Faktencheck Gaza: Die Wahrheit hinter den Todeszahlen

Palästinenser inspizieren ihr Haus, das am 6. November 2024 in Khan Yunis im südlichen Gazastreifen von israelischen Kampfflugzeugen bombardiert wurde

Bild: Anas-Mohammed / Shutterstock.com

Die Zahlen der Kriegstoten in Gaza sind heftig umstritten. Israel und Hamas werfen einander Manipulation vor. Doch wer sagt die Wahrheit? (Teil 2)

Im ersten Teil dieser Serie haben wir die Debatte um einen Bericht von Andrew Fox von der Londoner Henry Jackson Society dargestellt. Fox stellt die hohe Opferzahlen, wie sie das Gesundheitsministerium in Gase angebt, infrage. Vor allem zwei Forscher widersprechen dieser Kritik. Lesen Sie hier weiter, warum.


Die Forscher Gabriel Epstein und Michael Spagat gelangen nach ihrer Analyse des Berichtes von Fox zu der Auffassung, dass dessen vorrangige Aufgabe darin besteht, die Angaben der israelischen Armee über getötete palästinensische Kämpfer in die zivilen Todeszahlen des Gesundheitsministeriums zu integrieren.

So sollte die Argumentation unterstützt werden, dass ein großer Teil der Todeszahlen nicht von zivilen Opfern stammt, sondern dass es sich bei den Getöteten um Kämpfer der Hamas handele.

Sie stellen jedoch fest, dass es nicht genügend männliche Tote im kampffähigen Alter – wie immer das angesetzt würde – in den Listen gibt, um den Zahlen der israelischen Armee zu entsprechen. Das Problem liege daher in der Anzahl von toten Kämpfern und Zivilisten, die über keine der beiden Erhebungsmethoden des Gesundheitsministeriums erfasst werden und auch nicht erfasst werden können.

Zu viele nicht erfassbare Tote liegen nämlich unter den Trümmern der zerbombten Gebäude aller Art. Andere wurden von israelischen Soldaten mit Bulldozern unter Trümmern verscharrt oder auf den zerstörten Straßen liegen gelassen, wo die Körper verwesen oder von streunenden Hunden gefressen werden.

Die zweite kritische Bewertung des Berichtes von Fox, die mir vorliegt, stammt von Lee Mordechai, einem Kollegen für spätantike Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem.

Welche Intention hatte der Fox-Bericht?

Er sieht in dem Bericht von Fox zwei hauptsächliche Anklagen: zum einen, dass die Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums von Gaza unzuverlässig seien, und zum anderen, dass die internationalen Medien diese Angaben statt jener der israelischen Armee benutzten.

Mordechai unterstreicht zunächst, dass es sich bei den Angaben des Gesundheitsministeriums um Schätzungen handelt und dass diese international als verlässlich angesehen werden, da sie von Merkmalen zur Identifikation der Toten begleitet werden, die leicht überprüft werden können: Name, ID-Nummer, Geschlecht, Alter. Er verweist dazu als Beleg auf einen Bericht in Le Monde.

Was ist falsch, was korrekt?

Mordechai betont wie Epstein und Spagat die Leichtigkeit des Nachweises von tatsächlich substanziell fehlerhaften Angaben durch das Gesundheitsministerium, durch die israelische Armee und andere Regierungsbehörden. Im Oktober 2023 hat der Sprecher der israelischen Armee eingeräumt, dass wenigstens 83 Prozent der Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza korrekt sind.

In späteren Fragestunden hat er es konsequent abgelehnt, Fragen danach zu beantworten. Allerdings hat der Informationsbeauftragte des Gesundheitsministeriums den interessierten internationalen Medien detaillierte Erläuterungen zu den verwendeten Methoden der Datenerhebung und der Auswertung der gesammelten Daten zur Verfügung gestellt.

