Feindbilder: Wer nicht für Aufrüstung ist, ist für Putin?
Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine kam hier die Stunde der Bellizisten, die bei Kritik an der Nato sofort Verbrüderung mit dem russischen Staatschef wittern
Zigtausende Menschen, nach unterschiedlichen Angaben 100.000 bis zu 500.000, demonstrierten am Sonntag im Regierungsviertel gegen den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Polizei war kaum zu sehen, fast zeitgleich wurde im deutschen Bundestag ein gigantisches Aufrüstungsprogramm, das schon lange in den Schubladen lag, von einer ganz großen Koalition aus SPD, Grünen, FDP und Union beschlossen.
Der langjährige Friedensaktivist Willi van Ooyen hat den Charakter der Rüstungsmaßnahmen treffend so beschrieben.
Mit der Schaffung eines mit 100 Milliarden Euro ausgestatteten und grundgesetzlich verankerten Sonderfonds für die Bundeswehr, die Anpassung an das Zwei-Prozent-Ziel der NATO und der Lieferung von Waffen an die Ukraine wird jetzt der endgültige und vollständige Bruch mit der bisherigen außenpolitischen Linie Nachkriegsdeutschlands vollzogen, um mit dieser Militarisierung wieder klassische Großmachtpolitik zu betreiben.
Willi van Ooyen
Was ist von Demonstrationen zu halten, auf denen zwar völlig zu Recht der russische Einmarsch in der Ukraine verurteilt wird, aber die Militarisierungsbeschlüsse, die wenige hundert Meter entfernt im Deutschen Bundestag gefallen sind, kaum kritisiert werden? Im Gegenteil wurde von vielen Demonstranten sogar gefordert, dass Nato und Bundeswehr eingreifen.
Der Lackmustest für Kriegsgegner
Bei jeden Konflikt zwischen kapitalistischen Machtblöcken gibt es an der jeweiligen "Heimatfront" Scharfmacher, Politiker, Militärs und Presseleute, die die Eskalation vorantreiben und besonders harte Maßnahmen gegen den als feindlich markierten Block einfordern.
Und es gibt Profiteure der Eskalation, ganz konkret die Rüstungsindustrie, die aktuell zwar keineswegs den russischen Präsidenten verteidigt, aber angesichts der Aktienkurse wohl auch nicht ganz unglücklich über dessen Politik ist. Genauso wenig wie über die Reaktion der Bundesregierung.
An diesen Mustern hat sich seit dem Ersten Weltkrieg nichts geändert. Daher galt in der Bewegung gegen Militarismus und Krieg vor mehr als 100 Jahren der Grundsatz: "Der Hauptfeind steht im eigenen Land".
Es ist besonders absurd, dass jetzt selbst in linksliberalen Medien wie der taz Politiker und Aktivisten, die noch ein kritisches Wort zu der deutschen Aufrüstungspolitik erheben, fast schon als Putin-Freunde dargestellt werden. Dabei lehnt natürlich eine Friedensbewegung, die es ernst meint, jede Militarisierungspolitik ab. Das bedeutet ebenso die Verurteilung des russischen Militarismus wie jedes anderen. Aber der Lackmustest ist dabei die Ablehnung des Militarismus im eigenen Land.
Eine Bewegung, die diese ausspart oder sogar mehr militärisches Engagement fordert, sollte man nicht Friedensbewegung nennen. Wie schnell mancher sich an die deutsche Staatsraison anpasst, kann man am ehemaligen Sprecher der Grünen Jugend, Max Lucks, der aktuell Bundestagsabgeordneter der Grünen ist, sehen. Heute unterstützt er das Aufrüstungsprogramm der ganz großen Koalition und will im Deutschlandfunk-Interview nicht mehr die Frage beantworten, ob für ihn noch der längst aufgeweichte Grundsatz gilt, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern.
Lucks hat in seiner kurzen Zeit als Bundestagsabgeordneter gelernt, dass man zur Durchsetzung der Menschenrechte auch Waffen braucht.
