Frankreich und Algerien: Die Spannungen heizen sich auf

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Koloniale Verbrechen, ein Sendeverbot und die Rückführung eines problematischen Migranten, der zum exemplarischen Fall wird. Analyse eines Minenfeldes.
Nicht jede Wahrheit darf auch ausgesprochen werden. Diese Erfahrung musste soeben der bisherige französische Starjournalist Jean-Michel Aphatie machen. Seit Mittwoch, den 05. März, hat er Sendeverbot bei RTL in Frankreich.
Das schlimme Vergehen des 66-Jährigen? Er hatte im Kontext wachsender Spannungen zwischen den Regierungen in Frankreich und dessen früheren Kolonie Algerien daran erinnert, dass die französische Staatsmacht extreme Verbrechen in dem ab 1830 von ihr eroberten Land beging.
Inzwischen weitet sich der Streit um das Auftrittsverbot aus.
Der Vorwurf
Nach linken Medien hat nun auch die sozialliberale Tageszeitung Libération es auf dieselbe Formel gebracht: Apathie werde für das Aussprechen der historischen "Wahrheit sanktioniert".
Es zirkulieren Petitionen, um Solidarität mit dem Geschassten auszudrücken. Selbst ein Regenbogenmagazin erteilte Aphatie das Wort, indem es seine erste Reaktion dokumentierte.
Aphatie wies darauf hin, dass der langjährige Fernseh- und Printjournalist Eric Zemmour – 2022 als rechtsextremer Präsidentschaftskandidat angetreten – niemals für seine Hetztiraden mit einem Sendeverbot belegt worden sei.
Was aber hatte Aphatie überhaupt gesagt?
"Wir (gemeint ist Frankreich, Einf. d. A.) haben Hunderte von Oradour-sur-Glane in Algerien verübt", äußerte der seit 1981 als Journalist tätige 66-Jährige mit dem südwestfranzösischen Akzent am 26. Februar in einer Sendung.
Oradour-sur-Glane ist eine Ortschaft im französischen Zentralmassiv, in der die deutsche SS am 10. Juni 1944 – während die Truppen Nazideutschlands nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 06. Juni 1944 Rückzugsbewegungen durchführten – mindestens 642 Einwohnerinnen und Einwohner umbrachte.
Der untere Teil des Eisbergs
Dieses Massaker, dessen jährlich gedacht wird, war Teil der Verbrechen des nationalsozialistisch regierten Deutschlands, die in ihrer Gesamtheit, berücksichtigt man den Völkermord an den europäischen Juden sowie Sinti und Roma, historisch einmalig waren.
Der französische Journalist verglich allerdings nicht den Holocaust mit den kolonialen Massakern – eine solche Analogie wäre falsch und kritikwürdig gewesen, denn koloniale Schlächtereien zielten auf Unterwerfung und Landnahme, der NS-Genozid hingegen im Kern auf Vernichtung als Selbstzweck –, sondern einen von den Schlächtern sogenannten Vergeltungsakt gegen die Zivilbevölkerung in einem unterworfenen, doch unbotmäßigen Land.
Auf dieser Ebene trifft der Vergleich jedoch zu. Darauf wiesen auch mehrere französische Medien hin.
Dabei geht es nicht nur um die gigantischen Verbrechen, die Frankreich in Algerien während des Entkolonisierungskrieges von 1954 bis 62 beging: den massiven Einsatz von Folter, Napalm-Abwurf und die Einweisung von zwei Millionen Menschen in camps de regroupement genannte Internierungslager.
Es geht auch um die Phase der Unterwerfung Algeriens in den Kriegen von 1830 bis circa 1850. Der französische bürgerliche Philosoph Bernard-Henri Lévy ("BHL"), der ansonsten nicht unbedingt als Kritiker des Kolonialismus in Erscheinung trat – das Millionen umfassende Familienvermögen, von dem er zehrt, trug sein Vater in der Kolonialära in Algerien zusammen –, nahm dazu in einem tatsächlich kritischen Artikel von 2005.
Darin beziffert er die Zahl der durch die französische Offensive in Algerien Getöteten in der Eroberungsphase auf 700.000. Das bedeutet ein Drittel der damaligen Bevölkerung.
