Eskalation als Prinzip: Deutschlands gefährlicher Weg zur "Kriegstüchtigkeit"

Seite 2: Verspielte Chancen

In seiner Rede am 25. September 2001 im Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude ließ Wladimir Putin als neuer Präsident Russlands sein Interesse an Partnerschaft und Zusammenarbeit erkennen. In Deutschland fand das zunächst ein positives Echo, in Berlin und Moskau wurde gar auf eine Nato-Mitgliedschaft Moskaus spekuliert.

Andere Signale kamen von jenseits des Atlantiks: Washington kündigte 2002 den ABM-Vertrag, 2003 überfielen die USA mit einer "Koalition der Willigen" den Irak, die Osterweiterung der Nato nahm Fahrt auf.

In seiner harten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) kritisierte der russische Präsident am 10. Februar 2007 diese Politik als Streben nach "monopolarer Weltherrschaft". Das "Münchner Signal" Putins wurde im Westen wenig ernst genommen.

Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest 2008 strebte US-Präsident George W. Bush jedenfalls die sofortige Aufnahme der Ukraine und Georgiens an, was vor allem von Berlin und Paris verhindert wurde. Heraus kam als Kompromiss eine generelle Zusage zur Mitgliedschaft.

"Diesen Krieg kann niemand gewinnen"

Die Lage eskalierte schließlich 2021, insbesondere durch Manöver und Truppenbewegungen. Ende des Jahres schlug Russland den USA und der Nato in zwei Papieren Vereinbarungen zu Sicherheitsgarantien und weiteren Maßnahmen vor, die nach mehreren Gesprächsrunden jedoch abgelehnt wurden.

Auch die Moskauer Gespräche des französischen Präsidenten Macron und von Bundeskanzler Scholz mit Präsident Putin führten zu keiner Lösung. Im Gegenteil, am 24. Februar 2022 startete Russland seinen Angriff auf die Ukraine – ein offener Bruch des Völkerrechts (Erhard Crome, Hrsg., 2022: Zeitenwende? Der Ukraine-Krieg und die deutsche Außenpolitik; Welttrends, Potsdam).

Offensichtlich sah man sich in Moskau durch die jüngsten Entwicklungen in die Ecke gedrängt und suchte einen Ausweg auf militärischem Wege. "Diesen Krieg kann niemand gewinnen", schlussfolgerte im August 2023 eine Gruppe deutscher Experten, darunter General a.D. Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

Sie schlugen vor, den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden zu beenden und unterbreiteten entsprechende Ideen. Und Deutschland? Die Bundesregierung legte 2023 erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) vor.

Die neuen Richtlinien Berlins

Dieses Dokument wie auch die kurz darauf von Verteidigungsminister Pistorius vorgestellten Verteidigungspolitischen Richtlinien verdeutlichen den Führungs- und Gestaltungsanspruch Deutschlands als "bevölkerungsreichstes Land und die größte Volkswirtschaft in Europa".

In den Richtlinien wird unmissverständlich erklärt: "Wir müssen Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa sein." Anvisiert wird das Ziel, "die Bundeswehr zu einer der leistungsfähigsten Streitkräfte in Europa zu machen, die schnell und dauerhaft reaktions- und handlungsfähig ist."

Zur Begründung des mit der "Zeitenwende" verbundenen Hochrüstungsprogramms bedarf es natürlich einer Gefahr von außen und so verweisen beide Dokumente kurzerhand auf Russland "als die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum".

Parallel dazu wird die "Wehrhaftigkeit" zur "gesamtgesellschaftlichen Aufgabe" erklärt, "Kriegstüchtigkeit" zur "Handlungsmaxime". Die von Verteidigungsminister Pistorius erhobene Forderung, die Bundeswehr müsse "kriegstüchtig" werden, löste eine öffentliche Debatte aus.

Mehr Verantwortung als Tarnbegriff

Geht es aber nicht vielmehr darum, "friedensfähig" bzw. "verteidigungsfähig" zu sein? Zwar wird einerseits in der NSS betont, man wolle die globale Rüstungskontrollarchitektur erhalten und weiterentwickeln; andererseits beschuldigt man aber vor allem Moskau, schuld an ihrer Erosion zu sein, dabei die "führende Rolle" Washingtons ignorierend.

Diese jüngsten Entwicklungen haben eine längere Vorgeschichte. Bereits 2014 hatten Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefordert, Deutschland müsse international "mehr Verantwortung" übernehmen und sich "früher, entschiedener und substanzieller" engagieren.

