Europas Hegemon unter intellektuellem Kreuzfeuer
Seite 2: Das "Lateinische Reich" ist aus dem Dornröschenschlaf erwacht
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- Das "Lateinische Reich" ist aus dem Dornröschenschlaf erwacht
- Hassobjekt Deutschland
- Ein Kerneuropa ohne Kern
- Europa muss verführerisch sein
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Fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Neuveröffentlichung und bald zehn Jahre nach seiner neokonservativen Weitergabe scheinen Kojèves Skizzen für ein "Lateinisches Reich" in Europa endlich ihren "Dornröschenschlaf" beendet zu haben. Erst recht, seitdem sich Deutschland mit seiner Europapolitik in den "lateinischen Ländern" des Südens unbeliebt gemacht und erst Portugal und Griechenland, dann auch Italien und Spanien strikte Spardiktate aufgezwungen hat.
Nicht nur muss sich die "protestantische" Kanzlerin von etlichen Beobachtern im Ausland deswegen beschimpfen, Vergleiche mit Hitler und die Verunglimpfung ihrer Person mit Nazi-Symbolen gefallen lassen. Auch befreundete Politiker und Intellektuelle äußern zunehmend Unbehagen an der "Zuchtmeisterrolle", die das Land in der Mitte Europas mit seiner Austeritätspolitik gegenüber den "katholischen" Pleite- und/oder Verschwenderstaaten betreibt.
Sie fürchten, ob zu Recht oder zu Unrecht, eine neue Dominanz und Bevormundung, die Deutschland aufgrund seiner demografischen Größe, seiner wirtschaftlichen Potenz und politischen Macht knapp siebzig Jahre nach seiner "totalen Kapitulation" im Herzen Europas wieder ausüben könnte, und das obwohl es in der jüngeren Vergangenheit laut Agamben "keineswegs als vorbildlich" gehandelt habe.
Gefahr droht vom rechten Rheinufer
Da kommen Skizzen und Ideen, die Ähnliches besagen oder gar, wie im Falle Kojèves scharfsinnig vorhersagen, gerade recht. Denn schon Monate nach Ende des Großen Krieges warnte der russischstämmige Philosoph, der 1933, nachdem er bei Jaspers mit einer Arbeit über "Die religiöse Philosophie Wladimir Solowjews" promoviert, nach Paris geflüchtet und dort das Denken einer ganzen Intellektuellengeneration mit seinen, vom Geist Heideggers inspirierten Hegel-Lectures geprägt hatte, de Gaulle vor einem möglichen wirtschaftlichen Neuaufstieg Deutschlands.
"Die unmittelbare Gefahr ist die deutsche", mahnte Kojève, "sie ist nicht militärischer, aber wirtschaftlicher und so politischer Natur." Der in Epochen und Strukturen zu denken geschulte Philosoph erkannte bereits damals, dass das Zeitalter der Nationalstaaten vorbei sei und sich an deren Stelle "Großreiche" (Empire) bilden werden. Da die Nation nicht mehr "wirksame politische Realität" ist, und "die Menschheit", die die Sozialistische Internationale favorisiert, "eine Abstraktion ist" und mithin "in ferner Zukunft" liegen wird, werde "der hegelsche Weltgeist, der die Nationen zurücklässt, Aufenthalt in den Reichen nehmen".
Die Epoche der Großreiche
Reiche unterscheiden sich von Imperien laut Kojève insofern, als es "trans-nationale politische Einheiten" zwischen "verwandten Nationen" sind, die sich in Sprache und Mentalität, Herkunft und Lebensformen, Religion und Lebensstilen ähneln und eventuell auch auf eine gemeinsame Geschichte, Kultur oder Tradition verweisen können. Imperien umfassen dagegen immer auch Völker und Kulturen, die sich "fremd" sind oder bleiben, unterschiedliche Sprachen sprechen und verschiedener Herkunft sind.
Gewiss war Kojève nicht der erste oder gar der einzige, der während und gleich nach dem Krieg in politischen Großgebilden dachte. Ähnliches hatte vor dem Krieg Carl Schmitt (Der Nomos der Erde) vorausgesagt. Für den Juristen und Staatsrechtler waren es "raummissachtende Universalisierungen", die ein Imperium grundsätzlich von einem "Reich" unterschieden. Ein Imperium war laut Schmitt ein "übervölkisches Gebilde", das Welt und Menschheit zugleich umfasste, während ein Reich einen "konkreten Großraum" beanspruchte, der explizit "nicht-universalistisch", dafür aber "wesentlich volkhaft" war.
