Europas Hegemon unter intellektuellem Kreuzfeuer

Seite 5: Europa muss verführerisch sein

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Kojève kommt das Verdienst zu, vieles von dem vorausgesehen zu haben. Etwa, dass Europas politische Führer nach einem Krieg, der den Kontinent vollkommen verwüstet und die Nationen fast selbst zerstört, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Integration suchen werden. Aber auch, dass dieser Weg dank vieler kultureller Widersprüche und Differenzen mit etlichen Kümmernissen, Widrigkeiten und Ressentiments gepflastert sein wird. Mit dem Euro-Projekt, in das sich der Kontinent unnötigerweise verstrickt hat, treten sie mit Nachdruck wieder hervor.

Dass ihm das vor bald siebzig Jahren mit analytischer Schärfe gelungen ist, verwundert nicht. Dafür war der Philosoph, der gern auch als "Dandy" und "Filou" brillierte, an Sonntagen philosophierte und an den Werktagen zum gefürchteten Funktionär aufstieg, damals schon bekannt. Nicht zufällig war er später maßgeblich am europäischen Aufbauwerk beteiligt, gab im Hintergrund die Leitlinien der französischen Wirtschaftspolitik vor und verstarb im Juni 1968, während eines Referats, das er im Auftrag der französischen Regierung in Brüssel, passenderweise über das aufregende Thema der "Zolltarife" vortrug, an einem Schlaganfall.

Natürlich kann man es sich leicht machen und die Betrachtungen des Großdenkers verächtlich als "Völkerpsychologie" oder als Abkunft einer "Kulturkreislehre" abtun und beiseite schieben. Auch kann man seinen Laut- und Fürsprecher Agamben als "Berlusconis Philosophen" beschimpfen, wie der ansonsten von mir sehr geschätzte Jürgen Kaube.

Alles, was mit Kultur, Religion oder Traditionen zu tun hat, mag man mit Stirnrunzeln betrachten, für politisch vermint oder für längst überholt betrachten. Zumal des ethnischen und religiösen Mischmasches, der mittlerweile auf dem Boden des "lateinischen Raums" herrscht. Dann versteht man vielleicht aber nicht zum Beispiel auch jene Vehemenz und Robustheit, mit der etwa aktuell auf den Straßen und Plätzen um die "Homo-Ehe" in Frankreich gerungen wird.

Trotzdem bewies der ansonsten überaus kühl und nüchtern wirkende Analytiker ein gewisses Gespür dafür, dass sich die angelsächsische Mentalität möglicherweise nicht so recht mit der "lateinischen" decken würde, die zwar "katholisch", aber "anti-klerikal" (heute würde man wohl "laizistisch" sagen) ist, die Heimat "verführbarster Sünder" ist und mitunter noch Sinn für Verausgabung und Verschwendung hat. Ein solches Europa, das "lateinischen" Froh- und "Lebenssinn" versprüht, das die "Kunst, sich zu vergnügen" besitzt und zugleich "Sinn für Zweideutiges" beweist, wäre Ramoneda zufolge, "verführerisch".

Niemand stirbt für eine abstrakte Idee

Und noch etwas schrieb Kojève den politischen Führern bereits damals ins Stammbuch. Zwar sei eine "ökonomische Einigung" eine "unverzichtbare Bedingung" auch der "lateinischen Reichseinheit". Ein "Existenzgrund" sei sie aber beileibe nicht. Ziel einer Reichseinigung müsse "ein politisches" sein, die nur von einer spezifisch politischen Ideologie hervorgebracht und beseelt werden kann.

Schon damals hatte Kojève, der Post-Hegelianer, die Bürger für klüger gehalten als ihre politischen und geistigen Eliten. Er wusste, und darauf hat Agamben sowohl in seinem Kommentar als auch in einem Interview, das er Dirk Schümer von der FAZ jüngst gegeben hat, nochmals explizit darauf hingewiesen, dass ein europäisches Haus, das auf einer abstrakten Idee gegründet wird, über kurz oder lang wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen werde.