Im Oktober 2020 erschien unter dem Label "Zeitenwende – Wendezeiten" eine Sonderausgabe des Berichts der MSC zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. "Zeitenwende" bedeutete für die Autoren, dass sich bisherige außenpolitische Gewissheiten der Bundesrepublik auflösen.

Das neue Umfeld sei insbesondere gekennzeichnet durch eine Schwächung der bisherigen internationalen Ordnung, den Aufstieg Chinas, eine Reorientierung der USA angesichts schwindender Machtpositionen. Diese Zeitenwende erfordere nun aber auch eine Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Russland als Bedrohung

In dem Report wird betont, dass Deutschland inzwischen weithin aktiv sei, jedoch immer noch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibe, in der Verteidigungspolitik gäbe es den "größten Nachholbedarf."

Auch bei der kollektiven Verteidigung der Nato sehe es "düster" aus. Wären die Europäer auf sich allein gestellt, sähen sie sich "massiven Fähigkeitslücken" gegenüber. Würden die USA die Nato verlassen, müssten die europäischen Bündnisstaaten gewaltige Ausgaben tätigen, um über Streitkräfte zu verfügen, "die in der Lage wären, in einem begrenzten regionalen Krieg gegen einen ebenbürtigen Gegner zu bestehen".

Versteht sich, dass mit einem "ebenbürtigen Gegner" Russland gemeint war, bis zu dessen westlichen Grenzen sich die Nato vorgeschoben hatte. Eine Steigerung deutscher Verteidigungsausgaben sei dringend.

Und schon war man beim Ziel, die Militärausgaben ganz rasch auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen. Mehr noch, man möchte den nach Ansicht der Autoren und konservativer Kräfte in Deutschland weitverbreiteten Pazifismus und Antimilitarismus zurückdrängen.

Deutsche müssen umerzogen werden

Ihnen ging es besonders um die Frage: Kann der Bevölkerung eine aktivere Außen- und Sicherheitspolitik zugemutet werden? Bedauert wurde, dass "eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben oder auch die Beteiligung der Bundeswehr an robusteren Einsätzen schwer zu vermitteln sei".

Die meisten Deutschen verstünden unter "mehr Verantwortung" nur den Einsatz ziviler Instrumente, es käme aber darauf an, sie "mit guten Argumenten" von Entscheidungen zu überzeugen, die über das traditionelle Handlungsspektrum Deutschlands hinausgehen.

Meinungsumfragen zeigten damals, dass gerade aufseiten der politischen Linken – SPD, Grüne, Die Linke – die Meinung überwog, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine größere Verantwortung als andere Länder trägt, sich für den Frieden einzusetzen. Insgesamt widerspiegelte der Münchner Report die Auseinandersetzungen um die weitere deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.

"Möglich-Macher-Macht"

Die Autoren plädierten dafür, dass Deutschland als viertstärkste Wirtschaft der Welt und stärkstes EU-Mitgliedsland eine größere Rolle spielen müsse. Die Möglichkeit der EU, in der Weltpolitik zu agieren, hänge nun mal stark von Deutschland ab.

Es sei heute eine "Möglich-Macher-Macht" (enabling power) und müsse die EU in die Lage versetzen, zu einem handlungsfähigen Akteur in allen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik zu werden. Eine deutsche Führungsrolle in der EU sei eben ein notwendiges Kriterium für ein starkes Europa.

Die Nationale Sicherheitsstrategie und die Verteidigungspolitischen Richtlinien zeigen, dass sich solche Ideen in der Ampel-Koalition nun offensichtlich weitgehend durchgesetzt haben.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Welttrends und wird in der kommenden Magazinausgabe im Januar 2024 veröffentlicht.

Dr. Hubert Thielicke, geb. 1949, Studium der Volkswirtschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Außenpolitik an der Moskauer Diplomatenakademie. 1972 bis 1990 Tätigkeit im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, darunter stellvertretender Delegationsleiter auf der Genfer Abrüstungskonferenz und Sektorleiter Abrüstung in der UNO-Abteilung, 1987 Konferenzfunktionen in Genf und New York, darunter Generalberichterstatter der UN-Konferenz über die Förderung der internationalen Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie, 1988 bis 1990 Mitglied der Expertengruppe des UN-Generalsekretärs über die Rolle der UNO bei der Kontrolle. 1992 bis 2006 Pressesprecher eines Wirtschaftsunternehmens, PR-Berater und Journalist. Vorstandsmitglied des Verbandes für internationale Politik und Völkerrecht. Seit 2010 Pressesprecher und Autor von WeltTrends, seit 2018 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates von WeltTrends und der Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit.