Europas Hegemon unter intellektuellem Kreuzfeuer
Seite 3: Hassobjekt Deutschland
Für die "Grande Nation" hätte Deutschlands wirtschaftlicher und zugleich politischer Aufstieg allerdings gravierende Folgen. Durch die baldige Einfügung Deutschlands ins "europäische Haus" würde Frankreich "zurückgesetzt", es verlöre sein "politisches Gewicht" und schrumpfe zur Sekundärmacht in Kontinentaleuropa. Das wäre im Übrigen auch der Fall, wenn es sich dem angloamerikanischen Reich anschlösse. Im angelsächsischen Machtbereich würde es mit seiner kulturellen Tradition und Lebensauffassung auch noch zum "Fremdkörper" werden.
Um sich gegenüber dem rechtsrheinischen Aufsteiger behaupten und seinen "kulturellen Eigensinn" wahren zu können, propagierte er zwei Strategien: Einerseits eine Art französischen Morgenthau-Plan. Danach sollte Deutschland entindustrialisiert werden. Nicht nur sollte jede Stahlproduktion verboten werden. Auch die deutsche Landwirtschaft sollte in Zukunft ihre Düngemittel aus Frankreich beziehen. Dass später daraus die Montanunion hervorgehen sollte, die Vorgängerin von EG und EU, gehört wohl mit zu den Treppenwitzen der Geschichte.
Frankreichs Zukunft liegt im Süden
Andererseits sollte Frankreich seinen Blick vermehrt nach Süden richten, in den Mittelmeerraum. Es sollte sich mit Spanien und Italien zusammentun, mit den beiden "verwandten Nationen" ein drittes "Alternativreich" zu den bereits existierenden gründen und darin die Rolle eines "primus inter pares" einnehmen. Zwar würde dieses "Lateinische Reich" den beiden anderen militärisch, politisch oder wirtschaftlich kaum das Wasser reichen können. Und mit seinen gut 110 Millionen wäre es allein auch zu schwach dafür.
Doch die Kultur, die Sprache und die Lebensweisen des Südens, die eher von "Lebensfreude", von "Genuss" und vom "Sinn fürs Schöne" erfüllt sind als von der Ordnungs-, Arbeits- und Leistungsbesessenheit, die denen von Sklaven nicht ganz unähnlich sind, würden bewahrt und erhalten bleiben. "Italien, Spanien und Frankreich", dessen ist sich etwa Ramoneda gewiss, "sind die Länder der Welt, wo es sich - trotz allem - am besten leben lässt."
Freilich sollte das "lateinische Reich" nicht auf diese drei Kernstaaten begrenzt bleiben. Auch der gesamte Mittelmeerraum mitsamt allen afrikanischen Anrainerstaaten sollten miteinbezogen werden. Von "vitalem Interesse" sei es, die afrikanischen Kolonien für das Mutterland zugänglich zu halten und dabei "die Idee des Mittelmeeres als mare nostrum als konkretes Ziel der lateinischen Außenpolitik" im Auge zu behalten.
Die Mittelmeerunion prognostiziert
Auch aus heutiger Perspektive ist dieser Gedanke höchst bemerkenswert. Gewiss konnte Kojève unmittelbar nach WK II noch nicht ahnen, dass die Nordafrikaner ihre Kolonialherren rund dreißig Jahr später aus dem Land werfen, der Kolonialismus folglich Geschichte sein werde. Doch hing er wohl der Auffassung nach, dass die "Spiritualität", die das Mittelmeer ausstrahlt, die harten Differenzen und Konflikte, die sich aus unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Abhängigkeiten ergeben hatten, mäßigend und einigend auf diese Völker und Nationen wirken könnte und sich die Beziehungen zur islamischen Welt dadurch verbessern könnten.
Ob das nach den "Arabellionen" in Nordafrika und dem Bürgerkrieg in Syrien der Fall sein wird, muss man abzuwarten. Mit dem "Atlantropa-Projekt" von Hermann Sörgel Anfang des letzten Jahrhunderts, im "Eurafrika"-Vorhaben Mitte desselben und dem "Desertec-Projekt" Ende des Jahrhunderts wurden jedenfalls schon erste Anfänge für mehr Kooperation mit dem und Integration des Norden Afrikas gemacht.
Deutschland legt die Pläne auf Eis
Ähnliches gilt für den "europäischen Himmelsrichtungsstreit", der mit der Einführung des Euro und all den diversen Euro-Rettungsmaßnahmen in Europa ausgebrochen ist. Bereits auf dem EU-Gipfel von Nizza anno 2000 brachte Jacques Chirac als Gegenpol zur Osterweiterung die "Südschiene" der EU ins Gespräch, um den Einfluss Frankreichs in Europa zu stärken.
Acht Jahre später forcierte Nicolas Sarkozy diese Pläne erneut und mit Nachdruck. Im Sommer bat er rund 40 Staats- und Regierungschefs nach Paris, um die "lateinische Option" wiederzubeleben. Der "Mittelmeerunion" (Europas Zukunft liegt im Süden) sollten auch Anrainerstaaten beitreten können. Die Eile, mit der der französische Staatspräsident die Sache vorantrieb, rief indes Angela Merkel auf den Plan, die rasch erkannte, dass dieser Vorstoß vor allem gegen Deutschland gerichtet war. Sie legte ihr Veto ein und sorgte dafür, dass aus der Mittelmeerunion nur eine "Union für das Mittelmeer" wurde, die fortan unter der verwaltungstechnischen Knute Brüssels steht.
Die Spiritualität des Mare Nostrum
Prominenter Stichwortgeber für einen solchen lateinischen Verbund war, ohne dass Kojève sich in seinem Text darauf bezogen hatte, zweifellos Fernand Braudel. Der Geograf hatte einst in seinem "Mittelmeerbuch" (Sein ist da, wo Raum ist) die Pracht, den Glanz und die Fülle der Mittelmeerregion in schwelgerischen Worten beschrieben, sie in herben Gegensatz zum kühlen nördlichen Europa gesetzt und ihn dafür verantwortlich gemacht, dass eine europäische Einheit nie zustande gekommen war.
Der französische Historiker hatte daraus geschlossen, dass der Zusammenschluss der lateinischen Länder immer schon stärker gewesen sei als der Wunsch nach einem vereinten Europa. Darum könne Frankreich auch nur in dieser geografischen Umgebung seine "kulturelle Eigenheiten" wahren und seine politische Sonderstellung, Grande Nation zu sein, behaupten und ausüben. Nur in der südlichen Hemisphäre fände das Land aus jener politischen und wirtschaftlichen "Sackgasse" heraus, in die es in einem Verbund mit Deutschland gerate werde.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.