Europas Nachtgesang

Seite 3: Sehnsucht, fromme Ahnung

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Sehnsucht ist auch hinlänglich bekannt als treibendes Motiv der Romantik. Die Anleihen Tarkowskis in dieser Hinsicht sind vielfältig. Tarkowski arbeitete in den siebziger Jahren an einem Skript für das estnische Studio Tallinnfilm, eine Vorarbeit, die er 1974 weitgehend abschloss. Die Idee fußt auf Leben und Werk von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776 - 1822) und führte zu dem Drehbuch Hoffmanniana (1976). Tarkowski nahm sich das Skript 1984 noch einmal vor, und obwohl auch die russische Zentralbehörde für Filmwesen Goskino (deren Nachfolgebehörde Roskino 1998 von Putin endgültig aufgelöst wurde) bereits grünes Licht gegeben hatte, wurde das Vorhaben nicht mehr realisiert. "Hoffmanniana" blieb also ein unvollendetes Projekt. Tarkowski war aber nicht nur mit dem Werk Hoffmanns vertraut, sondern kannte auch Schelling, Novalis und Kleist.

Auf die Tradition der "frühromantischen Idee einer rätselhaft sprechenden Natur" verweist wiederum F. Apel8 und zitiert E.T.A. Hoffmanns Hinweis auf die "Hieroglyphenschrift" der Schöpfung9.

Der Geweihte vernimmt die Stimme der Natur, die in wunderbaren Lauten aus Baum, Gebüsch, Blume, Berg und Gewässer von unerforschlichem Geheimnis spricht, die in seiner Brust sich zu frommer Ahnung gestalten; dann kommt, wie der Geist Gottes selbst, die Gabe über ihn, diese Ahnung sichtlich in seine Werke zu übertragen.
Ist dir, Jüngling! denn bei dem Beschauen der Landschaften alter Meister nicht ganz wunderbarlich zumute geworden?
Gewiß hast du nicht daran gedacht, daß die Blätter des Lindenbaums, daß die Pinien, die Platanen der Natur getreuer, daß der Hintergrund duftiger, das Wasser klarer sein könnte; aber der Geist, der aus dem Ganzen wehte, hob dich empor in ein höheres Reich, dessen Abglanz du zu schauen wähntest.

"Hieroglyphenschrift" meint: verrätselte Sprache. Hier findet sich ein Geheimnis der Tarkowskischen Weltdeutung, in der alogischen Struktur einer ganz anderen Sprache liegt der Gegenentwurf zum Bestehenden verborgen. Die ganz andere Sprache ist nicht diskursiv, nicht konsensversessen. Diskurs und Konsens sind bekannt als Heilmittel der Moderne; dagegen greift Tarkowski zurück auf vorzivilisatorische Momente. Die "Hexe" Maria (Gúdrun Gísladóttirin "Opfer") entstammt Otto zufolge dem sagenhaften Island. Island: die geografische Abkunft steht für einen mythischen Zeit-und Kulturraum, so wie der persönliche Name Maria die Brücke schlägt zum christlich-abendländischen Kosmos mit dem konkreten Anklang an Leonardo da Vincis "Anbetung". Unter beiderlei Hinsicht rückt Maria ins Zentrum des Geschehens, so, wie Tarkowski es auffasst und künstlerisch organisiert.

In der Figur der Dienstmagd Maria verdichtet Tarkowski ein Ideal und formt eine bewusste Wertsetzung vor dem zweifachen Hintergrund der vom Menschen herbeigeführten Katastrophe und einer ewig gleichen, aber auch gleichgültigen Natur. Nur ist es wiederum auch die Abgeschiedenheit der Schärenlandschaft, die den Protagonisten überhaupt noch mit sich selbst und, im Spiegel naturhafter Phänomene, mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen lässt. Die Natur kündet auch hier den Untergang; im Gesang über den Schären, in dem seltsamen und manchmal furchterregenden sylphenhaften Singen und Tönen, das nicht physisch greifbar wird und nicht eindeutig zu verorten ist, liegt eine besonders feinsinnige Note, mit der Tarkowski den Schauder in "Opfer" vernehmbar werden lässt. Es ist der Schrecken angesichts der total gewordenen geistigen Verödung, angesichts einer unausweichlich todbringenden Zivilisation, in der kein Zuhause mehr denkbar scheint. Gibt es ein Gegengift?

Die Frau als Erlöserin

"Man sagt, es habe nur zwei wichtige Frauen in Tarkowskis Leben gegeben: seine Mutter und seine Heimat", schrieb Semfira Muftafutdinowa in einer Abhandlung trefflich. Hier liegt auch der Erklärungsgrund für ein Spezifikum in Tarkowskis Zukunftsentwurf. Es besteht in der Möglichkeit der Katharsis durch die Frau, oder, um hier eine Bemerkung Rudolf Borchardts über die amerikanische Lyrikerin Edna Millay (1892-1950) zu gebrauchen: durch eine "gottgezeichnete Frauenseele".

Gegen den männlich korrumpierten Größenwahn, gegen Gewalt und Übernutzung der Natur, gegen eine "Zivilisation, die auf Stärke beruht, und auf Macht" (Alexander, Gespräch mit Jungchen) richtet sich der Durchhaltewille des Individuums, das in derWeltmaschine unbarmherzig zermahlen wird. Sünde, so erklärt Alexander seinem kleinen Sohn (im Film liebevoll, aber auch namenlos genannt "Jungchen", gespielt von Tommy Kjellqvist) - Sünde, das ist das Nicht-Notwendige. Hier erscheint die Maßlosigkeit einer vollends technisierten, rationalisierten Welt als Untugend, als schmähliches Laster. "Und was den Lebensstandard betrifft, so hat ein kluger Mensch gesagt, Sünde sei das, was nicht notwendig ist" (O-Ton Alexander).

Durchaus dissoziierte Propagandisten dieser Welt sind der Psychologe Kris Kelvin in Solaris (gespielt von Donatas Banionis) oder der Doktor namens Viktor in Opfer (gespielt von Sven Wollter). Beide stellen sie typische Vertreter einer Wissenschaft dar, die die absolute Oberhoheit beansprucht, denen aber im Verlauf des Geschehens die Dinge aus den Händen gleiten. Viktorsieht das Heil in der Auswanderung, zieht das Angebot einer Klinik aus Australien in Betracht und setzt sich damit prompt der Kritik seiner Familie aus. Aber: Entkommt er in Australien der Welt, der er eigentlich den Rücken kehren will? Als die Katastrophe hereinbricht - die Nachricht vom bevorstehenden bzw. schon begonnenen Atomkrieg -, offenbart sich die ganze Hilflosigkeit der wissenschaftlichen Denkweise: Der Arzt versucht, das Problem mit einer Beruhigungsspritze zu lösen.

Solaris

Akademischer wird die Problematik in Solaris thematisiert. Kelvin, mit dem Satz konfrontiert "Ich finde, Erkenntnis ist nur dann wahrhaftig, wenn sie sich stützen kann auch auf Sittlichkeit", erwidert nüchtern: "Ob sittlich oder unsittlich, die Wissenschaft macht der Mensch. Denken Sie an Hiroshima." Sein Widerpart Berton verzweifelt: "Er (Kelvin) ist ein Buchhalter und kein Wissenschaftler!" Einwände gegen die herrschende Wissenschaft kanzelt Kelvin kurz und knapp als "seelische Anwandlungen"ab.

Gibt es überhaupt "die Zeit", oder ist sie ein Phantasma?"Zeit ist sonach ein Phantasma der Bewegung", sagt Thomas Hobbes in seinen Grundzügen der Philosophie (Lehre vom Körper) und fügt präzisierend hinzu: "Die vollständige Definition der Zeit muss [...] folgendermaßen lauten: Zeit ist das Phantasma des Früher und Später in der Bewegung." Bezeichnenderweise ist es gerade Kelvin, dessen Hybris durch eigene Erfahrung ad absurdum geführt wird. Er trifft an Bord der Raumstation über dem mysteriösen Ozean von Solaris auf das Unmögliche: auf die Verlebendigung seiner toten Frau Hari (bei Tarkowski verkörpert von Natalia Bondartschuk). Diese Erfahrung stellt auch seine Vorstellung von der Zeit auf den Kopf; ihm widerfährt nichts Geringeres als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Solaris

Die magische Potenz der Frau erweist sich gerade in der Aufhebung der Zeit, so wiederum auch in "Opfer", dort in der Schlüsselszene der Vereinigung der "Hexe" Maria mit Alexander. Zwar bleibt es im Film letztlich offen, ob Alexander hier nur geträumt hat; aber dem Traum selbst kommt ja eine (höhere) Wirklichkeit zu. So geschieht es, dass die uneigennützige Liebe das männliche Prinzip der Stärke durchbricht und - in der Aufhebung der Zeit - die Gewalt neutralisiert. Im Gesang über den Schären offenbart sich ihr Wesen, ja, diese Art magischer Präsenz und Potenz wird im Verlauf des Geschehens hörbar dringlich und dringlicher. "Liebe und Ergebenheit", das sind die letzten Wunder in einer zerschundenen und hoffnungslosen Welt. Die Frau erscheint als Sinnbild und Hüterin einer Gegenkultur, einer anderen Lebensform, in welcher "Weiblichkeit" als künftige "Wertinstanz" vorgestellt ist10.

Solaris

"Nicht ohne Grauen folgt man diesen Zeichenspuren in der Bilderwelt Tarkowskijs", meint Hartmut Böhme, der dessen Welt in ihrer Abgründigkeit auch als "Schädelstätte der Posthistoire" identifiziert.