BHL nennt dabei unter anderem den General Thomas Robert Bugeaud (1784 bis 1849), den Erfinder der "enfumades" in den Jahren 1844/49. Dabei handelte es sich um die Vergasung von Dorfbevölkerungen mittels der Einleitung von Rauch in Höhlen, in denen die Einwohnerschaft zusammengetrieben wurde.
Es trifft also absolut zu, was zuerst die linke Tageszeitung L’Humanité und nun auch, wie weiter oben erwähnt, die sozialliberale Libération schreibt: Dass Aphatie dafür bestraft wurde, dass er eine in mancher Augen unbequeme historische Wahrheit aussprach.
Den erzwungenen Rückzug vom Sender gab am Mittwoch der vergangenen Woche überdies der Moderator Thomas Sotto bekannt, derselbe, der Aphatie noch während seiner Ausführungen am 26. Februar in dessen Gegenwart mit empörten Worten – "Wollen Sie etwa behaupten, wir hätten uns in Algerien wie die Nazis aufgeführt?" – unterbrochen hatte.
Geschichtspolitik und Gegenwart
Gleichzeitig kann dies selbstverständlich dem amtierenden, repressiven Regime in Algier keinen Blankoscheck für seine Handlungen geben, auch wenn dieses sich zu Legitimationszwecken gerne periodisch auf die Geschichte und auf die Abgrenzung zu Frankreich beruft.
Ebenso wenig, wie der Hinweis auf die Verbrechen NS-Deutschlands in der Sowjetunion eine Zustimmung zur Politik des russischen Regimes unter Wladimir Putin zur Folge haben muss; und ebenso wenig, wie der Gedanken an die Opfer des NS-Völkermords eine Unterstützung für die Regierenden in Israel nach sich ziehen muss.
Die aktuellen Beziehungen zwischen Paris und Algier beinhalten notwendig immer auch ein Stück weit Geschichtspolitik, also eine Selbstbetrachtung der jeweiligen Gesellschaft im Spiegel der Vergangenheit. Und, wie auch etwa die russische und die israelische Politik, ist dieser Blick auf die Verbrechen der Vergangenheit selbstredend nicht von gegenwärtigen Instrumentalisierungen frei.
Aufgeheizte Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien
Aufgeheizt haben sich die bilateralen Beziehungen zwischen Frankreich auf der Nord- und Algerien auf der Südseite des Mittelmeers in den letzten Monaten sukzessive, nachdem Frankreich, geltendem internationalem Recht zuwider, am 30. Juli 2024 die Souveränität Marokkos über die seit 1975 von ihm okkupierte, frühere spanischen Kolonie Westsahara offiziell anerkannt hat.
Marokko und Algerien sind rivalisierende Regionalmächte, deren Beziehungen sich seit 2021 verschlechterten, wobei die regierende marokkanische Monarchie unter anderem die Rückendeckung durch Donald Trump genießt. Und inzwischen auch die der spanischen und eben der französischen Regierung.
Hinzu kamen seit Jahresanfang 2025 mehrere Auseinandersetzungen um algerische "Influencer", also YouTube-Stars, denen vorgeworfen wird, in ihren Sendungen insbesondere oppositionelle Landsleute bedroht zu haben.
Unerhörte Gewaltaufrufe
Einer von ihnen, Imad Ould Brahim alias "Imad Tintin" – sein Pseudonym spielt auf die Hauptfigur von Tintin et Milou (deutsch: "Tim und Struppi") an – stand am Mittwoch in Grenoble vor Gericht.
Ihm wird vorgeworfen, er habe dazu aufgerufen, algerische Oppositionelle zu vergewaltigen oder zu töten. Aufgrund eines Streits um möglicherweise mangelhafte Übersetzungen – die die teilweise erheblichen Unterschiede zwischen Schriftarabisch und den praktizierten Dialekten nicht zu berücksichtigen schienen – wurde die Verhandlung auf Mai dieses Jahres vertagt.
Das Problem der Abschiebungen
Aufgeheizt hat sich die Stimmung zwischen den Regierungen in Paris und Algier aber auch, weil die algerischen Behörden sich in mehreren Fällen weigerten, Landsleuten, die Frankreich in ihr nordafrikanisches Herkunftsland abschieben wollte, Einlass zu gewähren.
