Frankreich: Gesuchter Terrorist in Straßburg "neutralisiert"

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Der IS schreibt sich die Morde des Hauptverdächtigen auf seine Dschihad-Fahne. Geheimdienste hielten ihn schon vor der Tat für sehr gefährlich

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Der gesuchte, mutmaßliche Attentäter von Straßburg wurde "neutralisiert", wie der französische Innenminister Christophe Castaner gestern Abend der Öffentlichkeit bekannt gab. Die französische Polizei schießt schnell, wie sich das auch schon bei Reaktionen auf Attentäter in den letzten Jahren zeigte.

Zwar schoss der Mann, der unter dem Namen Chérif Chekatt zur Fahndung ausgeschrieben war, angeblich zuerst, traf aber nicht, die Polizisten erwiderten in der Darstellung Castaners das Feuer und waren zielsicher. Anwohner der Rue Lazaret im Straßburger Viertel Neudorf kamen auf die Straße und applaudierten den Sicherheitskräften. Für sie, die seit dem Attentat den Eindruck haben mussten, dass sich der gefährliche Mann in nächster Nähe aufhält, war das offenbar eine Erlösung.

Der Schusswechsel zwischen dem mutmaßlichen Attentäter und der Polizei ereignete sich gegen 21 Uhr. Schon tagsüber gab es ein riesiges Polizeiaufgebot in dem Stadtviertel Neudorf, wo die Polizeihunde in der Nacht des Attentats mit mehreren Toten und Schwerverletzten die Spur verloren hatten. Die Medien brachten Bilder von ganzen Reihen größerer Polizeiwagen mit Blaulicht und Einsatzkräften in martialischer Schutzmontur. Man wollte das Viertel durchkämmen hieß es, kein besonderer Anlass, beruhigten die offiziellen Pressesprecher. Die Informationspolitik gegenüber den Medien wurde restriktiv gehalten. Man wollte die Fahndung nicht gefährden.

Warum ist er auf die Straße gegangen?

Chérif Chekatt musste mitbekommen haben, dass das Viertel, wo er Unterschlupf gesucht hatte, im Visier der Polizei steht, dass es dort eine starke Polizeipräsenz gab. Warum also ist er auf die Straße gegangen? Laut Innenminister Castaner habe eine Spezial-Brigade aus drei Polizeibeamten um 21 Uhr eine verdächtige Person wahrgenommen, die die Straße "auf- und abging" - im Original: "déambuler", das auch im Sinne von "umherschlendern, flanieren" übersetzt wird, was eine gewisse Plan- oder Ziellosigkeit suggeriert. Das Individuum habe, so Castaner, mit der Beschreibung des zur Fahndung ausgeschriebenen Mannes übereingestimmt. Die Polizei habe ihm signalisiert, dass er stehenbleiben soll. Der Mann habe sich umgedreht und sofort gefeuert.

[Ergänzung: In einem späteren Bericht wird die Version des Innenministers von einem Mitglied der Polizeigesellschaft gegenüber Franceinfo mit Details ergänzt, die ein etwas unterschiedliches Bild ergeben: Demnach haben die Polizisten, die auf Patrouille waren, Chérif Chekatt entdeckt, als dieser hektisch versuchte, in ein Haus zu gelangen. "Meine Kollegen sahen, dass da jemand versuchte, in ein Gebäude hineinzukommen, ohne Erfolg, und sie sagten sich 'Gut, wir machen eine Kontrolle'. Als sie bei ihm ankommen, sagen Sie '“Bonjour monsieur, police nationale'." Das wird dann mit den Sätzen Castaners ergänzt. "Der Mann dreht sich um und schießt. Sie haben sofort zurückgeschossen."]

Laut verschiedenen, aber offiziell noch nicht bestätigten Meldungen hat nicht die Überwachung der Polizei - es wurde unter anderem ein Hubschrauber eingesetzt -, sondern der Anruf einer Frau, die den Mann auf der Straße wiedererkannt haben soll, dazu geführt, dass Chérif Chekatt gestellt wurde. Dass er sich zuvor in Neudorf immerhin so gut vor der Polizei verstecken konnte, dass sie ihn dort lange vergeblich suchte, lag daran, dass der Mann über beste Ortskenntnisse und möglicherweise auch über Bekannte verfügte, die ihm Unterschlupf gewährten.

Unterstützung von lokalen Bekanntschaften?

Der Hauptverdächtige des Attentats wuchs in Neudorf auf. Dort habe er auch seine kriminelle Laufbahn begonnen, so der in Frankreich bekannte Kriminologe Alain Bauer, früher eng mit dem Präsidenten Sarkozy verbunden, den er in Sicherheitsfragen beriet. Nach Bauers Einschätzung konnte sich Chekatt auf eine "Solidarität von lokalen Bekanntschaften" verlassen (Nachtrag: auch ein Bruder lebt dort, schreibt Le Monde in einem aktuellen Bericht).

