Freispruch bleibt Freispruch – auch wenn es schmerzhaft sein kann
Statistisch sind Freisprüche in Mordprozessen selten – noch seltener tauchen später neue Beweismittel auf. Warum Karlsruhe die Wiederaufnahme untersagt. Ein Kommentar.
Von später Gerechtigkeit handelt die US-Serie "Cold Case – Kein Opfer ist je vergessen": Jahre zurückliegende Mordfälle werden mit neuen kriminaltechnischen Methoden aufgeklärt – in der Regel aber Fälle, in denen es laut Drehbuch noch nie zu einer Anklage kam. Anders als beispielsweise im realen Fall der ermordeten Schülerin Frederike von Möhlmann, in dem ein Tatverdächtiger in den 1980er-Jahren freigesprochen wurde.
Als er aufgrund einer neueren Untersuchung wieder ins Visier der Ermittler kam und 2022 erneut verhaftet wurde, hofften ihre Angehörigen auf eine Verurteilung. Dazu wird es aber nicht kommen. Eingestellte Strafverfahren können wieder aufgenommen werden – aber Freispruch bleibt Freispruch.
So hat es das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe diese Woche entschieden: "Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig." Mit ihrer Entscheidung vom 31. Oktober 2023 (Aktenzeichen: 2 BvR 900/22) stärken die Karlsruher Richter gleichermaßen Recht und Gesetz.
Das Rechtsstaatsprinzip
In Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes ist das sogenannte Rechtsstaatsprinzip festgeschrieben. Es bringt zum Ausdruck, dass die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung "an Gesetz und Recht gebunden" sind. Das gilt auch für die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte – unabhängig vom Einzelfall. Dabei lässt sich die Unterscheidung zwischen Recht und Gesetz wohl am besten mit den Worten des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Paul Kirchhof auf den Punkt bringen.
Er stellt fest: "Recht beansprucht, Gerechtigkeit zu verwirklichen", wobei ein Gesetz das "Recht für jedermann voraussehbar" macht und "vor dem Staatsvolk verantwortet".
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Es geht also um Gerechtigkeit, aber auch um Voraussehbarkeit und Verantwortung. Diesen hehren Ansprüchen wird § 362 Nummer 5 Strafprozessordnung (StPO) nicht gerecht. Schlimmer noch: Das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit", mit dem es zur Ergänzung des § 362 StPO kam, erweist sich als Mogelpackung, was nun auch offiziell das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat. Doch der Reihe nach.
Gerechtigkeit
Das maßgebliche Argument für die Einführung von § 362 Nummer 5 StPO war, so ist es in der Begründung des Gesetzentwurfs (Bundestags-Drucksache. 19/30399, S. 2) nachzulesen, einen "unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß" zu verhindern. Denn einen rechtskräftigen Freispruch – trotz entgegenstehender neuer Beweismittel – im Falle von schwerster Kriminalität aufrechtzuerhalten, erschien dem Gesetzgeber damals unerträglich.
Zugleich sind es Fälle wie der von Frederike von Möhlmann, die auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zugrunde lagen. Der Vater der 1981 ermordeten jungen Frau hatte nach dem Freispruch des Beschuldigten jahrelang für ein Wiederaufnahmeverfahren gekämpft. Nach seinem Tod im Sommer 2022 hatte ihre Schwester die Rolle der Nebenklägerin übernommen.
Immer wieder erregen ähnliche Fälle die Aufmerksamkeit und Herzen der Bevölkerung. Es widerspricht dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden, dass Menschen freigesprochen und straflos bleiben sollen, obwohl neue Beweismittel sie der Tat überführen könnten.
Statistisch gesehen handelt es sich aber um Einzelfälle. So wurden etwa im Jahr 2021 in Deutschland nur acht Menschen, die wegen Mordes vor Gericht standen, überhaupt freigesprochen. Eine Wiederaufnahme nach § 362 Nummer 5 StPO wäre also lediglich bei diesen acht Fällen denkbar.
Dabei darf man eine mögliche Einzelfallgerechtigkeit nicht voreilig mit der materiellen und vom Recht zu gewährleistenden Gerechtigkeit gleichsetzen – vom Wunsch nach Rechtsfrieden gar nicht erst zu sprechen.
Gerechtigkeit steht – anders als es die Gesetzesbegründung nahelegt – nicht über allem. In Anlehnung an Radbruch und seine Rechtsideen sollte man sich bewusst machen, dass der Gesetzgeber neben der Gerechtigkeit stets auch die Rechtssicherheit und die Zweckmäßigkeit im Blick behalten muss.
Im sensiblen, weil sanktionsbewährten Bereich des Strafrechts ist das besonders wichtig. Vor der hier zu gewährleistenden Rechtssicherheit versagt § 362 Nummer 5 StPO. Mit dieser Regelung werden Freigesprochene zu Gerechtigkeitswerkzeugen degradiert, auf die die Strafjustiz jederzeit zugreifen kann.
Voraussehbarkeit und Verantwortung
Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz steht als sogenanntes Justizgrundrecht den Grundrechten gleich. Er regelt ein Mehrfachbestrafungs- beziehungsweise ein Mehrfachverfolgungsverbot. Die jetzt gekippte Regelung von § 362 Nummer 5 StPO brach mit diesem Verbot. Und das – Stichwort: Voraussehbarkeit – auf einfachgesetzlicher Ebene. Eine Änderung des Verfassungsrechts wurde nicht erwogen.
Hinzu kommt, dass – wie vielfach bereits angeklungen – mit der Regelung von § 362 Nummer 5 StPO eine gewiss ungewollte, aber dennoch unverantwortliche Parallele zur Zeit des Naziregimes gezogen wurde. Auch damals war es strafprozessual möglich, rechtskräftige Entscheidungen abzuändern, insbesondere "nachzuschärfen".
Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat nun mit deutlichen Worten § 362 Nummer 5 StPO für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt. Im Urteil steht wörtlich:
"§ 362 Nr. 5 StPO unterläuft somit die in Art. 103 Abs. 3 GG getroffene – abwägungsfeste – Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit. Die Neuregelung ist mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren."
Das sorgt für Rechtssicherheit und dafür, dass die Bindung an Recht und Gesetz im Strafrecht wieder auf einem starken Fundament ruht.