Folter-Hitparade

Die Menschenrechtsorganisation Reprieve will Musiker dazu bewegen, gegen die Verwendung ihrer Stücke beim Brechen von Gefangenen zu protestieren

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Bevor sie in den Nachrichten bekannt wurde, tauchte die Methode in Billy Wilders Film Eins, Zwei, Drei auf: Dort wird Horst Buchholz mit dem immer wieder abgespielten Stück Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini so weichgeklopft, dass er wahrheitswidrig gesteht, ein amerikanischer Spion zu sein, für die CIA zu arbeiten und von der Wall Street bezahlt zu werden, nur um seine Ruhe zu haben. Nun veröffentlichte die britische Menschenrechtsorganisation Reprieve eine Liste mit Musikstücken, die angeblich für Folterzwecke eingesetzt wurden und werden.

Viele der darauf befindlichen Titel und Interpreten geistern bereits seit fünf Jahren durch diverse Artikel und Beiträge über Musik und Folter. Teilweise wurden sie von ehemaligen Gefangenen ins Spiel gebracht, teilweise von Soldaten.

Bei manchen der Stücke scheint der Grund für ihre Auswahl zum Foltereinsatz sowohl akustisch wie textlich ausgesprochen nahe liegend: Hell's Bells und Shoot to Thrill von AC/DC, March of the Pigs und Mr. Self-Destruct von den Nine Inch Nails, Die Motherfucker Die und Take Your Best Shot von Dope, Let The Bodies Hit The Floor von den Drowning Pools, Click Click Boom von Saliva, Killing in the Name von Rage Against the Machine, Fuck Your God von Deicide, All Eyez On Me von Tupac sowie Metallicas Enter Sandman.

Andere scheinen dagegen alleine des Texts wegen gespielt zu werden: Neil Diamonds America ist sowohl als patriotische Überlegenheitsäußerung denkbar, als auch als etwas zynischer Kommentar zur Freiheit jener, die in ein Lager kommen. Weniger wahrscheinlich ist, dass das Stück den Gefolterten die Einwanderung in die USA schmackhaft machen soll. Auch Queens We Are The Champions dürfte in die Kategorie der Siegerposenmusik fallen. Bei Don McLeans American Pie sprechen Zeilen wie "a long long time ago I can still remember how that music used to make me smile" und "bad news on the doorstep, I couldn't take one more step" eher für die zynische Variante, gleiches scheint bei Stayin' Alive von den Bee Gees und bei der Titelmelodie der Kinderserie Barney the Purple Dinosaur der Fall zu sein. Dort heißt es unter anderem: "I love you, you love me, we're a happy family. With a great big hug and a kiss from me to you, won't you say you love me too?"

Komplizierter wird es bei Bruce Springsteens Born in the USA. Das Stück mag zwar im Refrain kriegskompatibel klingen, falls der Verhörte jedoch ein wenig mehr Englisch versteht, dann könnte ihm möglicherweise auffallen, dass hier eine gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen im Allgemeinen und Kriegen im Besonderen kritische Position eingenommen wird. Allerdings scheint es auch zahlreiche Englisch-Muttersprachler zu geben, die das Stück problemlos affirmativ umdeuteten. Mit Eminems White America, in dem der Rapper unter anderem die Absicht äußert, auf den Rasen vor dem Weißen Haus zu urinieren und Dick Cheneys Weib zu begatten, ist dies dagegen weniger gut möglich.

Das ebenfalls eingesetzte Eminem-Stück Slim Shady enthält zwar folterkompatible Zeilen wie "may I have your attention please?", "we're gonna have a problem here" und "y'all act like you never seen a white person before", dürfte aber in seiner Gänze alleine durch die zahlreichen Anspielungen für Personen, die mit der amerikanischen Populärkultur weniger gut vertraut sind, insgesamt einen verwirrenden Eindruck machen - was möglicherweise auch kein unerwünschter Effekt ist. In Kim überlagert der genervte White-Trash-Familienstreit-kurz-nach-dem-Nervenzusammenbruch-Tonfall des Rappers eventuelle textliche Feinheiten ohnehin, was alleine eine von Dauer und Lautstärke unabhängige zerrüttende Wirkung entfaltet.

Bei Christina Aguilera Dirrty sind eventuelle sexuelle Konnotationen denkbar, die zur Auswahl gerade dieses Stücks führten. Für Raspberry Beret von Prince und einige weitere Stücke lassen sich dagegen auch mit viel Phantasie wenig Gründe für eine besondere Foltereinsatzeignung finden.

Darüber hinaus werden in der Liste auch Interpreten ohne konkrete Titel aufgeführt: Aerosmith, Britney Spears, Dr. Dre, Li'l Kim, Limp Bizkit, die Red Hot Chilli Peppers und Meat Loaf. Die Auswahl ist so ausgesprochen massenkompatibel, dass sie die Theorie zu stützen scheint, dass die amerikanischen Soldaten häufig einfach jene Stücke spielen, die sie mögen, ohne sich Gedanken über die Wirkung auf die Gefangenen zu machen und dass nur bei manchen Titeln noch ein Wille zur Inszenierung hinzukommt.

Dass keine speziell entworfenen Foltersounds gespielt werden, sondern aus Radio und TV bekannter Mainstream, hat zudem den Nebeneffekt, dass Nachrichten darüber beim Durchschnittsamerikaner kaum geeignet sind, Entsetzen hervorzurufen: Mehrere Stunden am Tag Britney Spears und Christina Aguilera hören, das kennen viele Amerikaner aus dem Küchen- oder Autoradio. Meldungen darüber nehmen sie deshalb intuitiv eher als Witz wahr. Sichtbar wurde dieser Effekt unter anderem 2004, als die in Florida erscheinende St. Petersburg Times ihre Leser befragte, welche Stücke sie zur Beschallung der aufständischen Stadt Falludscha, zum Brechen des Willens irakischer Gefangener oder zum Ärgern ihrer Nachbarn spielen würden.

Allerdings musste auch die New Yorker Musikwissenschaftlerin Suzanne G. Cusick, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigte, zugeben, dass sie nicht herausfinden konnte, wer die Stücke in den Camps auswählt und auf welcher Grundlage dies geschieht.

Essentiell scheint in jedem Fall zu sein, dass die Stücke sehr laut und sehr lange abgespielt werden, wodurch sie im Endeffekt zu einer besonderen Form der Schlafentzugsfolter werden. Amnesty International zufolge wurde beispielsweise ein irakischer Gefangener vier Tage am Stück durch laute Musik wach gehalten.

Während Metallica sich öffentlich freuten, dass ihre Stücke zum Foltern verwendet wurden (was bei den meisten Käufern der Musik möglicherweise auch am Besten ankommt), nutzten andere Musiker die Gelegenheit, mit Widerspruch Aufmerksamkeit zu erzeugen. Solche Aktivitäten will Reprieve nun koordinieren und fördern. Im Rahmen der am Mittwoch gestarteten Kampagne Zero dB kündigten unter anderem Massive Attack, die Magic Numbers, Elbow, James Lavelle, Matthew Herbert, Bill Bailey und Tom Morello an, bei Konzerten zukünftig Schweigepausen einzulegen, um so gegen die Verwendung ihrer Stücke zu protestieren. Allerdings kommt dieser Protest zumindest für das Guantanamo-Lager möglicherweise etwas spät: Dessen Sprecherin Pauline Storum teilte mit, dass dort derzeit keine Musik eingesetzt wird.