Auf solche lokale Unterstützung würde alleine schon hindeuten, dass Chekatt der Polizeidurchsuchung entkam, die am Tag des Attentats in seiner Wohnung durchgeführt wurde. Chekatt, der verdächtig ist, im August aktiv an einer Gewalttat mit Todesfolge teilgenommen zu haben, war nicht zuhause. Bei den vier anderen Verdächtigen hatte die Polizei Erfolg. Chekatt sei der einzige gewesen, der es geschafft habe, dem Zugriff zu entkommen. Es gebe da einen Gemeinschaftsgeist, Freundschaften, Möglichkeiten, sagte Bauer dem Sender Europe 1: "Jeder begreift ihn als kriminellen Kumpel im Viertel."

Ob das bei allen im Viertel so ist, lässt sich nach den Schilderungen der Nachbarn des Wohnviertels, in dem Chérif Chekatt zuletzt lebte, eher anzweifeln. Die Aussagen über ihn waren sehr distanziert. Aber da wurde die Frage schon nach einem Mann gestellt, der verdächtigt wurde, einen Terrorakt begangen zu haben. Und es waren auch keine Freunde oder Bekannte darunter, die mit ihm gemeinsam Raubüberfälle oder andere Straftaten verübt haben.

Sollten ihm Bekannte aus dem Milieu beim Unterschlupf geholfen haben, so wäre denkbar, dass ihnen oder der einen Person die Sache zu heiß wurde. Verurteilungen im Zusammenhang mit Terrorismus gehören zu einer ganz anderen Kategorie. Ziemlich sicher ist, dass Chekatt auf ein Netzwerk in Straßburg bauen konnte, allein schon um sich die Waffen zu besorgen, die bei der Hausdurchsuchung entdeckt wurden, unter anderem ein Gewehr und angeblich Handgranaten. Außerhalb Straßburgs hatte er diese Verbindungen nicht. Wahrscheinlich hat er deswegen die Stadt bei seiner Flucht auch nicht verlassen.

Das Irrationale und der IS

Die These vom Einzeltäter wird bei einem genaueren Blick auf Vorbereitungen und Hilfestellungen, die den mörderischen Aktionen mit Feuerwaffe und Messer am Mittwochabend vorausgingen, nicht zu halten sein. Den "puren" Einzeltäter gibt es ganz selten - wenn überhaupt, so die Erfahrungen, die man in Frankreich in den letzten Jahren sammeln konnte (und nicht nur dort).

Das sieht auch der IS so. Auch dessen Vertreter handelten schnell. Es dauerte gestern nicht lange, nachdem sich die Meldungen über den Tod des Gesuchten in den Medien verbreiteten, nicht einmal zwei Stunden, bis die ersten, gut informierten Dschihadexperten meldeten, dass der IS den Anschlag von Chérif Chekatt für seine Kriegsfahnen reklamiert. Wenn es sich nicht gerade um eine Führungspersönlichkeit handelt, so der Eindruck, dann wartet der IS ab, bis der Soldat des Kalifats seinen Märtyrertod gefunden hat und damit seinen Akt vollendet hat.

Im Märtyrertod könnte eine Erklärung dafür liegen, dass Chekatt nachts in einem von einem Polizeiaufgebot und Hubschrauber überwachten Viertel herumgeht. Er suchte seine "Erlösung". Die Irrationalität würde dann damit begründet, was der französische Dschihadexperte und Journalist Wassim Nasr, der an dieser Stelle schon häufiger zitiert wurde, vor einigen Tagen als Kraftquelle der Dschihad-Ideologie kennzeichnete:

Es gibt einen wirklichen Anteil von Mythologischem, von Irrationalem. Man muss hinzufügen, dass es im Dschihad einen echten Weg zur Erlösung gibt, die sich in der Entscheidung abspielt, nun zur Tat zu schreiten. Die Dschihad-Anhänger glauben eisern daran - und sind bereit dafür zu sterben -, dass das Faktum, dass sie zur Tat schreiten, zur Folge hat, dass ihnen sämtliche Sünden der Vergangenheit vergeben werden. Es ist der Übergang zur Tat, der zählt und der die Stärke ihrer Botschaft ausmacht: Das beflügelt nicht wenige. Der "Islamische Staat" ist ein Dschihad der Masse im Vergleich zur al-Qaida, der mehr ein elitärer Dschihad ist, der es mit religiösen Schriften zu tun hat und eine intellektuelle Wegbereitung.

