Gegen Armut hilft kein Impfstoff

Seite 2: Bedauern heißt nicht bekämpfen

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Wie Verband und Grüne auf ihre exakten Daten kommen? Sicher nicht, indem sie den Maßstab einigermaßen sorglosen Lebens anlegen. Sondern beide unterstellen ganz selbstverständlich, dass es in dieser doch so reichen Gesellschaft eine existenzbedrohende Armut dauerhaft gibt. Das bedauern sie, bekämpfen die Armut jedoch nicht. Schließlich müssten sie sich dann ihren Ursachen widmen. Die eben nichts mit einer falschen "Verteilung" zu tun haben.

Vielmehr ist die Armut Resultat eines Wirtschafts-Systems, das für eine Menge Leute gar keine Verwendung hat. Und vielen anderen zu wenig für ein halbwegs normales Leben bezahlt - nicht aus bösem Willen, sondern weil Lohn und Gehalt Kosten bedeuten, die den Profit schmälern. Und Profit muss sein, denn ohne gibt es kein Geschäft. Die ganz normalen Arbeitnehmer - siehe "höheres Einkommen" - fallen ebenso ins Leere, sobald sie nicht Monat für Monat ihr Geld bekommen. Ein Geld, das sie nur solange von ihrem Arbeitgeber erhalten, wie er mit ihnen seinen Gewinn erzielt.

Von einem "regional und sozial zerrissenen Land" spricht Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Da teilt er die Sorge der Kollegen vom WSI, die Armut könnte den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden. "Die Corona-Krise dürfte (…) diesen Trend noch einmal spürbar beschleunigen." Sie habe "jahrelang verharmloste Probleme ans Licht gezerrt."

Als ob bis zur Pandemie den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft das Phänomen Armut unbekannt gewesen wäre. Das stimmt natürlich nicht, die Bundesregierung erhebt selbst regelmäßig einschlägige Daten und berichtet darüber. Außerdem verfügen Behörden wie die Agentur für Arbeit über sehr exakte Listen ihrer Leistungsempfänger, da bleibt nichts verborgen.

Was ein Herr Schneider eigentlich meint: Mein Thema Armut bekommt jetzt im Zeichen von Corona noch mehr Bedeutung. Da muss die Politik doch endlich mehr auf meine Empfehlungen hören, wie die Armut am besten in den Griff zu bekommen ist. Was nicht zu verwechseln ist mit ihrer Abschaffung.

Mit "Corona" ist die Armut hierzulande nicht eingezogen. Sie war schon immer da - im Prinzip nämlich bei allen, die keine Mittel besitzen, ein profitables Geschäft aufzuziehen. Sie haben nur ihre Arbeitskraft, um an Geld zu kommen. Die Produktion in der kapitalistischen Wirtschaft basiert genau darauf: Dass es genügend Leute gibt, deren Mittellosigkeit sie zur abhängigen Beschäftigung zwingt.

Wenn alles funktioniert, steht am Ende der Veranstaltung auf der einen Seite ein ordentlicher Gewinn für den Betrieb. Gegenüber zählt der Arbeitnehmer seine Euro und weiß: Morgen muss ich da wieder hin. Schlimmer: Hoffentlich darf ich da wieder hin. Ich habe ja sonst nichts. So wird es auch nach der Pandemie bleiben. Denn gegen Armut im Kapitalismus hilft kein Impfstoff.

Literaturhinweis zum Thema Armutsforschung:

Renate Dillmann / Arian Schiffer-Nasserie: Der Soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. VSA Verlag Hamburg, 2018, S.28ff.