Um es stand- und krisenfest zu machen, braucht es einen "Allgemeinwillen", der in seinem "Wollen autonom ist und das Höchstmaß an Autonomie will". Zumal "kein vernünftiger Mensch", schreibt Kojève, "seine Privatinteressen" für eine "abstrakte Idee", heiße sie nun "Menschheit" oder "Universalismus", einsetze und dafür in den Kampf ziehe und sterbe. Wer das glaube, jage entweder einem "nostalgischen Traum" und "Phantom der Vergangenheit" nach, oder einer "Gegenwart ohne Zukunft", die ein "unverantwortliches Abenteuer" bleiben wird.

Unverantwortliches Abenteuer

All das ist im realen Europa mit der Totgeburt "Euro" geschehen. Die Beschlüsse, die die EU trifft, mögen vielleicht legal sein, legitim sind sie nicht. Sie können sich nicht auf eine Verfassung berufen, die von den Bürgern Europas abgesegnet worden ist. Wo sie den Bürgern vorgelegt wurde, in Frankreich und in Holland, wurde sie mit Mehrheit abgestraft. Sie irgendwelchen Staatschefs, Kommissären und Beamten zu übertragen, die in Hinterzimmern, in Krisennächten oder persönlichen Absprachen politische Entscheidungen großer Tragweite treffen, reichen dafür nicht aus.

Ist dies der Fall, sinkt ein Staat nach Auffassung Kojèves "auf das Niveau einer bloßen Verwaltung herab, die bestenfalls die Privatinteressen bedienen muss, aber die sie nicht mehr versöhnen kann". Und wo dieser absolute Autonomie-Willen fehlt und keine "kulturelle" oder gar "spirituelle" Identität stiftet, und das ist wohl die Botschaft, die der Post-Hegelianer uns hinterlassen hat und die sein Epigone Agamben weitertragen will, kann es folglich keine trans-nationalen politische Einheiten geben, mithin auch kein gemeinsames Europa.

Katholizismus als Sinnstifter

Nur wenn Europa sich auf seine kulturellen und geistigen Wurzeln besinnt, dabei auch die politischen und rechtlichen nicht ausspart, wird Europa, auch als Projekt, überleben. Hat nicht zuletzt auch Jürgen Habermas immer wieder die politische Funktion einer solchen Religion angemahnt? Lassen sich Wirtschaft und Kultur, Marktförmigkeit und Verschiedenheiten überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Kann ein politisches Großreich vom Bewusstsein der Verschiedenheit getragen werden?

Ob dabei ein solcher, institutionell entkleideter "Katholizismus" Hilfestellung oder, wie Kojève ernsthaft glaubte, "als geistige Quelle dienen" könnte, mag man bezweifeln. Gewiss auch mit Recht. Andererseits könnte ein derart lateinisch gewordenes Europa, das weniger "materialistisch", dafür offen für Ethik und Ästhetik ist und von dieser "spirituellen Verwandtschaft " getragen wird, tatsächlich eine Alternative zu den Kalkülen des Liberalkapitalismus und der sozialistischen Zentralwirtschaft sein.

Zumal Europa, worauf Angela Merkel bei Vorträgen immer wieder mal Bezug nimmt, zwar nur acht Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, dabei ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung erwirtschaft, aber fünfzig Prozent, also die Hälfte aller Sozialleistungen weltweit, an seine Bürger verteilt.

Der Kundige wird bereits hier rasch jene Umrisse erkennen, die nach Kojève den "universalen und homogenen Staat" nach dem "Ende der Geschichte" ausmachen werden: Der Europäer ist das postheroische und posthistorische Tier, das als untätiger Zeitgauner und "letzter Mensch" (F. Nietzsche) den "Sonntag des Lebens" (Hegel) dank der Arbeitssklaven in Fernost oder anderswo in vollen Zügen genießt und sein Leben fortan vorwiegend mit sommerlichen Spaziergängen verbringt.

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