler Gerhard Schröder im Hintergrund den Verhandlungsprozess förderte.

Der Artikel entstammt der Januar-Magazinausgabe von Welttrends.

Der Krieg eskalierte weiter. Trotz umfangreicher westlicher Waffenlieferungen steht Kiew gegen Ende 2023 vor düsteren Aussichten – es mangelt an Waffen, die USA beginnen sich abzuwenden, und ein Beitritt zur EU liegt in weiter Ferne, war im November 2023 im Spiegel zu lesen (Einsam in Kiew. In: Der Spiegel, Nr. 46 / 11.11.2023).

Besorgnis erregen müssen vor allem zwei Tendenzen: Erstens befindet sich die Rüstungskontrolle im Niedergang, wurden wichtige Vereinbarungen ad acta gelegt. Zweitens kam es zu politisch-militärischen Spannungen, in Deutschland verbunden mit einer verstärkten Militarisierung.

Niedergang von Rüstungskontrolle und Abrüstung

Die Situation hinsichtlich der Rüstungskontrolle verschärfte sich weiter, von Eindämmung der Rüstungen und Vertrauensbildung ist kaum noch die Rede. Allerdings ist das durchaus keine neue Entwicklung.

Die Rüstungskontrolle steckt seit längerer Zeit in einer tiefen Krise. Sie begann mit der Kündigung des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen durch US-Präsident George W. Bush. Eine "rüstungskontrollpolitische Zeitenwende" nannte das Rüdiger Lüdeking, ehemaliger stellvertretender Abrüstungsbeauftragter der Bundesrepublik. Denn:

Für die USA unter Bush hatte die Rüstungskontrolle keine große Bedeutung mehr. Sie wurde vielmehr als Einschränkung der Handlungsfreiheit empfunden und daher im Wesentlichen abgelehnt, zumal auch Russland nicht mehr als gleichrangiger Partner, sondern nur noch als Regionalmacht gesehen wurde, die keine echte Bedrohung mehr für den Westen darstellte.

Im Unterschied zu den Zeiten des Kalten Krieges setzten die USA nicht mehr auf Konzepte wie Wahrung von militärischem Gleichgewicht und rüstungskontrollpolitischer Zusammenarbeit oder Rücksichtnahmen. Vielmehr galt für Washington nun, "Sicherheit durch militärische Überlegenheit zu gewährleisten und sich von Hindernissen auf diesem Weg zu befreien. Es begann die Abräumung des rüstungskontrollpolitischen Acquis" (Rüdiger Lüdeking: Rüstungskontrolle als Thema von gestern? In: Politikum. Heft 3 / 2022, S. 56).

Von Obama über Trump zu Biden: Gefährliche Erosion

Während es 2010 unter Präsident Obama mit Russland noch zum Abschluss des New-Start-Vertrages zur Verringerung strategischer Waffen kam, setzte sein republikanischer Nachfolger Trump den unter George W. Bush begonnenen Prozess mit der Kündigung des INF-Vertrages, des Vertrages über den Offenen Himmel ("Open Skies") wie auch der Wiener Nuklearvereinbarung mit dem Iran (JCPoA) fort.

Nach dem Amtsantritt von Präsident Biden wurde es immerhin möglich, den New-Start-Vertrag bis 2026 zu verlängern. Das in den 1990er-Jahren vereinbarte Rüstungskontrollregime bei Streitkräften und konventionellen Rüstungen in Europa existiert nicht mehr.

Auch dazu haben die USA erheblich beigetragen (Wolfgang Richter: Ukraine im NATO-Russland-Spannungsfeld, SWP-Aktuell, Nr. 1/Februar 2022). Die jüngste Verschärfung der Beziehungen zwischen Moskau und Washington hat die Rüstungskontrolle zwischen beiden Mächten weiter in Mitleidenschaft gezogen.

Unter Verweis darauf erklärte Präsident Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023, Russland werde den New Start-Vertrag aussetzen, seine Obergrenzen aber einhalten und die USA auch weiterhin über Teststarts von Raketen informieren.

Angesichts von Überlegungen in Washington, einige Typen von Kernwaffen mittels Tests zu überprüfen, betonte Putin, Russland werde die nötigen Vorbereitungen treffen, um im Falle von Kernwaffentests seitens der USA selbst solche durchzuführen, jedoch nicht als Erster. (Während die Kernwaffenstaaten Russland, Frankreich und Großbritannien den Umfassenden Kernwaffenteststopp-Vertrag von 1996 unterzeichnet und ratifiziert haben, waren die USA und China bisher zur Ratifikation nicht bereit.)