Gladiatoren des Fußtritts

Die Kommerzialisierung des Fußballs befördert seine Brutalisierung. Der Wettbewerb der Sender um die Ausstrahlungsrechte für die nächste WM mobilisiert Frust & Gewalt auch dort, wo die Gesellschaft sie am wenigsten braucht: bei den Zuschauern

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Gewalt ist das definierende Element des Fußballs. Aus anthropologischer Sicht ist Fußball ein Jagdspiel, das dem Kampf zweier konkurrierender Schimpansen-Gruppen auf ein Beutetier ähnelt.

Im Verhältnis zu Rugby ist Fußball die Light-Version eines Kampfspiels

Das Spiel, als Spiel, hat sich jedoch in zwei Bereiche aufgeteilt, in Kopf und Fuß. Auf der symbolischen Ebene hat sich die Jagd verselbständigt, sie findet im Kopf statt. Und selbst der konkrete physische Kampf - der Kampf der Füße und Körper um den Ball - ist fast so weit formalisiert und regelgebunden wie ein Stück japanisches Kabuki-Theater, weshalb Fußball heute als ein hochkomplexes, non-verbales Ballett der Gewalt erscheint. Dennoch ist das Grundmuster dieses Spiels eher archaischer Natur. Genauso jagen auch heute noch Schimpansenhorden einem roten Colobus-Äffchen hinterher. Das Fußball-"Spiel" ist, unter der Oberfläche, blutiger Ernst.

Das rote Colobus-Äffchen ist dabei ersetzt worden durch einen luftgefüllten, prallen Leder-Ball. In der Tat, sogar der Ball hat sich in einer Art Potenzsteigerung des Symbolischen erst unlängst von den letzten Resten seiner tierischen Abstammung getrennt. Er entledigte sich seiner echt-ledernen Hülle, es entmaterialisierte sich, und besteht nunmehr nur noch aus einem komplizierten Kunststoffgewebe. Doch noch immer wird ihm nachgesetzt, wie einem lebendigen Tier: als handele es sich nicht um einen künstlichen, luftgefüllten Ball, sondern um einen animalischen, lebensgefüllten Balg. Und es geht "um sein Leben". Es geht darum, ihn zu "töten". Nicht etwa dadurch, dass man ihm konkret die Luft rauslässt. Das wäre zu niedrig gegriffen, würde dem hohen intellektuellen Anspruch des Spiels nicht gerecht. Die Seele des Balls ist auf der symbolischen Ebene angesiedelt. Sie kann daher auch nur in einem abstrakten Nirwana erlöst werden. Und wieder geboren und wieder getötet werden, in einem immer neuen Kreislauf. Erst durch den Torschuss wird der Ball vom Diesseits ins Jenseits befördert, erst durch den Tod auf der Gegenseite gelangt die Seele des Balls in den Besitz des diesseitigen Teams. Das ist die symbolische und zugleich atavistische Komponente des Spiels.

Da der Ball, anders als das Colobus-Äffchen, kein eigenes Leben besitzt, wird ihm die Bewegung künstlich eingepflanzt, durch die Fußtritte der widerstreitenden Teams. Fußball wird damit ein Jagd- und zugleich auch ein Kriegsspiel. Diese beiden Ebenen in der Schwebe zu halten, ist das Schwierige, aber auch der Reiz des Spiels. Interessant ist übrigens, dass neben dem Fußball auch das Geld bereits in seiner Urform beim Jagdverhalten der Schimpansen anzutreffen ist. Das Fleisch des getöteten Tieres dient der Jägergruppe dazu, innerhalb der Gruppe eine Hierarchie aufzubauen und zu erhalten. Wer oben steht bekommt Fleisch, wer ganz unten steht (alle Weibchen) müssen das Fleisch gegen sexuelle Gefälligkeiten tauschen. Der Kommerz gehört also von Anfang an zum Programm des "Fußballs" dazu - heute natürlich auf der symbolischen Ebene, denn das Fleisch hat sich ebenfalls, wie eine katholische Hostie, entmaterialisiert - zur Münze, zum Papier, zum reinen Bankgeld. Auf der realen Ebene kollidieren diese Sphären - Spiel und Geld --aber wieder, indem der Kommerz die Spieler bereits außerhalb des Spielfelds in millionschwere Alpha-Männchen und leichtgewichtige Jung-Bullen hierarchisiert, deren Karriere durch ein einziges Foul zunichte gemacht werden kann. Das Spiel selbst kann sich von solchen Vorgaben auf dem konkreten Spielfeld kaum noch freimachen.

