Flüchtlingslager in Eidomeni: Teufelskreis aus Regen, Seuchenangst und hilfloser Politik

Seite 2: Die Frustrierten reisen zunächst ab

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Einige der Übrigen, eine bislang noch durchaus überschaubare Personengruppe, nehmen das Angebot der Regierung wahr, mit Bussen in einen der nahe gelegenen Hotspots zu fahren. Sie fühlen sich nicht mehr in der Lage, den unwirtlichen Bedingungen im wilden Lager an der Grenze zu trotzen. Andere wiederum hoffen, wie ein Professor aus Aleppo auf die UNO. Der Professor reiste am Sonntag mitsamt Frau, Bruder und drei Kindern auf eigene Faust per Zug nach Athen zurück. Dort meint er, dass ihm die UNO einen Freibrief für jedes Land, in das er möchte, erteilen wird.

Einen wirklichen Überblick über ihre derzeitige Lage haben die Wenigsten. Zu den viel frequentierten Orten im Lager Eidomeni gehört deshalb eine große Karte von Europa. Hier suchen die Menschen nach einer Alternative zur "Balkanroute". Viele fragen die im Lager nach Geschichten und Motiven suchenden Journalisten: "Kennst Du die alternative Route?" Zu den hartnäckigsten Gerüchten im Lager gehört die Geschichte, dass eine Wanderung durch Albanien Erfolg verspricht.

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Die reicheren Flüchtlinge nutzen für ihre Wartezeit die Hotels in den umliegenden Dörfern Evzonoi und Plagia. Einige wenige haben sogar das Glück, dass sie von einer Hilfsorganisation in Hotels in Kilkis untergebracht werden.

Etliche campen auf den Tankstellen der Autobahn, die von Thessaloniki zur Grenze führt. Für die Hoteliers und Tankstellenbetreiber sind sie gern gesehene Gäste, weil wegen der Finanzkrise im Land kaum Griechen unterwegs sind. Die letzte Tankstelle in Fahrtrichtung zur Grenze wandelte sich in dieser Zeit in einen auf Flüchtlinge zugeschnittenen Laden. Im Angebot des Tankstellenshops finden sich festes Schuhwerk, Gummistiefel und Regenkleidung.

Zu einer eher traurigen Berühmtheit brachte es die erste Raststation, welche Einreisende auf der Fahrt von der Grenze nach Thessaloniki finden. Hier wird neben der Tankstelle das Motel "Chara" (Freude) betrieben. Der Besitzer verlangte von den campierenden Flüchtlingen zeitweise 8 Euro für einen Toilettengang und 20 Euro für die Benutzung der Dusche. Der Ruf des Hotels "Chara" hat sich bis zu den Taxifahrern in Piräus herumgesprochen. Sie haben zahlreiche finanziell liquide Flüchtlinge von Piräus aus bis hierhin gebracht.

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Zahlreiche Taxis aus Polykastro stehen derweil in Eidomeni nahe dem Lager. Sie können sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen. So trat vor dem Unwetter am Samstag ein etwa Vierzigjähriger an einen Taxifahrer heran und fragte nach einem Preis für die Fahrt ins 60 km entfernte, westwärts liegende Kleinstädtchen Giannitsa. Der Mann hatte eine auf Griechisch geschriebene Adresse auf einem Papierfetzen in der Hand. Es war offensichtlich, dass dem nur Englisch sprechenden Flüchtling jemand dieses Papier in die Hand gegeben hatte. Ob dort ein Schleuser für die Route über Albanien oder die Herberge eines freiwilligen Helfers auf ihn wartete, wollte der Mann nicht preisgeben.

Andere wiederum kommen mit Anliegen zu den Taxifahrern, die angesichts der Umstände weltfremd erscheinen. So wollte ein junger Mann unbedingt in einen nahe gelegenen Ort mit einem professionellen Frisör gefahren werden. Der um seine Haarpracht besorgte Mann ließ von seinem Vorhaben erst ab, als er erfuhr, dass für die mindestens 19 km lange Fahrt hin und zurück knapp 50 Euro fällig wären.

Die prominenten Aktivisten

In der seltsamen Welt im Lager Eidomeni vermischen sich Eitelkeiten, wie die Sorge um die passende Frisur mit den drängenden Problemen der Menschen. Unter den Journalisten wird in diesem Zusammenhang über die Aktionen des chinesischen Künstlers Ai Weiwei diskutiert. Weiwei fotografierte Reisepapiere von Flüchtlingen, welche das Lager freiwillig verließen und zog damit den Unmut von UNHCR Mitarbeitern auf sich. Er organisierte am Samstag das Klavierspiel einer jungen Syrerin, die nach eigenen Angaben wegen des Kriegs drei Jahre lang nicht spielen konnte. Von den übrigen Flüchtlingen wurde das für Medien interessante Ereignis kaum registriert. Die Kameras zieht Weiwei bei jedem seiner Auftritte im Lager jedoch wie ein Magnet an.

