Geopolitik ist wieder en vogue: Von Putin und Dugin zum Revival des Empire

Im Unterholz der deutschen Ukraine-Krieg-Debatten tobt eine heftige Kontroverse um die russische Geopolitik. Im Visier ist Bestsellerautor Tim Marshall.

Eine deutsche Kontroverse mutet an wie ein Kampf David gegen Goliath: Auf der einen Seite steht der international und auch hierzulande erfolgreiche Bestsellerautor Tim Marshall. Der vielfach ausgezeichnete BBC-Experte für Außenpolitik (er arbeitete auch für Sky News) berichtete aus 40 Ländern und stürmte mit seinem Welterfolg Die Macht der Geographie auch deutsche Bestsellerlisten.

In der anderen Ecke des Rings sehen wir den Literatur-Professor der Universität Siegen, Nils Werber, der dem BBC-Starautor Marshall in einem Junius-Einführungsbändchen zur Geopolitik die Stirn bietet.

Iwan der Schreckliche, Stalin und Putin

Obwohl Marshall sicherlich nicht als Verteidiger der Krim-Annexion oder Kritiker an westlichen Milliarden-Programmen zu Regimewechseln in der Ukraine auftrat, sieht Werber1 bei ihm eine skandalöse Perspektive: Die russische, die für ihn in einer Linie mit der von Hitlers NS-Diktatur steht, was ihn in Rage bringt.

Es ist bestürzend, dass Marshall in seinem Bestseller schreibt: "Vom Großfürstentum Moskau über Peter den Großen bis zu Stalin und Putin sah sich jeder russische Führer den gleichen Problemen gegenüber ... die Häfen frieren immer noch zu und die nordeuropäische Tiefebene ist immer noch flach ... die Landkarte, mit der Iwan der Schreckliche konfrontiert war, ist die gleiche, die ein Wladimir Putin heute vor sich hat."

Nils Werber, Geopolitik zur Einführung

Werber kritisiert Marshall (der inzwischen weitere Bestseller im deutschen Markt platzierte) als –unbewusst – an Nazi-Geopolitik orientiert und in seiner Sicht auf Putins Strategie "bestürzend" versimpelt:2

Die aggressive Politik der Russischen Förderation gegenüber ihrem "nahen Ausland" ist dann auch schnell verstanden, handelt es sich doch um eine geradezu naturgesetzliche Selbstverständlichkeit. Tim Marshall schreibt 2015: "Hätte Gott in der Ukraine Berge geschaffen, dann würde das ausgedehnte Flachland der nordeuropäischen Tiefebene nicht zu Angriffen auf Russland einladen, wie es mehrfach der Fall war. So wie es ist, bleibt Putin keine andere Wahl: Er muss zumindest versuchen, die Ebene im Westen zu kontrollieren." (Marshall 2017: 7)

Nils Werber, Geopolitik zur Einführung

Hitlers Komplexitätsreduktion in Landsberg

Diese Art der "Komplexitätsreduktion", die auf Geographie fixiert sei und alle anderen Faktoren, soziale, kulturelle, religiöse usw. ignoriere, so Werber, mache Marshalls Werk der "klassischen deutschen Geopolitik" vergleichbar.

Marshalls Analyse unterscheide sich "nicht allzu sehr" von jener des SA-Hauptsturmführers Springenschmid von 19343. Selbiger SA-Stratege stehe in einer Reihe mit Halford J. Mackinder und seinen deutschen Apologeten Ratzel und Haushofer, die Adolf Hitlers Geopolitik inspirierten. Haushofer-Schüler und Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess habe den Führer während dessen Festungshaft "in Landsberg mit dem geopolitischen Denken vertraut gemacht"4.

Auch Kreml-Ideologe Aleksandr Dugin beziehe sich in "einer bizarren Hommage" auf Mackinder, wenn für ihn der "letzte Krieg um die Weltinsel" beginne; Dugin schreibe, "man werde mit Putin gegen den Westen siegen oder untergehen", was, so Werber, "überaus unoriginell" sei, da schon 1915 der schwedische Geopolitik-Vordenker Kjellén die "weltpolitische Mission" Russlands darin sah, "die eurasische Insel zu dominieren und von den 'abgelebten' Zivilisationen des Westens zu befreien"5.

Auch dass Tim Marshall Gas und Öl als Russlands mächtigste Waffen bezeichnet habe, treffe sich mit Aleksandr Dugins Analyse:6

Der Grund für diese erstaunlichen Parallelen zwischen einem Korrespondenten der BBC und einem russischen Neofaschisten liegt in der gemeinsamen Überzeugung, es gebe einige geopolitische Gesetze, die die Außenpolitik der Staaten und Bündnisse über Jahrhunderte hinweg anleiteten. Der Blick auf die Karte zeigt beiden, welche Geopolitik die richtige sei.