Wassim Nasr

Wie die IS-Verbindungen des 29-jährigen Straßburgers algerischer Herkunft, der nach Bildern von Überwachungskameras, Zeugenaussagen - vor allem eines Taxifahrers, der ihn nach den Angriffen vom Zentrum der Stadt nach Neudorf gebracht hat - als Attentäter identifiziert wurde, genau aussehen, wird erst noch geklärt werden. Als religiöser Mann im Sinne von "fromm" ist Chekatt nach Medieninformationen nicht aufgefallen auch nicht als Leser religiöser Abhandlungen. Bei der Hausdurchsuchung wurden vor allem Waffen gefunden und nur spärlich religiöses Material.

Ein "hybrides Profil" und die Schwierigkeiten der Dienste

Die Justiz, Gefängnisinsassen, Polizei, Viertelbewohner, Nachbarn, die Geheimdienste und auch die in Frankreich geschaffene und immer wieder verbesserten Departements-Einheiten zur Einschätzung der Radikalisierung (groupes d'évaluation départementale de la radicalisation - GED) waren mit Chekatt überfordert.

Der Mann aus einer Familie mit 12 Kindern, darunter vier Brüder, die ebenfalls als Mehrfachtäter bekannt sind, war zwar im Viertel und im Gefängnis als jemand bekannt, der andere in aggressiver Weise von seinem Islamverständnis überzeugen wollte, aber er wird nicht als religiös geschildert, sondern als radikal. Dass in seiner Zelle 2008 ein Bild von Bin Laden hing, wird als symptomatisch dargestellt.

Symptomatisch für die Schwierigkeit, die Polizei und Geheimdienste mit der Einschätzung seiner Radikalisierung hatten, wird ersichtlich am "hybriden Profil", das man ihm zuschrieb, und anschaulich mit der Bezeichnung "zuerst Verbrecher, dann Islamist", die in einem Le Monde-Artikel zu finden ist, in dem Interessantes zutage kommt.

Dass die kriminelle Laufbahn Chérif Chekatts zu sehr vielen Urteilen, 27 laut Staatsanwalt, auch über Frankreich hinaus, in der Schweiz und in Deutschland geführt hat, häufig waren es Raubüberfälle, ist mittlerweile über Medien genügend bekannt gemacht worden. Bemerkenswert ist, dass Chekatt schon im frühen Alter von 10 Jahren damit auffällig geworden ist, wahrscheinlich dann in Neudorf, wo sein Leben beendet wurde.

Geheimdienste bei der Hausdurchsuchung

Interessant ist nun, was dem erwähnten Le Monde-Artikel, zu entnehmen ist, dass nämlich bei der genannten, erfolglosen Hausdurchsuchung am Morgen des Tages, an dem Chekatt seinen Anschlag im Umkreis des Straßburger Weihnachtsmarktes verübte, neben der Polizei auch Beamte zweier Geheimdienste anwesend waren, dem Inlandgeheimdienst DGSI und dem SCRT, der zur Nationalpolizei gehört.

Das dürfte auch in Frankreich nicht das übliche Vorgehen bei Hausdurchsuchungen von Kriminellen sein. Es zeigt sich nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Berichten, dass Chérif Chekatt überwacht wurde; er stand im Visier des Geheimdienstes. Bekanntlich war er in der Gefährder-Datenbank mit der Kennzeichnung "fiche S" (S für Sicherheit). Allerdings nur mit der Einstufung 11, auf einer Skala von 1 bis 16, wobei 1 die höchste Gefährderstufe ist.

Ein vergleichsweise harmlos eingestufter Radikalisierter wird aber nicht aufwendig beschattet, wie Chekatt zumindest zeitweise. Das ganze technische Überwachungsrepertoire wurde in seinem Fall angewendet, heißt es in Medienberichten. Das ist sehr viel Aufwand für einen Gefährder der Stufe 11 und lässt den Schluss zu, dass ihn die Dienste für ziemlich gefährlicher gehalten haben.

Aber, so berichtet Le Monde, weder der Inlandsgeheimdienst noch die oben erwähnte Gefahrenevaluierungsgruppe, hatten deutliche Zeichen dafür, dass er zur Tat schreiten würde. Sie hatten damit auch keine Handhabe, den Gefährder im Hausarrest zu halten oder seinen Bewegungsspielraum mit einer elektronischen Fessel einzugrenzen (was wie ein früheres Attentat in Frankreich zeigte, Dschihadisten auch nicht wirklich von ihrer mörderischen Akt abhält).

So bestand laut Le Monde die Taktik darin, den Radikalisierten in Verbindung mit der Polizei über seine kriminellen Aktivitäten "zu kriegen". Dazu diente auch die Hausdurchsuchung am Morgen des 11. Dezember. Allerdings war Chérif Chekatt schneller. Möglicherweise entschied er sich dann dazu, zur Tat zu schreiten. Es bleiben noch viele Fragen offen. Sicher ist, dass wieder einmal über bessere Präventionsmöglichkeiten diskutiert werden wird.