"Es begann mit einer Lüge" – nicht nur bei Putin
Das Desaster der vielen Kriege, die in den letzten Jahrzehnten schon mit Menschenrechtsargumenten geführt wurden, wird schlicht ausgeblendet. Wenn Putin seinen Angriff auf die Ukraine mit angeblichen Menschenrechtsverletzungen an russischen Bürgern begründet, unterscheidet sich die das nicht grundsätzlich von den Argumenten, mit denen der Angriff auf Jugoslawien 1999 von der damaligen "rot-grünen" Bundesregierung in Deutschland begründet wurde.
Damals ging es angeblich darum, einen jugoslawischen "Hufeisenplan" zur systematischen Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung zu stoppen.
"Es begann mit einer Lüge", heißt eine immer noch sehenswerte WDR-Dokumentation über die Fake-News, mit denen deutsche Politiker und Medien die Stimmung für den Angriffskrieg auf Jugoslawien in der deutschen Bevölkerung beeinflussten.
Wer diesen Film gesehen hat, wird zu der Erkenntnis kommen, dass Kriege von allen Seiten immer wieder mit Lügen, Halbwahrheiten und Manipulationen begründet werden. Schließlich bekommt man wenig Unterstützung, wenn man geopolitische oder wirtschaftliche Interessen als Grund anführt. Ist auch schon vergessen, wie in Kooperation zwischen dem Bundesnachrichtendienst und der CIA die Fake-News von den Massenvernichtungswaffen im Irak fabriziert wurden – und mit welchen mörderischen Konsequenzen?
Es ist erstaunlich, dass sich in diesen Tagen auch in linken und linksliberalen Zeitungen kaum jemand mehr daran erinnern will. Dieser Eindruck wird zumindest erweckt, wenn Putin als der Einzige dargestellt wird, der in den letzten Jahrzehnten einen Krieg mit Lügen und Fake-News vorbereitet hat.
Und wer aus welchen Gründen auch immer – Politiker der Linken und Aktivisten der Friedensbewegung – die Einschätzung geäußert hat, dass Putin nicht in die Ukraine eingreifen wird, erntet nun einen Shitstorm, wenn er oder sie sich weiter gegen die Aufrüstung der Nato äußert.
So schreibt Ambros Waibel in der taz:
Wer einer Partei angehört, die die allgemein-unverbindliche Litanei des Friedens geschmettert hat, ohne den konkreten Kriegstreiber zu brandmarken, dessen Appelle werden ungehört verhallen; nicht, weil sie grundsätzlich falsch wären, sondern weil, wer total falsch lag, nicht in der Position ist, andere Menschen mit Appellen zu behelligen.
Ambros Waibel, taz
Revanche für Stalingrad
Damit meint er aber nicht die Sozialdemokraten und Grünen, die den Jugoslawien-Krieg, der mit einer Lüge begann, bis heute rechtfertigen. Auch die Politiker und Medien in aller Welt, die die Fake-News vom Giftgas im Irak verbreiteten, mussten sich nicht lange rechtfertigen.
Doch wenn jemand Putin, der schon seit Jahrzehnten in der Liga der kapitalistischen Player mitspielt, die Friedensbereitschaft, die eine Lüge war, geglaubt hat, dann ist das für bestimmte Kreise unverzeihlich.
Dieser doppelte Standard ist kein Zufall. Auch nach knapp 80 Jahren haben manche in Deutschland den Russen Stalingrad nicht verziehen. Das merkt man schon daran, dass bewusst nicht zur Kenntnis genommen wird, dass Putin als russischer Nationalist die Oktoberrevolution und die Sowjetunion verurteilt und als Grund für die angebliche nationale Schwäche Russlands benennt – stattdessen wird ihm vorgeworfen, er wolle die Sowjetunion neu zum Leben erwecken.
Wenn nun in Deutschland mit Putin ständig auf die Sowjetunion heraufbeschworen wird, dann drängt sich mit etwas Geschichtsbewusstsein der Eindruck auf, dass es keineswegs nur um Putins aktuelle Kriegspolitik geht, sondern auch um Revanche dafür, dass vor fast 80 Jahren deutsche Großmachtträume in Stalingrad zerschellten.