Dazu kommt: das spezifische Ambiente des Fußballspiels ist durchgängig männlich geprägt. Schon bei den Schimpansen sind die Jagdtrupps in aller Regel aus rein männlichen Teilnehmern zusammengesetzt. Selten verirrt sich einmal ein einzelnes Weibchen in ihre Reihen. Jäger verbinden sich auch beim Menschen in ausschließlich männlichen Gruppen. Insofern als Jäger erfolgreicher waren, wenn sie kollektiv und kooperativ statt einzeln auf die Jagd gingen, ist es möglich, dass es auch heute noch eine genetische Komponente beim Jagdverhalten gibt, die Männer in bestimmter Weise bevorzugt. Männer in Gruppen zeigen jedenfalls ein deutlich anderes Verhalten als Frauen. Kriegerische und jägerische Verhaltensweisen äußern sich bevorzugt in Männergruppen. Auch der Ursprung der Politik unserer Tage liegt vermutlich im Territorialdenken eben solcher Gruppen.

Das Phänomen der "Sympathiegruppe"

Das Fußball-Team unterscheidet sich in seiner rein männlichen Exklusivität nicht von einer der zahlreichen, einzig Männern vorbehaltenen Geheimgesellschaften, die es überall auf der Welt gibt. Dazu gehört ein weiteres Detail, das aus der Anthropologie ebenso wie aus der Primatologie bekannt ist: Das Phänomen der "Sympathiegruppe". Es handelt sich um jene Gruppe, mit der ein einzelner regelmäßige, intime Kontakte pflegt. Ein anderes Maß zur Bestimmung der Sympathiegruppe ist jene Menschenmenge, mit der man sich durch bloßen Augenkontakt untereinander verständigen kann. Der bloße Augenkontakt ist allein schon ein Indiz für das hohe Alter dieser archaischen Tiefenstruktur, die in vorsprachliche Epochen unserer Entwicklung zurückreicht. Bei den meisten Berechnungen der Sympathiegruppe kommt denn auch mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder eine "Urhorde" mit zehn bis 15 Mitgliedern heraus. Das entspricht dem engeren Kreis in so manchem Parlament. Oder der Anzahl der heiligen Apostel. Und natürlich auch der Mitgliederzahl in einem Fußballteam. Männliches Verhalten in Gruppen wird von drei Faktoren geprägt. Erstens: Männer wählen die Mitglieder ihrer Gruppe wenn möglich nach Kriterien aus, die denen ihrer Partnerwahl im Sexualbereich durchaus gleichkommen. Zweitens: Die so geschlossenen Verbindungen erzeugen einen beträchtlichen Überschuss an Emotionen. Drittens: Männer extrahieren wichtige Arten der Befriedigung aus männlichen Beziehungen und zwischenmännlichen Interaktionen, die sie in ähnlicher Form aus Beziehungen mit Frauen nicht erhalten.

Männer in Fußball-Teams sind zu Freuden und Trauer-Bekundungen fähig - zu spontanen Küssen, Umarmungen, und Quasi-Begattungssprüngen, aber auch zu Tränen und Wutausbrüchen - die sie sich in ihren Beziehungen zu Frauen oft peinlichst genau verkneifen. Doch die Emotionalität des Fußballspiels steht außer Frage. Der ins symbolische erhobene Akt der Gewalttätigkeiten auf dem Spielfeld wird begleitet von einem Chor emotional aufgewühlter Zuschauer. Die kollektive Erregung bricht sich Bahn in Gesängen, in wortlosen Schreien und rhythmischen Klatsch- und Trommelgeräuschen, in kriegerischen Aktionen, die sich auf das Spielfeld selbst aber auch jenseits des Spielgeschehens ergießen können. Wie bei den Kriegern der Massai, Maori oder Hochland-Schotten steigern Gesänge und Klub-Hymnen die Intensität des Geschehens.

Zugleich ist die Emotionalität auf dem Spielfeld durch den symbolischen Akt "aufgehoben", der Fußballspieler ist seltsam unemotional, sachlich. Ein verletzter Mitspieler wird ihn nicht aus lauter Sorge oder Mitgefühl davon abhalten, das Spiel fortzusetzen. Ähnlich wie der Leser eines Romans, ist auch der Fußballspieler in einem Schwebezustand gefangen. Er befindet sich in einer fiktiven Welt, das Zweifeln an der Realität seines Traums ist zwischenzeitlich nicht angesagt. Der Fußballspieler befindet sich in einem fast prä-verbalen Zustand, in einer Traumwelt, die es ihm erlaubt, noch einmal ins Paradies der Primaten zurückzukehren. Doch die Balance kann leicht kippen, sobald das Spiel in die verbale Ebene rutscht. Das erste Wort reicht oft schon zu einer Maulschelle. Das "Foul" kündigt den Einbruch der Gewalt in die Realität an.

