Genetischer Hintergrund bei delinquenten Jugendlichen?

Soziologen haben in einer Langzeitstudie über delinquentes und kriminelles Verhalten bei Jugendlichen komplexe Zusammenhänge zwischen einigen Genen und Umweltfaktoren gefunden

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Soziologen der University of North Carolina-Chapel Hill wollen Hinweise auf eine genetische Verankerung von Jugendkriminalität gefunden haben. Drei Gene haben die Wissenschaftler in ihrer Studie "The Integration of Genetic Propensities into Social-Control Models of Delinquency and Violence among Male Youths", die in der Augustausgabe Zeitschrift American Sociological Review erscheint, entdeckt, bei deren Vorhandensein der Zusammenhang mit schwerer und Gewaltkriminalität hoch sein soll, wenn überdies bestimmte familiäre und soziale Bedingungen vorliegen.

Für die Studie verwendeten die Wissenschaftler Daten von 1.100 männlichen Jugendlichen der repräsentativen, 1994 gestarteten National Longitudinal Study of Adolescent Health, für die mehr als 90.000 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 17 Jahren befragt werden. Die Jugendlichen wurden im Alter von 18 bis 26 und dann im Alter von 24 bis 32 Jahren noch einmal befragt. Von den ausgewählten Jugendlichen lagen Informationen zum Verhalten und Genanalysen vor.

Interessant an der Studie ist, dass der Zusammenhang zwischen Genen und einer ganzen Reihe von Umweltbedingungen wie Familienstrukturen, Beliebtheit, Freundschaften und Schulbesuch untersucht wurde. Um einzuordnen, wie kriminell die Jugendlichen sind, wurde anhand der beantworteten Fragen eine Skala erstellt, die von Diebstahl, Einbruch und Drogenhandel bis hin zu unterschiedlichen Gewalttaten und Waffengebrauch.

Unter den drei Genen, die gehäuft bei delinquenten Jugendlichen auftreten, ist nach der Studie das 2R-Allel (2 Repeat), eine Gen-Variante von MAOA (Monoamin-Oxidase-A), besonders bedeutsam. MAOA ist an der Regelung wichtiger Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin oder Norepinephrin beteiligt. Wer diese Gen-Variante besitzt, soll mit großer Wahrscheinlichkeit zu kriminellem Verhalten neigen. Soziologieprofessor Guang Guo, der das Wissenschaftlerteam leitete, sagte: "Ich will es kein Verbrechensgen nennen, aber ein Prozent der Menschen besitzen es und haben eine hohe Wahrscheinlichkeit für Gewalt und Delinquenz." Dazu kommt eine starke Korrelation mit dem Durchfallen in einer Klasse. Zwar ist auch bei den Durchfallern ohne das 2R-Allel die Neigung zu schwerer Delinquenz erhöht, bei denjenigen mit dieser Genvariante sei sie drastisch erhöht.

Auch das VNTR-Allel beim Dopamintransporter 1 (DAT1-Gen) und der Taq1 Polymorphismus beim Dopaminrezeptor D2 (DRD2-Gen) haben nach der Studie einen engen Zusammenhang mit delinquentem Verhalten, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich wenn die Jugendlichen in zerrütteten Familien lebten, in der Schule versagten oder Anerkennungsprobleme hatten. Und noch eine Korrelation haben die Wissenschaftler gefunden. Wenn die Jugendlichen mit Taq 1 täglich eine Mahlzeit zusammen mit einem Elternteil oder mit beiden einnahmen, verschwindet der Zusammenhang mit der Delinquenz. Das weist für die Wissenschaftler darauf hin, dass die familiäre Bindung und Betreuung eine wichtige Rolle spielt.

Die Soziologen sagen keineswegs, dass das Verhalten genetisch fixiert ist. "Soziale Faktoren wie Familie, Freunde und Schule scheinen die Expression bestimmter Genvarianten zu beeinflussen", sagt Guang Guo. "Positive soziale Faktoren scheinen die Verstärkung der Deliquenzanfälligkeit einer Genvariante zu mindern, während die Wirkung der Genverianten durch das Fehlen der sozialen Kontrollen verstärkt wird." Es käme darauf an, so die Schlussfolgerung der Wissenschaftler, beide Ursachen für delinquentes und kriminelles Verhalten zu berücksichtigen.

Möglicherweise könnten Straftäter, so überlegt Guang Guo, auch versuchen, aus den Ergebnissen der Studie über den Zusammenhang von Verhalten und Genen eine Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Wären Gene maßgeblich als Ursache des kriminellen Verhaltens anzusehen, so könnte man auf Schuldunfähigkeit plädieren. Auf der anderen Seite könnten Richter, vermutet der Soziologe, eben aufgrund dieser genetischen Verbindung vermuten, dass der Straftäter weiterhin Verbrechen begehen wird, was Auswirkungen auf Strafmaß, vorzeitige Entlassung oder die Verhängung von Bewährungsstrafen haben könnte.

Allerdings ist das Ergebnis der Studie weder auf die eine, noch auf die andere Seite aufzulösen, weil sie auf komplexe Beziehungen von genetischen und Umweltfaktoren hinweist – aber deutlich macht, wie entscheidend auf jeden Fall – genetische Veranlagungen hin oder her - die Bedingungen sind, unter denen Kinder und Jugendliche aufwachsen. Selbst irgendwelche potenziellen Gentherapien zur Austreibung eines genetisch erhöhten Deliquenzrisikos würden da nichts helfen, wenn Eltern nicht gleich sicherheitshalber zu Fruchtwasseruntersuchungen oder, im Fall der künstlichen Befruchtung, zur Präimplantationsdiagnostik greifen …