Europas Nachtgesang

Seite 2: Am Grat der Zeit

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Ungeduldig soll der Meister gewesen sein, sogar seine Lieblingsschauspieler (wie Anatoli Solonizyn) bekamen das zu spüren. Und diese Ungeduld ging mitunter sehr weit, so im Falle von "Stalker": "Unzufrieden mit seiner ersten Fassung, ließ Tarkowski den kompletten Film vernichten und drehte alles noch einmal - eine Radikalität, die sich auch in der Sowjetunion nur wenige Filmschaffende leisten konnten." Die Strenge der künstlerischen Konstellation gehört zu einer Poetologie, die angetreten ist, allen Fortschritts-und Wahrheitsmythen die Stirn zu bieten.

Das ergibt kein sozialistisches Pomp-Kino. Langsame, bedächtige Einstellungen, die den Kehrseiten der verordneten Sicht geschuldet sind. Die auch den Zivilisationsmüll auflisten, ihn optisch aufsaugen: Erfassung und Konstatierung des Niedergangs. Die Geschichte, ein Trümmerfeld. In der Verlangsamung erfährt der Zuschauer die Zeit - ja, als was? Zeit zu gestalten "in Form eines Faktums", das nennt Tarkowski rückblickend die Aufgabe des Künstlers2.

Diese Form der Bildsprache passt nun auch mit dem amerikanischen Kino der schnellen Schnitte keinesfalls zusammen. Tarkowskis visuelle Arrangements geraten in Ost und West in Opposition zum Mainstream, der gewöhnlich unsere Seh- und Denkgewohnheiten definiert. Hartnäckig setzt Tarkowski sein Ideal auch gegenüber der russischen Kulturbürokratie durch; seinen "Andrej Rubljow" kürzte er aus formalen Gründen zweimal (von ursprünglich 220 auf letztendlich 185 Minuten), aber inhaltlich bleibt der Meister kompromisslos. Neun Jahre nach Beginn der Dreharbeiten wird der Film 1973 für den Export freigegeben.

Andrej Rubljow

Das, was Tarkowski "Die Sehnsucht nach dem Idealen" nennt, kommt an Schlüsselstellen seines Werks in Gedichten seines Vaters Arsenij zum Ausdruck. Der Stalker, im Film dargestellt von A. Kajdanowski, rezitiert eines davon und thematisiert so das Ungenügen des Individuums angesichts einer deformierten Welt3:

Der Sommer ist vorbei, / es ist nichts übriggeblieben, /
Es ist schön an der Sonne, / Doch das genügt nicht. /
Alles, was es geben kann, / Wie ein Blatt mit fünf Zacken, /
Hat es sich auf meine Hand gelegt, / Doch das genügt nicht, /
Weder das Gute noch das Böse / Sind umsonst geschehen. /
Alles war hell und strahlend, / Doch das genügt nicht, /
Das Leben nahm mich unter seine Fittiche /
Ich schützte mich -rettete mich, / Ich hatte wirklich Glück, /
Doch das genügt nicht
Die Blätter sind nicht verbrannt, / Die Äste nicht zerbrochen, /
Der Tag ist klar wie Kristall, / Doch das genügt nicht.
4

Narren und Weise

Der "Stalker" ist nicht nur unter dieser Hinsicht eine radikale Absage an das kommerzielle Kino und seine vorgetäuschte Normalität. Gern nimmt Tarkowski die kulturelle Identität des Abendlands in Anspruch. Eine Begegnung mit Leonardo da Vinci beispielsweise gibt es mehrfach in dieser Filmwelt, so auch in dem autobiographisch geprägten Streifen "Der Spiegel", und zwar in einer bedächtigen Szene bei der Begutachtung eines alten Kunstbuches. Eindeutiger thematisiert wird der Fall da Vinci jedoch in Opfer.

Der Spiegel

Während Julia Hamari im Vorspann von "Opfer" emphatisch das "Erbarme Dich" aus Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion singt, geht die Szene über in den Schrei der Möwen und das Spülen des Meeres, gleitet die Kamera tastend über da Vincis "Anbetung". Im Film bietet der ehemalige Schauspieler und Intellektuelle Alexander sich Gott als Opfer an, um den atomaren Holocaust abzuwenden. Die Uraufführung lief in Cannes am 9. Mai 1986, knapp zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und kaum acht Monate vor dem Tod des Regisseurs.

Vorspann "Das Opfer"

"Ich hatte schon immer sehr große Angst vor Leonardo", sagt Otto, der Briefträger (das Pendant zu Alexander) beim Anblick der "Anbetung". Otto (gespielt von Allan Edwall) erscheint als das alter Ego des Protagonisten; eine kuriose, seltene Figur mit einem Hang zum Übersinnlichen. Nicht unähnlich den Narren und Weisen des Alten Russland, die in Tarkowskis Filmen, stets unter anderer Gestalt, eine tragende Rolle spielen.

Als Otto während einer Unterhaltung über metaphysische Gegenstände und Vorkommnisse mitten im Zimmer jäh hinschlägt und einige Momente wie betäubt da liegt, sind alle zuerst bestürzt; schließlich, nach seinem Befinden gefragt, gibt er lakonisch an, von einem bösen Engel berührt worden zu sein. Das "Phantom unseres eigenen Ichs" folgt uns Schritt und Tritt auf dem Fuße, so zeigt es der deutsche Romantiker Hoffmann in seinen "Nachtstücken"; wie noch auszuführen sein wird, ist der originelle Phantast für Tarkowski kein Unbekannter.