Nils Werber, Geopolitik zur Einführung

Dann folgt die Abbildung einer Karte Russlands aus dem Bestseller von Marshall 2017 mit Werbers empörtem Kommentar:

Nach den "Staatsgrenzen" der Ukraine oder Weißrusslands kann man auf Marshalls Karte lange suchen.

Nils Werber, Geopolitik zur Einführung

Tatsächlich ist die vermutlich verkleinert nachgedruckte Karte eher winzig und zudem in verwaschenen Grautönen gehalten. Aber die besagten russischen Grenzen zur Ukraine sind dort ebenso deutlich oder undeutlich erkennbar wie etwa jene zu Finnland oder China oder jene zwischen Deutschland und Polen.

Nach Argumenten gegen Marshall hätte Werber besser in dessen Fortsetzung seines Bestsellers "Die Macht der Geographie" gesucht: Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert, wo er sich geopolitisch natürlich nicht zu Haushofer und Dugin, aber klar zu Mackinder bekennt:

Manche Leute mögen Mackinder nicht, weil er ein Imperialist war und die Bedeutung der Geographie für die Strategie immer im Auge behielt. Aber er war auch ein Anhänger der Demokratie und des Völkerbundes.

Und obwohl er, ohne dies zu beabsichtigen, das Denken deutscher Geopolitiker wie Karl Haushofer beeinflusste, war er über den Aufstieg der Nazis entsetzt. Der Missbrauch seiner Ideen bedeutet nicht, dass seine Analysen irgendwie falsch waren ...

Mackinders Werk erlaubt den Blick auf geographische Realitäten, die man akzeptieren kann, ohne darin irgendetwas zu suchen, was Angriffskriege rechtfertigen würde.

Tim Marshall, Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert

Nils Werber erklärt übrigens in seinem Kapitel "Mittelerde: Ein geopolitisches Exempel" die Geopolitik anhand des Epos "Lord of the Rings" und nebenbei erfahren wir, dass J.R.R. Tolkien genau wie "Halford J. Mackinder ein Oxford-Mann" war7 Auf britische Prominenz greift der deutsche Literatur-Professor auch zurück, wenn er in seinem Junius-Buch Stellung für westliche Außenpolitik gegen Russland nimmt.

Liz Truss als "Habermas in Waffen"

Nicht ganz so stürmisch wie gegen Marshall geht Werber gegen einen anderen weltberühmten Autor vor: Philosoph Jürgen Habermas, den Erben der freudo-marxistischen Frankfurter Schule. Habermas habe in der Vergangenheit gegen den als überholt gesehenen geopolitischen Diskurs polemisiert.

Solche Polemiken, die auf das kriegerische Image der Geopolitik zielten, und für eine friedliche Konfliktlösung zwischen Staaten eintraten, hätten ihn, Werber, geblendet. D.h. sie hätten ihn dazu verführt, vor acht Jahren die russischen Texte etwa Dugins noch nicht ernst zu nehmen, weil das allseits verkündete "Ende der Geopolitik" allzu sehr beeindruckt hätte. 2014 erschien Werbers "Geopolitik"-Bändchen in erster Auflage – noch ohne Ukraine-Kapitel.

Doch die Zeiten für Vernunft- und Diskursphilosophie sind offenbar vorbei, nicht nur für Habermas, und Geopolitik ist mehr denn je "en vogue" (Junius-Verlagstext für Werber). Die "klassische Geopolitik" wird von Werbers Einführung schon durch das Titelbild des Bändchens markiert: Eine Karte aus Haushofers "Wehr-Geopolitik" von 1941, dem Jahr des nazi-deutschen Überfalls auf die Sowjetunion von den baltischen Sowjetrepubliken im Norden über Weißrussland bis zur Ukraine im Süden.

Wenn jetzt, "bei Dugin und Marshall", diese NS-Geopolitik eine "Revitalisierung und Popularisierung" erfahre8, könne man dem ein anders gemeintes (offenbar lobenswertes) Beispiel aktueller Geopolitik entgegenhalten.

Boris Johnsons Außenministerin Liz Truss habe mit Blick auf den russischen Angriffskrieg am 27. April 2022 eine Rede mit dem Titel "The return of geopolitics" gehalten, womit sie aber etwas ganz anderes meine: Einen Paradigmenwechsel im politischen Verständnis der Globalisierung. Wo man vorher ökonomische Chancen gesehen hätte, überall auf dem Globus Ressourcen zu erwerben, würde man jetzt globale Sicherheitsrisiken sehen.9

Globalisierung bedeutet für die Außenministerin einer Atom- und Vetomacht nunmehr: globale militärische Zusammenarbeit gegen Bedrohungen der Freiheit, womit nicht nur die Freiheit des Welthandels, sondern vor allem die Freiheit der souveränen Staaten und die Freiheiten der Bürger gemeint sind ...

