Flygskam - Scham und Schande für das Fliegen mit dem Flugzeug

Seite 2: Der ökologische Ablasshandel

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Zur Auflösung des moralischen Zwiespalts und der schlechten Gefühle ist allerdings schon Abhilfe geschaffen. Möglicherweise stand dafür die katholische Kirche Pate. Denn im Mittelalter konnte man zur Tilgung seiner Sünden Ablassbriefe erwerben und damit Strafen im Fegefeuer entgehen. Heute bieten Umweltschutz-NGO wie Atmosfair nicht nur ökologische Aufklärung, sondern auch ökologischen Sündenerlass für Bares. Man gibt in den CO2-Rechner seine Flugreise ein und erhält zugleich einen daraus resultierenden Kompensationsbetrag ausgewiesen, den man an die NGO überweist. Diese unterstützt dafür Klimaschutzprojekte. Für einen Flug nach Sydney (über Singapur) ist man mit der Zahlung von 261 € alle schlechten Gefühle los. Sozusagen erst "rumsauen" und dann "per cash" andere aufräumen lassen. Und aus dem ökologisch orientierten Freundeskreis braucht man mithilfe eines solchen Absolutions-Zertifikats auch keine moralische Ächtung mehr erwarten.

An dieser Stelle tut sich ein weiteres interessantes Feld auf. Auch wenn Flugreisen billiger werden, muss man sie sich erst einmal leisten können. Und die Reisenden mit dem schlechten Gewissen müssen on top zusätzlich die Absolutions-Gebühren zahlen können. Zusätzlich oder alternativ (?) schlagen die Grünen aktuell eine Erhöhung der Kerosinsteuer vor. Soll diese (für wen?) das Reisen zu teuer machen und für die, die es sich noch leisten können, eine neue Variante der Gewissensberuhigung sein? Wer fliegt denn so durch die Weltgeschichte? Wie kann man denn weltoffener Kosmopolit sein, ohne - alle störenden Grenzen hinter sich lassend - zu den attraktivsten Großstädten der Welt zu fliegen? Wie kann man sich als Natur- oder Kulturliebhaber denn praktisch für die Naturschönheiten der Welt und den Reiz anderer Kulturen begeistern, wenn man nicht fliegender Globetrotter ist? Geld, sozialer Status und Bildung scheinen dabei für das Unternehmen von Flugreisen eine zentrale Rolle zu spielen.

Kritisch-kreative Milieus haben sehr hohe Energieverbräuche und CO2-Emissionen

Eine Studie des Umweltbundesamtes untersuchte vor einiger Zeit den Pro-Kopf-Verbrauch von natürlichen Ressourcen durch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Es wurden unter anderem Daten und Informationen zu den Bereichen Heizung, Warmwasserverbrauch, Wäschewaschen und -trocknen, Kühlen und Gefrieren, Kochen, Beleuchtung, Geräte der Informations- und Kommunikationstechnik, Alltagsmobilität, Urlaubsreisen, Nahrung, Kleidung, Saunabesuch und Haustierhaltung abgefragt.

Anlass für moralische Überlegenheit besteht danach gerade auch für alternativ-kritische Milieus nicht. Diese Milieus sind u.a. gekennzeichnet durch mittlere oder höhere Formalbildung, sie sind aufgeklärt, weltoffen, tolerant und engagiert und haben vielfältige intellektuelle und kulturelle Interessen. Ihr Lebensmotto ist: Die Dinge kritisch hinterfragen sowie verantwortlich und sinnvoll leben.

Bemerkenswert ist, so eine zusammenfassende Feststellung des Bundesumweltamtes, dass der Energieverbrauch gerade auch in den sozialen Milieusegmenten überdurchschnittlich hoch ist, bei denen positive Umwelteinstellungen verbreitet sind. Die "gehobenen Milieus", also jene mit hohem Einkommen, haben besonders viele und große Autos, energiefressende Geräte im Haushalt, ihre Wohnungen sind größer und verbrauchen dementsprechend mehr Energie. Aber auch die "kritisch-kreativen Milieus" weisen ein "überdurchschnittliches Niveau des Verbrauchs stofflicher Ressourcen" auf.

Energieverbrauch und CO2-Emissionen des prekären Milieus liegen rd. 1/3 unter dem des gehobenen Milieus und rd. 1/5 unter dem des kritisch-alternativen Milieus.

Die Zahl der an Energieeffizienz und Umweltschonung Orientierten liegt jedoch selbst in den kritisch-kreativen und den gehobenen Milieus auf niedrigem Niveau und die Einspareffekte reichen bei weitem nicht, um den vor allem in den gehobenen Milieus weit über dem Durchschnitt liegenden Verbrauch energetischer und stofflicher Ressourcen aufzufangen.
(S. 85)

In den sozialen Milieus, in denen nicht-materielle Werte hochgehalten werden, leisten sich viele von ihren hohen Einkommen einen Komfort und viele Aktivitäten, die mit hohen Ressourcenverbräuchen und CO2-Emissionen verbunden sind.

Zum Zusammenhang zwischen Umwelteinstellungen und Ressourcenverbrauch im Bereich Mobilität zieht die Studie das Fazit, dass die Bevölkerungsgruppen mit überwiegend positiver Umwelteinstellungen höhere Energieverbräuche und CO2-Emissionen aufweisen. Sie werden folgerichtig auch als "klimabesorgte Klimasünder" tituliert. Die Hauptursachen der hohen Energieverbräuche und CO2-Emissionen vieler Angehöriger der gehobenen und der kritisch-kreativen Milieus im Bereich Mobilität sind vergleichsweise große Autos, ihre häufige Nutzung und lange Urlaubsreisen mit dem Flugzeug oder dem Auto (S. 18).