Beängstigend, eigentümlich, merkwürdig, das ist Tarkowskis Welt ohnehin schon; manifestieren sich Ereignisse und Träume jedoch in den bildlichen und figürlichen Zitaten abendländischer Kultur, so ist es die Religion, die hier eine beherrschende Stellung einnimmt. Beherrschend inwiefern? Dominant in der visuellen Vergegenwärtigung, despotisch in den geistig-seelischen Vollzügen, in Erinnerung und im Hoffen und Bangen angesichts derexistentiellen Bedrohung. Gerade im Bild des abgestorbenen Baums ist die Religion als ausgeleerte Sinnprovinz versinnbildlicht. Europa, das ist im Gedankenkosmos Tarkowskis nur ein anderer Name für die längst gottverlassene europäische Zivilisation. Auch hier sein Fazit: Der Mensch hat sich die Jahrhunderte über in destruktiven Praktiken, in Methoden barbarischer Intervention verfangen.

Telegrafenmasten, Schienen, Gebäuderuinen, Panzer, auch das noch funktionierende Telefon sind Spuren dieser Intervention, in deren Verlauf der Mensch offenbar den kürzeren gezogen hat [...] Das zivilisatorische Material, das er zurückließ, wird wieder von der Natur verschlungen - "hardware" wie Beton, Eisenplatten, Stahlträger, Waffen aller Art ...

Klaus Kreimeier

"Idiotisten"

Nicht die Überwindung der Entfremdung (im Sinne der Hoffnung Blochs) ist das Haus des Menschen, sondern Eiszeit, Starre, tiefster Winter. Die frostklirrende Landschaft Pieter Bruegels, auch als Seelen- oder Bewusstseinsbezirke aufgefasst, ist die wahre Heimstatt des Menschen in der Sprache der Eschatologie. In Stalker, Tarkowskis fünftem Film, wird die Reise der Protagonisten zuletzt "zur Fahrt ins Totenreich" (H. Böhme). Sie begegnen Anubis, dem Totenhund, der in der Sageam Fluss des Vergessens wartet und der hier aus dem Nichts auftaucht und den Schauder der endzeitlichen Kulisse nur noch intensiviert.

Stalker

"Idiotisten", das sind die Absender auf dem Geburtstagstelegramm zu Alexanders Fünfzigstem, das ihm von Otto überreicht wird. "Idiotisten", das sind möglicherweise wir, die endzeitlichen Europäer. Im krisengeschüttelten Euro-Europa, in der Öde der Konsumsklaverei und mit dem Wissen um Tschernobyl und Fukushima ist es uns vergönnt, einen Blick in den Abgrund der Zukunft zu werfen. Der Filmpoet Andrej Tarkowski liefert dazu glänzendes Bild- und Denkmaterial, bietet Anschauungsunterricht der anderen Art. Märtyrer und Heilige sind versteinert, verflucht sind die Überbleibsel einer ruinösen Zivilisation, Narren und Weise (und in deren Schatten wir selbst) starren auf die Vexierbilder der Auflösung.

Ruinenlandschaft. Stalker liegt rücklings auf einem flach aus dem Wasser ragenden Stein. Sehr langsame Kamerafahrt: ein Kachelboden wird sacht von Wasser überströmt. Im Wasser tauchen undeutlich von "Verwesung" überzogene Dinge auf: eine medizinische Spritze, technisches Gerät, aufgelöstes Papier, Bleche, eine Christus-Ikone, eine pistolenartige Waffe, langsam strömende, mullartig aufgequollene Materiereste, Stahlfedern. Im Off eine weibliche Stimme, die aus der Apokalypse des Johannes rezitiert. Nach dem Schlusswort "und wer kann bestehen? lacht sie auf.

Nur am Meer ist noch Selbstbegegnung möglich, nur in der Abgeschiedenheit der Insel liegt noch Gewissheit. Im Gesang über den Schären widerhallt der Abgesang auf Europa. Das ist vielleicht Tarkowskis wichtigstes Vermächtnis an uns krisengeschüttelte Europäer 2011.

Am Schluss von "Opfer", als das Haus lichterloh in Flammen steht und alle Protagonisten samt Dienstmädchen verloren durch den aufgeweichten Inselboden stolpern, kommt ein vorsintflutlicher Krankenwagen mit zwei Klappen am Heck, um Alexander einzubuchten. Das ist eiserne Konsequenz. Und das ist nicht allein der russische Weg aus der Katastrophe - wo ja nun mal der Staat für die Realität zuständig ist und nur der Staat über die autorisierte Sicht der Dinge verfügt -, es ist auch die einzige Antwort, die Europa selbst bis heute auf die Wahrheit parat hat und auf den, der sie ernst nimmt und sie ausspricht so wie Tarkowski in seiner poetischen Ursprache: Ganz zum Schluss, wenn alle wohlfeilen Fortschrittsmythen durchdekliniert und aufgebraucht sind, kommt die Ambulanz.

Tarkowski - Filmografie und Literatur

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