Es ist bemerkenswert, dass in den letzten Tagen die letzten Überlebenden der Kriegsgeneration berichteten, wie sehr sie nach 1945 unter "den Russen" gelitten haben. Die Gründe, warum die Rote Armee damals bis nach Berlin kam, erspart man sich.
Und so hat man den Eindruck, dass manche jetzt doch den Weltkrieg für Deutschland gewinnen können, denn dieses Mal haben sie ja den Westen auf ihrer Seite. Wie manisch diese Beschäftigung mit der Vergangenheit ist, zeigt ein Essay der Schriftstellerin Tania Kibermanis in der taz, in dem sie der Sowjetunion vorwirft, dass sie in den 1950er-Jahren auf Rückführung der von den Nazis verschleppten Sowjetbürger drängte. Hierbei zieht sie eine Parallele zu Putins Politik heute.
Seltsam nur, dass auch bei ihr der deutsche Vernichtungskrieg in der Sowjetunion, zu dessen vielen Verbrechen auch die Verschleppungen nach Deutschland gehörten, die viele nicht überlebten, nicht einmal mehr erwähnt wird. So dient Putins aggressive Ukraine-Politik als Folie für eine besondere Geschichtsverdrängung in Deutschland.
Neuer Streit in der Partei Die Linke
In einer Situation, in der alle, die es noch wagen, die Aufrüstung in Deutschland und anderen Nato-Ländern zu kritisieren, unter Rechtfertigungsdruck stehen, leistet sich Die Linke einen neuen parteiinternen Streit. Der entzündete sich daran, dass Sahra Wagenknecht, Sevim Dagdelen und fünf weitere Mitglieder der Bundestagsfraktion in einer Erklärung nicht nur den russischen Angriff auf die Ukraine, sondern auch den Antrag der Bundesregierung zur Aufrüstung und die Nato-Politik scharf verurteilten.
Diese Erklärung missfiel dem außenpolitischen Sprecher der Linken, Gregor Gysi. Er sah dadurch eine Erklärung der Fraktion desavouiert, in der die Nato nicht einmal mehr erwähnt und das Aufrüstungspaket nur moderat kritisiert wurde. Die Auseinandersetzung wurde im Fachblatt für Nato-Treue – Die Welt – geführt. Noch vor einer Woche hatte Gysi gemeinsam mit Sevim Dagdalen eine Erklärung verfasst, in der beide die Anerkennung der abtrünnigen Provinzen durch Russland ebenso verurteilt hatten, wie "wir auch immer Völkerrechtsverletzungen durch die Nato oder Mitglieder der Nato wie zum Beispiel bei der Abtrennung und Anerkennung des Kosovo verurteilt haben".
Nun wirft Gysi den sieben Abgeordneten eine "völlige Emotionslosigkeit hinsichtlich des Angriffskrieges, der Toten, der Verletzten und dem Leid" in der Ukraine vor. Wagenknecht entgegnete in einer öffentlichen Stellungnahme, sie sei entsetzt über Gysis Brief, in dem er den Eindruck erwecke, sie und andere Fraktionsmitglieder hätten "Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht unmissverständlich verurteilt".
Tatsächlich habe Gysi der Fraktion vorgeschlagen, "den Antrag der Regierungsparteien und der Union, der ein gigantisches Aufrüstungsprogramm und umfangreiche Waffenlieferungen an Ukraine fordert, mitzuzeichnen und ihm zuzustimmen". Dem sei die Fraktion nicht gefolgt, sie habe dies geschlossen abgelehnt. "Gysi selbst hat an der Abstimmung leider nicht teilgenommen, da er zeitgleich in einem Berliner Kino sein neues Buch vorgestellt hat", so Wagenknecht.
Warum nur kann sich die Fraktion nicht darauf einigen, die Fake-News, mit denen Putin den Angriff auf die Ukraine begründet, genau so zu verurteilen sind, wie die Lügen mit denen deutsche Politiker den Angriff auf Jugoslawien begannen und die von Fake-Factory BND mit fabrizierte Falschbehauptung über Massenvernichtungswaffen im Irak?
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.