Um diese Rechte durchzusetzen, das markiert einen Unterschied zu Habermas, ist militärische, global zu projizierende Macht unumgänglich ...

Nils Werber, Geopolitik zur Einführung

Also Liz Truss als "Habermas in Waffen"? Werber schrieb dies im Mai 2022 vor Boris Johnsons Rücktritt und Truss' glückloser 45-Tage Herrschaft in London. Doch zeigt Werbers Einschätzung, dass der Literatur- und Medienwissenschaftler wenig Distanz zur westlichen Mediendarstellung des Ukrainekriegs und seiner Vorgeschichte hat.

Eine westliche "Doppelmoral" (Kai Ambos), was "die Freiheit der souveränen Staaten und die Freiheiten der Bürger" angeht, interessiert Werber nicht.

Wo unsere Leitmedien objektiv berichten, wo sie eher in Richtung klassischer Kriegspropaganda tendieren, hinterfragt Werber vermutlich eher weniger. Dass inzwischen selbst Guardian-Kolumnist Simon Jenkins warnte: "Liz Truss riskiert, den Krieg in der Ukraine für ihre eigenen Ambitionen anzufachen" und monierte, dies sei wohl der erste Tory-Wahlkampf, der an den Grenzen Russlands ausgetragen würde, dürfte Werber überrascht haben.

Tim Marshall, Gough Whitlam und der Putsch in Canberra

Auch der BBC-Mann Tim Marshall, der Liz Truss freilich lieber (evtl. mit typisch-britisch peinlichem Schweigen) übergeht, hält sich an die westlichen Leitmedien und "-narrationen" und ihre interessengeleiteten Auslassungen.

Sein neueres Buch Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert (2021) enthält z.B. ein Kapitel zu Australien, wohin Marshalls Tante 1972 auswanderte.

Es beschreibt nicht nur geopolitische Aspekte, sondern auch die Geschichte Australiens, allerdings mit einer in (westlichen) Geschichtsbüchern üblichen Auslassung: Der kurzen, aber bedeutsamen Amtszeit von Gough Whitlam (1972-75), der durch einen Justiz-Putsch sein Amt verlor, hinter dem die Britische Krone (vgl. Palace Letters), der MI5 und vielleicht die CIA steckten.

Es war eines der peinlichsten Ereignisse in der Geschichte der westlichen Demokratien, denn der "Regime Change" betraf eine demokratisch gewählte Regierung des eigenen Lagers.

Gough Whitlam (1916-2014) war 1972 aus US-Sicht ein gefährlicher "Sozialist", der in Canberra, auch beeinflusst durch die Vietnamkriegs-Proteste in den USA, eine neue Ära einläutete: Er hob Rassentrennung auf und begann die Aufarbeitung der an den Aborigines begangenen Kolonialverbrechen, er hob die Löhne, förderte Frauenemanzipation und entließ die australische Kolonie Papua-Neuguinea in die Unabhängigkeit.

Aus Angst vor der damals akuten Ölkrise ließ er sich leider mit Indonesiens Diktator Suharto ein, was seine anderen Verdienste aber nicht schmälert. All dies erwähnt Marshall in seinem Kapitel zur History of Australia nicht, obwohl er die Aborigines-Emanzipation dort immerhin beschreibt.

Er erwähnt jedoch die wichtige NSA-Basis Pine Gap, "für Canberra ein wichtiges Faustpfand", deren Sicherung beim Sturz Whitlams für die USA eine Rolle gespielt haben dürfte (was Marshall nicht erwähnt).

In Tim Marshalls Darstellung des Post-Brexit-Großbritanniens als heroischer, wehrhafter Demokratie passt der anti-demokratische Putsch gegen Whitlam denkbar schlecht hinein. Der historisch einmalige Sturz eines Premierministers in Canberra durch den Generalgouvernor der Queen, Sir John Robert Kerr, lässt das stolze Commonwealth schlecht und Australien als "Hinterhof" dastehen – etwa wie Lateinamerika für die USA.

Die Putschisten in Canberra hatten sich des Obersten Richters versichert und kamen mit dem nicht von der australischen Verfassung gedeckten Lawfare-Putsch durch. Geschichtsbücher, so sie den Putsch überhaupt erwähnen, verbrämen diese neokoloniale Intrige gerne als "Australische Verfassungskrise".

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