Gil Ofarims Geständnis führt den Vorverurteilungs-Journalismus vor

Seite 2: Professionelle Nüchternheit?

Und die Medien hätten ihrerseits recherchieren können - ebenfalls in aller Ruhe, was nicht nur meint "mit ausreichend Zeit", sondern auch mit professioneller Nüchternheit.

Doch es dominierte wie so oft die Erregung. Beispielhaft die Süddeutsche Zeitung am 6. Oktober 2021:

Und wieder sind alle fassungslos. Doch bei aller Entsetzlichkeit der Geschehnisse im Leipziger Westin-Hotel: Überraschen darf der antisemitische Vorfall, den der Musiker Gil Ofarim publik gemacht hat, eigentlich niemanden.

So beginnt Gökalp Babayiğit seinen Kommentar kurz nach der Falschbehauptung. Für Zweifel – und mithin Recherche – ist kein Raum.

"Natürlich ist die Empörung vollends berechtigt, die sich noch in der Nacht vor dem Hotel in Leipzig Bahn gebrochen hat", schreibt Babayiğit, stellvertretender Ressortleiter Politik. Und er verweist auf einen weiteren Beitrag Ofarims, in dem dieser zu erkennen gebe, dass er sich die Unterstützung von anderen Gästen gewünscht hätte. Der Autor weiter:

Niemand habe etwas gesagt, als die Hotel-Mitarbeiter ihn aufforderten, seinen Davidstern "wegzupacken". Zivilcourage mag im Angesicht von drohender physischer Gewalt mitunter schwer aufzubringen sein. Dass sich aber offenbar niemand in einer gut gefüllten Lobby bemüßigt fühlt, sich an die Seite eines Opfers von Diskriminierung zu stellen, lässt mangelndes Problembewusstsein vermuten.

Gökalp Babayiğit, SZ

Allerdings nur, wenn sich der Fall so zugetragen hätte, wie von Ofarim behauptet, was nun aber sowohl nach den Ermittlungen als auch dessen eigenem späten Geständnis nicht der Fall war. Eine "gut gefüllte Lobby" und niemand reagiert auf offenen Antisemitismus?

Da hätte man vielleicht erst einmal selbst hellhörig werden können, anstatt die tatsächlich Anwesenden vom Schreibtisch aus der tumben Taubheit zu bezichtigen.

Dass Ofarim nun über seine Lügengeschichte gestolpert ist, hat er natürlich allein zu verantworten. Für die Fallhöhe aber haben die Medien gesorgt, die aus einem zweiminütigen Instagram-Post eine Weltgeschichte gemacht haben. Und aus allem, was dazu Verwertbares angeboten wurde.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird in der aktuellen Berichterstattung mit der Aussage zitiert: "Wir verurteilen das Verhalten von Gil Ofarim." Er fordere Konsequenzen.

Wörtlich heißt es in der Pressemitteilung: "Wir verurteilen das Verhalten von Gil Ofarim. Er muss in jeder Hinsicht die Konsequenzen für seine Lüge tragen."

Konsequenzen hatte der Zentralrat in der Sache schon mal am 5. Oktober 2021 gefordert – damals allerdings noch für den oder die Hotelmitarbeiter. Auch diese Vorverurteilung fand seinerzeit sogleich mediale Resonanz, ohne Verweis auf die in anderen Kontexten gerne angeführte "Unschuldsvermutung".

Dass Lobbyisten und Öffentlichkeitsarbeiter jeden sich bietenden Presserummel für ihre Botschaften nutzen wollen, ist verständlich. Aber dass sich Medien mit einzelnen von ihnen gemein machen oder sie zumindest ohne eigene Recherche kolportieren und daraus Relevanz konstruieren, ist im glimpflichsten Fall ein Trauerspiel.