Ottos Angst vor Leonardo da Vinci (1452-1519) - dessen Adoration of the Magi als Kopie den Wohnsitz Alexanders schmückt - liegt in den Wurzeln einer Kultur begründet, die da Vinci als Urheber und Protektor der Moderne feiert, als genialen Schöpfer und Konstrukteur am Beginn der Neuzeit. Jedoch, schon hier beginnt der Zerfall. Das Wissen darum gehört nur Wenigen. Meist sind es Leute wie Otto; Einzelgänger, die dem Normalbürger verrückt vorkommen, die auf ihre eigene Art dem Glück und den Idealen der Menge entsagen.

Opfer

Der Mensch ist nicht für das Glück geschaffen, es gibt wichtigere Dinge als das Glück. Die Suche nach der Wahrheit ist ein qualvoller Weg.

A. Tarkowski

Otto verkörpert jemanden, der diese Qualen auf sich nimmt. Schon in den ersten neun Minuten des Films (kein einziger Schnitt!), die - wie alle Außenaufnahmen von Opfer - 1985 auf der Insel Gotland entstanden, lernt man den kauzigen Briefträger als einen kennen, der alle Zeit der Welt auf seiner Seite zu haben scheint. Jan Brachmann schrieb über die Eröffnungssequenz: "Hier wird einlässliches Sehen verlangt, Sammlung, das Gegenteil von Eile, Geschäftigkeit, Ereignishunger. Der Regisseur nannte dies: 'Rückkehr zu einem normalen, geisterfüllten Leben'." - "Einfachsein in aller Demut" nennt das der Grieche Theophanes im Zwiegespräch mit dem Wandermönch Andrej Rubljow. Es geht um das Wesen der schöpferischen Arbeit und den Glauben.

Die Natur:"Schauer der Landschaft"

Der Weg ins Verderben spiegelt sich in der Naturerfahrung. Im "Schauer der Landschaft5 macht sich die deutsche Romantik bemerkbar. Schon das Rauschen im Gebüsch kündet den Untergang. Wenn so die Natur tönt, dann ist ihre Botschaft "nicht Vitalität und Autonomie [...], sondern angsterregendes Ausgeliefertsein des unbeschützten Individuums"6. Rieselndes, murmelndes Wasser (Beginn von Solaris), Äste und Wurzelwerk, ein gänzlich stummer Wald (wie in Iwans Kindheit) oder auch nur die Rinde eines einzelnen Baumes bilden die Bausteine einer naturalen Grammatik. Diese gibt "der vom gesellschaftlichen Prozess deformierten Seele" die einzige, die vielleicht letzte Gelegenheit zur Artikulation. In der Landschaft wird sie "ihrer selbst ansichtig"7.

Iwans Kindheit

Solcherlei Bilderrätsel sind in der Kinematographie Tarkowskis zu Standards geworden; sie schaffen Haltepunkte im Fließen der Zeit und betten das individuellen Erleben ein in die Indifferenz weitgespannter Zeiträume. Die historische, zivilisatorische Zeit mit ihren gewaltsamen Brüchen und Verwerfungen hebt sich so ab vom Hintergrund ewiger Naturphänomene; diese bilden eine Art überindividueller Rahmung. Als solche liefern sie einen Maßstab, an welchem sich das persönliche, subjektive Leben in seiner existentiellen Dürftigkeit bemißt. Pferde, Bäume, Wasser, Äpfel (Iwans Kindheit) werden dabei durchweg zu höchst doppeldeutigen Chiffren, die einerseits melancholisch auf das mißlungene Leben verweisen, in denen andererseits das geglückte Leben als ferner Widerhall wie auch als utopischer Entwurf präsent ist. Sie bilden so Mosaiksteine einer Sehnsucht, die von Angst befreit sein möchte.

Nostalghia

Hartmut Böhme formuliert das so:

Bis hin zu "Nostalghia" werden einzelne Sinnprovinzen - wie die Religion, die Wissenschaft, die Kunst, die Heimat und die Fremde, die eigene Lebensgeschichte, die Familie, die Natur- in dem immer depressiveren Bemühen erkundet, der verwüsteten Geschichte die Möglichkeit "geglückten Lebens" abzugewinnen.

So gibt es auch Befreiung letztlich nur noch in der Sprache der Natur. Befreiung als Ideal, und zusammen damit der Wunsch nach Ruhe. Es soll alles wieder so sein wie gestern, ja wie heute morgen: Das ist das flehentliche Gebet Alexanders (wiederum auf Knien) nach dem Einbruch des Schreckens, als klar wird, dass die atomare Katastrophe Realität geworden ist (Opfer).

Opfer

Die Befindlichkeit des Protagonisten ist hier wie auch an andern Stellen im Werk Tarkowskis weniger in Handlungen als vielmehr in Monolog und im poetischen Ausdruck der Bilder zu entziffern. Sehnsucht ist dabei ein beherrschendes Motiv, das Sonderlinge wie den namenlosen Schriftsteller (gespielt von Anatoli Solonizyn) und den Wissenschaftler (Nikolai Grinko) veranlasst, unter Lebensgefahr Zugang zu Stalkers Zone zu suchen.

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