Weder dieser Umstand als solcher noch die Methoden der Datenerzeugung sind meines Wissens nach in deutschen Medien mitgeteilt worden.

Mordechai erklärt, wieso Fehler in den veröffentlichten Daten zustande gekommen sind und dass die Bedingungen, unter denen die erheblichen Anstrengungen zur Datenerhebung gemacht wurden, jegliches Trivialisieren als intentionale Fehldarstellungen für unangemessen erklären: durch die ständigen Angriffe der Luftwaffe brach das Datenmanagementsystem zusammen, und die Mitarbeiter mussten die Toten manuell dokumentieren.

Das Ministerium wurde mehrfach geräumt, und seine Angestellten mussten (in hektischer Weise) wiederholt umziehen; die Krankenhäuser brachen unter den ständigen Zerstörungen durch die israelische Armee und die rapide steigenden Fälle von Verwundeten und Menschen, die Zuflucht suchten, zusammen und delegierten die Registrierung der Sterbefälle an dafür nicht ausreichend qualifizierte Beamte.

Dennoch bemühten sich die Mitarbeiter des Ministeriums hartnäckig um Genauigkeit und die Verbesserung ihrer Methoden. Mordechai spricht von Qualitätsmängeln in den ersten Monaten des letzten Jahres, betont aber, dass seit dem Sommer desselben eine spürbare Verbesserung zu erkennen ist.

So waren in den Listen bis Ende August 2024 beispielsweise nur 87 Prozent der Toten namentlich identifiziert, was bereits eine Verbesserung gegenüber Oktober 2023 mit 83 Prozent darstellte, während in der Liste vom 23. Oktober vergangenen Jahres 97 Prozent der registrierten Toten namentlich identifiziert sind.

Fox jedoch, so Mordechai, ist wenig daran interessiert, die Kontexte der Datenbeschaffung und ihrer Auswertung zu beleuchten. Es geht ihm primär um den Nachweis von Fehlern.

Wie die Organisation AOAV (siehe Teil 1) verweist Mordechai auf die geringe Anzahl fehlerhafter Angaben im Gesamtdatenbestand, die Fox, Epstein, Spagat und er entdeckt haben. Bemerkenswerterweise hat Fox dabei eine kleinere Anzahl von Fehlern im Gesamtdatenbestand entdeckt, als seine Kritiker in einem erheblich kleineren Sample (20.000 Personen statt mehr als 40.000) gefunden haben.

Doch auch deren Ermittlungen ergeben eine Fehlerquote von unter einem Prozent. Das bedeutet, dass selbst bei der Identifikation der dem Gesundheitsministerium angekreideten Unzuverlässigkeiten, die dann als gezielte Fälschungen bewertet werden, Fox selbst deutlich unzuverlässig gearbeitet hat.

Auch die Forderung von Fox, die von Raketen der Hamas und ihren Verbündeten getöteten Palästinenser müssten von den Zahlen des Gesundheitsministeriums abgezogen werden, damit die wirklichen Zahlen der von Israel ausgelöschten Menschenleben ermittelt werden, hält Mordechai für ein untaugliches Argument, um die angeblichen Manipulationsabsichten des palästinensischen Gesundheitsministeriums nachzuweisen.

In dem letzten Krieg Israels gegen Gaza aus dem Jahr 2021 hat die Hamas 4.340 Raketen auf Israel abgefeuert, wovon etwa 680 in Gaza einschlugen. Das israelische Begin-Sadat Institut für Strategische Studien an der Bar Ilan Universität in Israel schätzte, dass dabei 91 Palästinenser und Palästinenserinnen getötet worden sind.

Das bedeutet eine Größenordnung, die im jetzigen Krieg klar vernachlässigbar ist. Dafür sprechen auch die Zahlen, die Mordechai aus israelischen Quellen liefert: 9.000 von Gaza nach Israel abgeschossene Raketen, wovon etwa bis zu 1.750 Raketen in Gaza explodierten.