So hatte das französische Innenministerium in der zweiten Januarwoche versucht, Boualem Naman nach Algier einzufliegen, dort wurde er jedoch am Flughafen postwendend zurückgeschickt.
Aber auch in anderem Zusammenhang beschwerte sich das offizielle Frankreich über mangelnde Abschiebekooperation. Am 22. Februar attackierte ein 37-jähriger, psychisch erkrankter algerischer Staatsbürger, Brahim Abdessemed, im südelsässischen Mulhouse mehrere Menschen mit einem Messer.
Dabei kam der 69-jährige portugiesische Rentner Lino Sousa Loureiro, der einzugreifen versucht hatte, ums Leben.
Der Täter war seit Jahren als schizophren diagnostiziert worden. Zugleich schienen sich bei ihm die psychische Erkrankung und die Zustimmung zu einer dschihadistischen Ideologie miteinander zu kombinieren – ähnlich, wie der Todesfahrer Alexander S., er tötete jüngst in Mannheim zwei Menschen, anscheinend psychiatrische Krankheitssyndrome und rechtsextreme Ideologieelemente vereinte.
Im Falle von Brahim Abdessemed hatte die eigene Familie gegen ihn Anzeige erstattet. Er lebte seit 2014 in Frankreich und war als ausreisepflichtig eingestuft worden.
Verschärfungen im bilateralen Verhältnis
Der französische Innenminister Bruno Retailleau behauptet, seine Behörden hätten insgesamt zehnmal beim Konsulat Algeriens um Reise-Ersatzdokumente nachgefragt, die bei einer Abschiebung erforderlich sind, wenn für den Betroffenen kein gültiger Reisepass vorliegt, weil sonst das Zielland in der Regel die Aufnahme verweigert. Diese seien allerdings nicht eingetroffen.
Es ist möglich, dass Algerien den problematischen Mann nicht haben wollte, aber ebenso, dass Verzögerungen aufgrund anders gelagerter zwischenstaatlicher Konfliktthemen eintraten – insbesondere seit den Verschärfungen im bilateralen Verhältnis wegen der offiziellen Positionierung Frankreichs zu Marokko und zur besetzten Westsahara.
Fils à Papa: Vatersöhnchen Louis Sarkozy
Zu welchen extremen Fantasien und Projektionen die bilateralen Konfliktthemen führten, führte dabei jüngst der Sohn eines früheren Staatspräsidenten vor, Louis Sarkozy. Ihn kannte das französische Publikum bislang hauptsächlich als den knapp Zehnjährigen, der bei der Wahl Nicolas Sarkozys zum Staatspräsidenten im Frühjahr 2007 bei einer Großveranstaltung des Herrn Papa vorgezeigt wurde.
Doch nachdem er nur wenig später mit der inzwischen (ebenfalls 2007) frisch geschiedenen Ex-Ehefrau des prominenten Vaters – Cécilia Sarkozy – und seinem Stiefvater Richard Attias in die USA umzog, wo er später eine militärische Ausbildung durchlief, mauserte er sich dort zum Waffennarren und Donald Trump-Fan. Mittlerweile testeten ihn aber auch Umfrageinstitute kürzlich als potenziellen Präsidentschaftskandidaten in Frankreich.
Louis Sarkozy wurde am 14. Februar in der liberalen Pariser Zeitung Le Monde mit den Worten zitiert, vor dem Hintergrund des französisch-algerischen Regierungsstreits um den in Algerien inhaftierten Schriftsteller Boualem Sansal – für ihn schwärmt in Frankreich vor allem die Lobby der Kolonialnostalgiker seit längerem – würde er "die algerische Botschaft niederbrennen" und die Ausstellung sämtlicher Visa an Staatsbürger dieses Landes einstellen.
Dazu wurde inzwischen von SOS Racisme Strafanzeige eingereicht.
Gar so weit gehen etablierte Politiker ansonsten derzeit nicht, obwohl der Chef des Rassemblement national (RN), Jordan Bardella, nun ebenfalls eine Null-Visums-Politik für Algerien fordert.