Deutsche Sicherheitsstrategie: Die Illusion über Kriegsführung in Europa

Ein Soldat der Bundeswehr schießt mit dem M4-Karabiner bei der Übung Operation Backbone am 6. Februar 2019. Bild: Christopher Stewart / Public Domain

Bundesregierung setzt die militante Ausrichtung der Weißbücher fort. Sie gibt sich drei Grundirrtümern hin. Wie eine alternative Realpolitik aussähe. Gastbeitrag.

Mit erheblicher Verzögerung veröffentlichte die Bundesregierung 2023 ein Set strategischer Grundsatzdokumente: am 4. Juli mit Kabinettsbeschluss erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie, NSS 23. Unmittelbar am 13. Juli gefolgt von der China-Strategie, ChS, und am 9. September ihre Verteidigungspolitischen Richtlinien, VPR 23. Die konfrontative Gesamtausrichtung gegen Russland und China erfordert eine kritische Auseinandersetzung.

Das höchste Strategiedokument – die NSS, leider in der militanten Kontinuität der Weißbücher von 2006 und 2016 – trägt den Untertitel "Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland".

Die Strategie, die Irrtümer

Federführend war das Auswärtige Amt. Der Untertitel beinhaltet die entscheidenden Schlagworte des strategischen Konzepts Deutschlands:

- "Wehrhaft"

- fähig sein, auf eigenem Territorium einen Krieg führen zu können.

- "Resilient" – in einem solchen Krieg funktionsfähig bleiben.

- "Nachhaltig" – in diesem Krieg erfolgreich sein, also siegen.

Damit wird nicht unterstellt, dass Deutschland einen Krieg anstrebt, aber es schließt ihn eben auch nicht als eine völlig unrealistische und inakzeptable Option aus. Insofern kann man diese drei Schlagworte durchaus als drei Grundirrtümer bezeichnen, die Deutschlands sicherheitspolitische Strategien kennzeichnen – ein Programm, das in seiner Diktion auf eine Militarisierung des Landes und der Gesellschaft hinausläuft.

Der Artikel entstammt der Januar-Magazinausgabe von Welttrends.

Drei Jahrzehnte Reform-Experimente mit der Bundeswehr – ebenso wie die Phalanx der überforderten Verteidigungsminister:innen – sind allesamt gescheitert. Von einer "Verteidigungsarmee" zur "Armee im Einsatz" und nun ein weiterer Wendeversuch, der Salto rückwärts in die Vergangenheit des "Kalten Krieges".

Bedrohungsphobien

Die politischen Leitlinien zur Durchsetzung des Programms bilden Feindschaft zu Russland, Systemkampf mit China sowie Vasallentreue gegenüber den USA. Der permanente antikommunistische Hass auf die Sowjetunion im 20. Jahrhundert geht gegenwärtig in der Russophobie des Westens auf und trägt das Scheitern schon in sich.

Die entsprechend weltanschaulich ideologisierten Kernaussagen in den Dokumenten lauten:

- "Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum" (NSS: 11/12, 22; VPR 23: 9). Nicht weit entfernt von dieser Aussage ist eine Distanzierung von China, das "Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale ist, wobei Wettbewerb und Rivalität in den vergangenen Jahren zugenommen haben" (NSS: 12, 23; VPR 23: 10/11).

- Ziel und Interesse Deutschlands ist "die Festigung der transatlantischen Allianz und der engen und vertrauensvollen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika" (NSS: 11, 21).

Westliche Ordnung

Dementsprechend gibt es auch ein ausdrückliches Bekenntnis zur "regelbasierten Ordnung" des transatlantischen Westens:

Den Versuchen, die Welt in Einflusssphären aufzuteilen, stellen wir das positive Modell der regelbasierten Ordnung entgegen". (NSS: 15, 48)

Deutschland versichert, keine Aktivitäten außerhalb einer Abstimmung mit der Nato bzw. der Europäischen Union vorzunehmen. De facto bedeutet das die Anerkennung und Unterstützung der Hegemonialrolle der USA.

Wesentliche deutsche Interessen bleiben dadurch zum Schaden der eigenen Bevölkerung unberücksichtigt. Hatten die VPR 2003 noch konstatiert, dass es "eine Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte […] derzeit und auf absehbare Zeit nicht [gibt]", so formulierte die VPR 2011:

… eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln ist unverändert unwahrscheinlich.

Ideologische Demagogie

Eine entsprechende realistische Bewertung erfolgt weder in der aktuellen Nationalen Sicherheitsstrategie noch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien.

Eine nüchterne Bedrohungsanalyse wird ersetzt durch ideologische Demagogie und ihre penetrante Wiederholung. Deutschland, die Staaten des Nato-Bündnisses insgesamt, sind jedoch keiner militärischen Bedrohung – weder konventionell noch nuklear – ausgesetzt.

Konventionell aufgrund ihrer mehrfachen Überlegenheit und nuklear durch die gegenseitige Abschreckung. Russland – durch den Ukrainekrieg geschwächt – ist auf absehbare Zeit keine Bedrohung für die Nato. Die Sicherheitsstrategie und die Verteidigungspolitik der Ampelregierung setzen dagegen eindeutig auf eine Politik der Stärke und Dominanz bei der Lösung internationaler Aufgaben und Konflikte.

Insofern stehen militärische Aufrüstung und Entwicklung der Fähigkeiten zur Kriegsführung im Vordergrund aller strategischen Überlegungen. Hierzu gehört auch die Bereitschaft zur unmittelbaren Teilnahme am Wirtschaftskrieg: "Die Bundesregierung wird dazu beitragen, das Mittel der Sanktionen noch effektiver zu gestalten" (NSS: 38).

Heißer militärischer Krieg und Wirtschaftskrieg bilden für die Bundesregierung eine Einheit.

Eklatante Defizite

Das entscheidende Defizit der Strategie-Dokumente besteht darin, dass es keinerlei Aussagen hinsichtlich politisch-diplomatischer Anstrengungen zur Kriegsverhinderung und für eine friedliche Konfliktlösung und enthält.

Die Sicherheitsstrategie der Bundesregierung fällt damit weit hinter die finstersten Zeiten des Kalten Krieges zurück, in denen spätestens seit 1967 – also nach dem Harmel-Bericht der Nato – eine Doppelstrategie von militärischer Abschreckung und Dialog die systemische Auseinandersetzung zwischen Nato und Warschauer Vertrag dominierte.

Man kann es als Verschleierung oder bewusste Täuschung bewerten, wenn das Strategiepapier auf das Leitliniendokument des Auswärtigen Amtes zur Krisenverhütung, Konfliktbewältigung und Friedensförderung ("Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Leitlinien der Bundesregierung", Sept. 2017) Bezug nimmt, das noch aus der Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel stammt und schon damals als Leitlinie nicht ernst genommen wurde.

Auch das verbale Bekenntnis zur "Erhaltung und Weiterentwicklung der Rüstungskontroll-Architektur" (NSS: 44, 15; VPR 23:) muss als leere Phrase bewertet werden. Denn das im Kalten Krieg entstandene und durchaus erfolgreiche System der Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung ist längst durch den aktiven Boykott und Aufkündigung dieser Architektur seitens der USA und Russland zusammengebrochen.