Die Zahlen von 2021 extrapolierend, schätzt Mordechai die palästinensischen Todesopfer dieser Raketen auf etwa 200. Damit wird die Zahl der registrierten Todesopfer von 45.000 im Dezember 2024 nicht signifikant verändert.

Wie bei der Frage, warum Fox den Bericht vom 23. 10. 2024 nicht benutzt hat, stellt sich auch hier die Frage nach der Professionalität des Verfassers der These, dass das Gesundheitsministerium von Gaza seine Zahlen manipuliert, oder nach seiner beruflichen Ethik.

Bezüglich des Vorwurfes an die internationale Presse, nicht die Zahlen der israelischen Stellen zu benutzen, hebt Mordechai hervor, dass diese Zahlen veraltet und widersprüchlich sind.

Die einzigen Belege für ihre Gültigkeit sind die Äußerungen des Armeesprechers Daniel Hagari und die gelegentlichen Äußerungen von Benjamin Netanjahu. Er sieht das mangelnde Interesse der israelischen Regierung und der Sicherheitsinstitutionen durch die Tatsache belegt, dass sich die israelische Behauptung, etwa 17.000 Kämpfer getötet zu haben, bis heute in offiziellen Verlautbarungen nicht geändert hat, obwohl laut palästinensischem Gesundheitsministerium in diesem Zeitraum weitere 5.000 Männer, Frauen und Kinder in Gaza durch Aktionen der israelischen Armee umgekommen sind.1

Inzwischen ist auch ein interner Bericht der israelischen Armee zirkuliert worden, nachdem die Armeeführung jetzt glaubt, mehr als 20.000 palästinensische Kämpfer getötet zu haben. Warum diese neue Zahl verschwiegen wird, wird nicht mitgeteilt. Das muss die Skepsis gegenüber den offiziellen Generalstabsverlautbarungen bestärken.

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Ein zweites Argument gegen die Benutzbarkeit der israelischen Daten ist laut Mordechai ihre Ungenauigkeit und ihr vager Charakter. Dieses Merkmal wurde unabhängig von dem gegenteiligen Vorwurf von Fox an das Gesundheitsministerium in Gaza und der hier vorgestellten Kritik daran selbst von der Jerusalem Post deutlich benannt. In dem Bericht vom 30. Dezember 2024, in dem der Verfasser die israelische Armee gegen Vorwürfe disproportionalen Tötens von Zivilisten verteidigt, zählt er sie dennoch dafür an, dass …

… die IDF bis jetzt keine der Zahlen (von Airwars, eine in London ansässige Kontrollstelle von Konflikten, über Ereignisse, die im Oktober 2023 geschehen sind), öffentlich angesprochen hat, um ihrer Darstellung eine gewisse Spezifik zu verleihen, von generischen Deklarationen abgesehen.

Die Times of Israel drückt in Überschriften, Zitaten von der Armee und eigenen Kommentaren diese Unzuverlässigkeit und ihre Skepsis dagegen aus.

So schreibt sie etwa: Laut IDF entdeckten und töteten die Truppen "viele Dutzend Terroristen" in Jabalia "mit Maschinengewehrfeuer und Panzerbeschuss". Nach der Beschreibung des Sturms des Kamal Adwan Krankenhauses in demselben Artikel fügt der Journalist hinzu: "Es gibt keinen Weg, die Angaben des Militärs zu verifizieren."

Wieso Fox dann glaubt, israelische und internationale Medien sollten mit den Zahlen der israelischen Armee statt mit denen des Gesundheitsministeriums von Gaza operieren, erschließt sich nur, wenn man annimmt, dass er als ehemaliger britischer Soldat keine ausreichende akademische Ausbildung erhalten hat, die ihn zu kritischer Analyse zum einen von Datensätzen und zum anderen von Verlautbarungen einer Kriegspartei befähigt.