Europas Hegemon unter intellektuellem Kreuzfeuer

Seite 4: Ein Kerneuropa ohne Kern

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Bekanntlich haben die unterschiedlichen Mentalitäten und Lebensstile, die Kojève den beiden Völkern unterstellt, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer Ende der 1950er Jahre nicht davon abgehalten, die ersten Pflöcke eines gemeinsamen europäischen Hauses in den Boden zu rammen. Trotz aller Aussöhnung, geopolitischer Interessen und deutsch-französischer Freundschaften und Jugendwerke, die seitdem gegründet worden sind, haben sich die "Verschiedenheiten in den Nationalcharakteren" nie ganz verdecken oder aufheben lassen.

Jahrzehnte lang konnte diese Differenzen etwa auch durch die Männerfreundschaften zwischen Mitterand und Kohl, Chirac und Schröder kaschiert werden. Doch mit der Einführung des Euro und den geldpolitischen Turbulenzen, die er in den Haushalten der Schuldner-Länder verursacht, brechen die politischen, mentalen und kulturellen Unterschiede wieder auf.

Die Einführung des Euro zeigt, dass jenes Kerneuropa, das in Sonntagsreden gern und vielstimmig besungen wird, keinen deutsch-französischen Kern besitzt und vielerorts auf Sand gebaut ist. Er macht deutlich, dass die Grenzlinien in Europa nicht nur mental und kulturell, wie Kojève noch dachte, sondern auch wirtschaftspolitisch völlig quer und anders verlaufen als die zwangsvergemeinschaftete Wirtschafts- und Währungsunion es wahrhaben will.

Die atmosphärischen Störungen wachsen

Die anschwellenden Rufe von Politikern und Finanzjongleuren Deutschland möge aus der Euro-Zone austreten oder einer Aufspaltung der Währung in einen "Nord-Euro" und "Süd-Euro" akzeptieren, weisen ausdrücklich und nachhaltig darauf hin.

Und in der Tat wachsen die Dissonanzen im deutsch-französischen Verhältnis, nehmen die "atmosphärischen" Störungen zu, die Kojève angesprochen und vorausgesehen hatte. Erst recht, seitdem eine sozialistische Regierung unter François Hollande einer konservativen Kanzlerin gegenübersteht und Paris aufgrund seiner wirtschaftlich bedenklichen Lage gezwungen ist, seine Staatsquote massiv zu senken und sein riesiges Defizit abzubauen.

Nicht nur die Auffassungen der beiden Länder über die Finanz-, Sozial- und Wirtschaftpolitik weisen vermehrt in diametral entgegengesetzte Richtungen. Immer häufiger paktiert der Franzose auch auf EU-Gipfeln, EU-Krisensitzungen oder EU-Fototerminen mit seinen Amtskollegen aus Rom und Madrid. Erst jüngst, beim EU-Gipfel in Rom Ende Juni letzten Jahres, schlug er sich auf die Seite der beiden anderen "lateinischen" Regierungschefs, Monti und Rajoy, als es darum ging, Angela Merkel zu später Stunde Zugeständnisse hinsichtlich des Zugangs zum Euro-Rettungsschirm abzupressen.

Sorgenkind Nummer 1

Angesichts dieser Gemengenlage verwundert es nicht, dass Günther Oettinger, der EU-Kommissar in Energiefragen, soeben endlich mal Klartext geredet und die EU als "Sanierungsfall" bezeichnet hat, die von "Gutmenschentum" beseelt sei und sich als "Erziehungsanstalt" für den Rest der Welt gebärde statt die hausgemachte Finanz- und Schuldenkrise entschlossen zu bekämpfen?

Besorgt zeigte er sich zudem über die wirtschaftliche Lage Frankreichs. Das Land sei auf dem Weg, Europas Sorgenkind Nummer eins zu werden. Paris sei "null vorbereitet, auf das, was notwendig ist". Frankreich brauche eine Agenda 2010, die die Renten reformiert, mithin kürzt, die Lebensarbeitszeit verlängert und die Zahl der Staatsdiener mindestens halbiert. Zudem müsse es seine Staatsquote von 57 Prozent senken, seine Wettbewerbsfähigkeit steigern und mehr für den Mittelstand und für Innovationen tun.

Dass sich François Hollande angesichts diverser EU-Reformempfehlungen "Einmischung" in die inneren Angelegenheiten seines Landes verbeten hatte, sagt nicht nur etwas über die Konstruktionsfehler der EU aus, sie ist auch bezeichnend für die Haltung eines französischen Staatspräsidenten, der noch immer vom Stolz und der Größe seines Landes überzeugt ist, vom Glanz und der Glorie vergangener Jahrhunderte zehrt und dem Ordnungsruf der Französischen Revolution: "Die Republik ist eine und unteilbar" zu folgen scheint. Mit einer Gemeinschafswährung, die die Mängel und Defizite der Nation aufdeckt, ist das so aber nicht mehr möglich.

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