Derartiges Denken (Möglichkeiten eines "echten Friedens" trotz komplizierter Verhältnisse) war, wie man längst weiß, auch geopolitischer Teil der Blut- und-Boden-Ideologie, mit der die nationalsozialistische Bewegung die verspätete deutsche Nation zum Zuchtmeister und Taktgeber in Europa machen wollte. Auch Hitler, dessen Rolle und Wirken der russische Emigrant mit Robespierre und den Jakobinern vergleicht, mit dem Thermidor der französischen Revolution, dachte längst in solchen "Großreichen".
Statt drei Reichen nur noch zwei
Das "dritte Reich", das tausend Jahre währen, aber nur zwölf kümmerliche Jahre zustande brachte, wollte und sollte laut Kojève dem "angelsächsischen Imperialkapitalismus" im Westen und dem "sowjetischen Imperialsozialismus" im Osten Paroli bieten. Dies war auch der Grund, warum Hitler und seine Gefolgsleute bekanntlich für sich das selbe Recht reklamierten, das sich die westliche Großmacht ("Monroe-Doktrin") herausnahm, nämlich ein "Interventionsverbot für raumfremde Mächte", auf das Russland und China, gepaart mit dem der "Nichteinmischung", in Völkerrechtsfragen gelegentlich immer noch beharren.
Der verlorene Krieg und die totale Kapitulation hatten freilich all diese geopolitischen Überlegungen, die in Berlin und anderswo zugange waren, über den Haufen geworfen. Hitler-Deutschland hatte nach Kojève den Fehler gemacht, diesen Krieg "als Nationalstaat führen und gewinnen" zu wollen. Auch achtzig Millionen "politisch vollkommener Bürger" seien nicht in der Lage, so der gewitzte Großdenker, "die Anstrengungen eines modernen Krieges auf sich zu nehmen". Daran konnten weder die Besetzung und Ausbeutung fremder Länder noch der Import von sechs Millionen Arbeitssklaven etwas ändern.
Darum war es nur konsequent, dass die beiden anderen Großreiche siegreich und übrig blieben: das angelsächsische, dem die USA und Großbritannien angehören und das aufgrund seines "politisch-ökonomischen Blocks" auf Dauer wirkmächtigste, sowie das "slawisch-sowjetische orthodoxer Tradition", das zwar ideologisch zunächst auf die ganze Menschheit ausgerichtet war, unter der Führung Stalins aber zum imperialen sowjetischen Staat ausgebaut wurde.
Demokratisch, friedfertig, wiederbewaffnet
Der damals bereits in wirtschaftlichen Handelsfragen tätige Kojève, der sich selbst für den "einzigen echten Stalinisten" gehalten haben soll, dachte freilich beileibe nicht bloß in politischen, sondern immer auch in ökonomischen Kategorien. Der Chef der Bank von Frankreich soll ihn deswegen, als er später in den 1950ern bereits hoher Beamter der französischen Regierung war, sich mit Fragen der ökonomisch-rechtlichen Ordnung des neuen westeuropäischen Marktes befasst hatte und dabei auch als Spion für den KGB tätig war, als "ökonomisches Genie" bezeichnet haben.
So sah er voraus, dass das von seinen Ostgebieten getrennte und dermaßen enthauptete Deutschland allein wegen seiner "wirtschaftlichen Potenz", die ihm quasi eigen ist, bald wieder groß und stark sein werde. Dank seiner protestantischen Kultur, die laut Max Weber die Arbeits- und Leistungsethik des Kapitalismus nachhaltig inspiriert hatte, werde es sich alsbald dem angelsächsischen Großreich anschließen und zum "Musterschüler" des angelsächsischen Imperialismus werden. Was mit der "Westbindung" später tatsächlich Realität wurde.
Vielleicht hatte Kojève da bereits die "Reeducation" vor Augen - nicht zufällig fallen in diesem Zusammenhang die Worte "demokratisch" und "friedfertig" -, die in den Jahren danach in Deutschland einsetzte und aus den vormals streng autoritätsgläubigen Deutschen nach und nach feurige und rechte Demokraten gemacht hat. Ferner prognostizierte er die "Wiederbewaffnung" des Landes, die schon deshalb kommen werde, um ein Bollwerk und "Gegengewicht zur ökonomischen und militärischen Macht der UdSSR" zu bilden.
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