Kopfjäger

Daher ist der Hooligan so etwas wie der "Gorilla" des Fußballs. Ihm genügt die stellvertretend erlebte symbolische Gewalt nicht; er will selber physisch daran teilnehmen. Er will mitkämpfen. Das "verkopfte", abstrakte Element des Fußballs will er am liebsten zertreten, durch konkreten eigenen körperlichen Kampf ersetzen. Er wird, in der Fortsetzung der Spiel-Fiktion, real zum KOPFJÄGER.

Das erinnert uns daran, dass der Fußball, als Ball, letzten Endes eine weit größere Ähnlichkeit mit einem Kopf als mit einem Colobus-Äffchen aufweist. Der Fußball ist - als Spielbegriff - ebenso auch ein KOPF-Ball. Nicht von ungefähr besitzt er die gleiche Größe wie ein menschlicher Kopf. Die atavistische Komponente des Spiels wird uns hierbei von ECHTEN ehemaligen KOPF-Jägern gezeigt, etwa von den SALU MAMBI auf Sulawesi (Celebes), die heute ihre Traditionen auf symbolischer Ebene fortsetzen und weiterpflegen, indem sie sich mit der Erbeutung einer gegnerischen KOKOSNUSS zufrieden geben, wo früher der Kopf eines Mannes her musste. Der symbolische Transfer vom Kopf zum Fußball entspricht dem vom Kopf zur Kokosnuss. Der Hooligan setzt dagegen die anti-zivilisatorische Umkehrung hin zum Kopfjäger: so wie sie real auch im "Balkan Fußball" während des Jugoslawien-Krieges vorkam. Nicht allein, dass Fußball-Felder bevorzugt als Orte der Einsperrung und der Massaker benutzt wurden, dass Massengräber in der Nähe von Fußball-Feldern gefunden wurden: auch mit den Köpfen getöteter Männer wurde ganz konkret Fußball gespielt. Und wer sich an die Europameisterschaften des vergangenen Jahres erinnert, weiß, dass gerade das jugoslawische Team auf der Ebene des Fußballs ein "Kriegsspiel" gegen die restliche "Nato" versuchte - mit gehobener Tret- und Foul-Freude gegen die jeweiligen Spieler der gegenerischen Teams.

Als Kampsport gleicht der Fußball mehr oder weniger dem Rugby oder American Football. Auf der konkreten physischen Seite ist Fußball jedoch die Light-Version unter ihnen allen. Rugby-Spieler wirken schon äußerlich wie Troglodyten, wie schwergewichtige Ringkämpfer. Fußball dagegen ist leichtfüßig, grazil, laufstark. Es ist der einzige Team-Sport dieser Art, der (und das wäre eine konkrete Chance zur Rettung dieser Sportart!) auch in einer femininen Version denkbar ist. (Weswegen er von Rugby- und Football-Kommentatoren gern als kein echter Männer-Sport, sondern als ein Spiel für "Sissies", für Schwächlinge und Schwuchteln, abgetan wird.)

Doch der Fußball mit weiblichen Teams wäre vermutlich ungeeignet als Mittel zur Massenunterhaltung. Frauen-Fußball ist jedenfalls keinem TV-Sender auch nur fünf Minuten wert, geschweige denn die 90 Minuten einer Spielübertragung. Das liegt wohl zum Teil auch daran, dass Frauen ohnehin seltener an Team-Sport-Arten interessiert sind. Auch beim Fußball sind sie weit häufiger auf den Zuschauertribünen zu finden als auf dem Spielfeld. Wenn Frauen Team-Sport ausüben, wählen sie in der Regel die "weichen" Optionen - Soft Ball, Netball.

Gleichwohl geht der Trend in der modernen Gesellschaft dahin, den Frauen alle Domänen der Männer zu öffnen. Ihre Teilnahme an militärischen Übungen ist ebenso selbstverständlich wie bei Weltraumflügen. Es gibt sogar weibliche Jägerinnen und selbst die ehedem rein männlichen Wiener Philharmoniker haben Frauen in ihre Reihen zugelassen. Im Fußball allerdings scheint das gemischte Team noch weiterhin in größter Ferne. Im Gegenteil: die Brutalisierung des Fußballs schreitet weiter voran. Die Vorgaben zum gewalttätigen Gladiatoren-Sport kommen nicht nur vom US-Football, der mit Vorliebe "Killer"-Typen (O. J. Simpson) als Vorbilder preist. Der Fußball lernt auch von den Idealisierungen der Gewalt im Kino ("Gladiators") und besonders im TV, wo beliebig grausame Wrestling-Shows die Quoten schreiben, denen der Fußball hinterherlaufen muss.