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Dagegen fiel der frühere Sozialminister Norbert Blüm, der sich am Wochenende im Lager umsah, und dort als Protest gegen die Politik der EU und aus Solidarität auch campen will, eher durch Bescheidenheit auf. Blüm war den griechischen Kollegen erst ein Begriff, als sie Berichte über seine Präsenz im Lager in den deutschen Medien lasen.

Flüchtlingsaufnahme mit fast 100-jähriger Tradition

Ähnliches gilt übrigens auch für Eidomeni selbst. Junge Griechen kennen eher den Grenzübergang von Evzonoi, wo die Autobahn von Thessaloniki aus in die EJR Mazedonien führt. Eidomeni, Idomeni gesprochen, ist ein 120-Seelen Dorf neben den Grenzdörfern Plagia und Evzoni. Bis zum Beginn der Flüchtlingskrise war der Ort lediglich Zugreisenden ein Begriff.

"Vor Jahren hat man uns hier förmlich ausgezogen, immer, wenn wir nach Deutschland fuhren oder von dort zurückkamen", erklärt Tassos ein 73-jähriger Rentner. Seit den frühen Sechzigern fuhr er durch Eidomeni mit dem Zug, um in Deutschland zu studieren. Seinerzeit benötigten die Griechen zur Erlangung eines Reisepasses auch einen Nachweis, dass sie nicht dem verbotenen Gedankengut des Kommunismus, der Ideologie der Unterlegenen des an den zweiten Weltkrieg anschließenden Bürgerkriegs in Griechenland, angehörten.

Tassos, der selbst aus einer Flüchtlingsfamilie stammt - seine Eltern kamen in den Zwanzigern im Rahmen des Bevölkerungsaustauschs aus Trapezunt, dem heutigen türkischen Trabzon in der Pontos Region am Schwarzen Meer, nach Griechenland, hatte all dies im Sinn, als er vom knapp 40 km entfernten Kilkis nach Eidomeni kam, um sich selbst von der Situation vor Ort zu überzeugen. Bei ihm überwiegen Erschütterung und Mitleid für die Flüchtlinge.

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Gleiche Gefühle zeigen zahlreiche Bewohner von Eidomeni, die immer wieder Familien von Flüchtlingen für eine warme Dusche und eine Mahlzeit, sowie oft für eine Nacht geruhsamen Schlafs im Trockenen in ihre Häuser holen. Das Leid der Flüchtlinge verbinden die Hilfsbereiten unter den Griechen mit den Erfahrungen der eigenen Väter und Mütter. Dazu kommt, dass Syrien während der Zeit der ethnischen Säuberungswellen von Kemal Atatürk und seinen Jungtürken vielen Griechen aus Kleinasien ein vorläufiges Asyl bot.

In und um Eidomeni gibt es zahlreiche "Pontier" genannte Schwarzmeergriechen. Die Region Kilkis war nach der als "kleinasiatische Katastrophe" bezeichnete Niederlage der Griechen gegen die Türken in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts zu einem der "Hotspots" jener Zeit geworden. Die damalige Zentralregierung in Athen delegierte die Flüchtlinge hierhin, gab ihnen Ackerland und hoffte, dass die von der angestammten Bevölkerung als "Türkensamen" beschimpften ethnischen Genossen aus der heutigen Türkei mit ihrer Arbeit zum Wiederaufbau des Landes beitragen würden.

Bild: Wassilis Aswestopoulos

Gleichzeitig mit der Ankunft der christlich orthodoxen Pontier wurden die moslemischen Bewohner der Region in die Türkei geschickt. Heute, beinahe hundert Jahre nach den Geschehnissen dieser Zeit, ist der Gedanke der ethnischen und religiösen Reinheit immer noch in den Köpfen vieler Bewohner der Region verankert. Sie sehen in den tausenden moslemischen Flüchtlingen und Immigranten eine Gefahr für die Identität ihres Landes. In Eidomeni outen sich diese Griechen dadurch, dass sie riesige griechische Flaggen an ihre Zäune und in ihre Fenster hängen.

Die neonazistische Goldene Morgenröte hat in diesem Teil der Bevölkerung, die bei den Wahlen im September 2015 Kilkis zur drittstärksten Hochburg der Nazis werden ließen, eine treue Anhängerschaft. Zwischen den rechtsextremen oder extrem nationalistisch gesinnten Bewohnern der Region und ihren gegenüber den Flüchtlingen solidarischen Mitbürgern öffnen sich somit als eine Art Nebenschauplatz tiefe Gräben, welche auf den ersten Blick vom Flüchtlingsdrama überschattet werden.