Europa ist demografisch Avantgarde

In Europa schrumpft und veraltet die Bevölkerung schneller als anderswo, viele Regionen in Ostdeutschland sind damit besonders drastisch konfrontiert

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Man kann Regionen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten, um Unterschiede oder auch Zukunftsfähigkeit herausarbeiten. Das [http://www.berlin-institut.org/ Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung] hat sich einmal die Entwicklung oder "Zukunftsfähigkeit" von 285 Regionen in der EU (mit der Schweiz, Island und Norwegen) im Hinblick auf Kinderzahl, Einkommen, Arbeitslosigkeit, Bildungsinvestitionen, CO2-Belastung und vielen anderen Indikatoren angeschaut.

Allgemein geht es demografisch mit Europa bergab. Die Region veraltet stärker als andere, abgesehen von Russland. In der EU schrumpft die Bevölkerung bis 2050 von jetzt 591 Millionen auf 542 Millionen. Alle anderen Regionen werden weiterhin noch aufgrund hoher Kinderzahlen demografisch wachsen, auch wenn hier die Veralterung ebenso zunimmt und die Kinderzahl pro Frau zurückgeht. Afrikas Bevölkerung könnte sich innerhalb von 40 Jahren verdoppeln, wobei die Lebenserwartung zwar auch von 53 auf 65 Jahre ansteigt, aber noch weiter hinter der in Europa oder Nordamerika von 82 Jahren zurückbleibt.

Europa ist insofern Avantgarde oder, wie es das Institut ausdrückt: Europa spielt eine Vorreiterrolle, was ja nicht nur schlecht sein muss, da Veränderungen hier schneller geschehen müssen. Mit seinen vielen unterschiedlichen Regionen, in denen die Entwicklungen sehr verschiedenartig verlaufen, könne Europa zu einem "Marktplatze der Idee, Erfolge und Misserfolge" im Hinblick darauf werden, was anderen Kontinenten erst später bevorsteht. 2050 könnte das Durchschnittalter bei reifen 74,3 Jahren (2005: 38,9) liegen. Abgesehen vom jungen Afrika mit dann 27,4 Jahren kommen die anderen Regionen mit einem Durchschnittsalter von 40 Jahren und darüber schon näher.

Grün bedeutet gute Aussichten, je rötlicher die Farbe, desto problematischer wird es für die Gebiete. Bild: Berlin Institut

Die Studie basiert allerdings auf Daten vor dem Beginn der Kreditkrise, also als deren wirtschaftlichen Folgen noch nicht absehbar waren. Mag daher gut sein, dass manche "zukunftsfähige" Regionen durch die Rezession jetzt oder in naher Zukunft nicht mehr so gut dastehen. Am besten schneiden die nordeuropäischen Länder ab, einschließlich Island, aber auch große Teile der Schweiz. In aller Regel gibt es ein Ost-West- und ein Nord-Süd-Gefälle. Gut schneiden (hier noch) Irland und Großbritannien, die Benelux-Länder, Frankreich, Österreich, der Süden Deutschlands und Bereiche im nördlichen Italien und im Nordosten Spaniens ab. Ländliche Regionen in Süditalien oder Griechenland sowie vom "Strukturwandel" betroffene große Gebiete in Bulgarien, Rumänien oder Polen zeichnen sich hingegen durch niedrige Kinderzahlen, hohe Abwanderung junger Menschen und Überalterung mit überdies geringerem Wohlstand aus.

Der Erfolgskorridor bildet nach der Studie ein Oval, das im Norden von Stockholm und Oslo über London, Paris, der Schweiz und Süddeutschland bis ins westliche Österreich reicht. Deutschland ist weiterhin in den Westen und den Osten aufgeteilt. Die Länder im deutschen Osten haben trotz der hohen Subventionen schlechtere Aussichten als Slowenien und Tschechien sowie die Hautstadtregionen von Ungarn oder der Slowakei.

Besonders schlecht sieht es nach der Studie in Sachsen-Anhalt, Chemnitz und Thüringen aus. Sie zählen zu den 10 europäischen Regionen, für die die Zukunft am düstersten ist. Die jungen Frauen massenweise ab, daher sind weniger Kinder zu erwarten, geht die wirtschaftliche Leistung herunter und damit auch das BIP.

In Deutschland gibt es ein Nord-Süd- und ein noch deutlicher ausgeprägtes West-Ost-Gefälle

Ob freilich langfristig die demografische Komponente das entscheidende Maß für Zukunftsfähigkeit sein muss, ist eine andere Frage. Der Bericht geht davon ais, dass dort, wo Bevölkerungswachstum stattfindet oder zumindest die Bevölkerung stabil ist, alles in Butter ist, also auch die Wirtschaftslage stabil ist. Die Regionen, die sich verdünnen, müssten für stärkere Zuwanderung sorgen. 2006, so heißt es im Bericht, haben Spanien besonders viele Migranten angezogen (aus Rumänien und Bulgarien, gefolgt von Großbritannien), während Polen und Rumänen besonders viele Einwohner verloren hätten (temporäre Arbeitsmigration nicht eingeschlossen). Zwar wird gesagt, das sich die Migrationsströme schnell ändern können, tatsächlich dürfte Spanien mit der Wirtschaftskrise, dem Zusammenbruch der Immobilienblase und der Rezession kein besonderer Magnet mehr Arbeitsmigranten sein, während die Polen vermehrt wieder in ihr Land zurückkehren (Deutschland hat vor allem Einwohner an die Schweiz verloren).

Eine Aussage des Berichts ist jedenfalls, dass dort, wo die Erwerbstätigkeit von Frauen – und damit die Gleichberechtigung - hoch ist, auch die Kinderzahl höher ist. Die Zahlung von Kindergeld sei dafür nicht primär verantwortlich, wohl aber staatliche Investitionen in eine "familienfreundliche Infrastruktur".