Globale Mobilität
Deutschland hat längst die USA als Einwanderungsland überflügelt
Ein erfolgreicher Politiker muss nicht unbedingt ein begnadeter Redner sein, wie an Bayerns Ministerpräsidenten Edmund Stoiber zu sehen ist, aber er sollte gut verdrängen können. Nicht besondere Fähigkeiten der Wahrnehmung und Analyse der Realität sind ausschlaggebend für eine erfolgreiche Polit-Karriere, sondern deren stammtisch-konforme Umdeutung. Bestes Beispiel: die Einwanderung. Ausgerechnet Deutschland, gelegen auf einem Fleckchen Erde im Herzen Europas, auf dem seit über 2000 Jahren ein einziges Kommen-und-Gehen herrscht, soll kein Einwanderungsland sein. Wieder und immer wieder haben Politiker der beiden so genannten Volksparteien diese Leerformel in den letzten Jahrzehnten verkündet, wenn immer eine gezielte Integrationspolitik gefordert wurde, zu der natürlich auch die rechtliche Gleichstellung gehört.
Jetzt haben ihnen die Bundesstatistiker mal ins Stammbuch geschrieben, wie die Realität in Mitteleuropa aussieht: 15,3 Millionen der hiesigen Einwohner sind Einwanderer oder Kinder von Einwanderern, hat der jüngste Mikrozensus ergeben (irgendein übereifriger Sprachpanscher hat für diese Gruppe den sperrigen Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ geprägt). Das sind 19 Prozent der deutschen Bevölkerung.
Auf einen so hohen Anteil kommt vermutlich nicht einmal das klassische Einwanderungsland USA. Die US-Statistiker zählten im Jahre 2000 11,1 Prozent der dortigen Einwohner zu den „foreign born“. Damit werden in den USA alle bezeichnet, die bei Geburt nicht die US-Staatsbürgerschaft hatten. Nicht mit gezählt werden also die Kinder derjenigen Einwanderer, die bereits die US-Staatsbürgerschaft erworben haben, weshalb die Kategorie „foreign born“ nur bedingt mit dem deutschen „Migrationshintergrund“ zu vergleichen ist. 40,5 Prozent der „foreign born“ hat inzwischen die US-Staatsbürgerschaft, während in Deutschland die Gruppe mit „Migrationshintergrund“ zu etwa 52 Prozent aus Deutschen besteht.
Bei der Größe des Bevölkerungsanteils wundert es eigentlich, weshalb die hiesigen Einwanderer sich die immer neuen Angriffe (siehe zum Beispiel: Einbürgerung erschwert) auf ihre Rechte und ihre Stellung so widerspruchslos gefallen lassen. Erstaunlich, dass sie sich nicht längst wie in den USA (Ein Tag ohne Immigranten) eine starke Lobby geschaffen haben. Die Antwort liegt wahrscheinlich in der viel größeren Heterogenität der hiesigen Einwanderer. Während in den USA rund die Hälfte der „foreign born“ Lateinamerikaner sind, die in der Regel auch über Landesgrenzen hinweg – unter anderem wegen der gemeinsamen Sprache – ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl haben, verteilen sich die hiesigen Einwanderer auf wesentlich mehr Herkunftsländer.
Die einzelnen Communities haben oft sehr wenig miteinander gemein, und die größte, die der Türken und türkischen Kurden, zerfallen selbst in zahllose Sub-Kosmen. Unter anderem sind schließlich unter den 15,3 Millionen Einwanderern und ihren Nachkommen auch 1,5 Millionen Kinder mit „einseitigem Migrationshintergrund“, wie sich die Statistiker ausdrücken. Im Klartext: Diese Kinder wurden in Ehen geboren, in denen ein Elternteil „Eingeborener“ und der andere entweder eingebürgert, Spätaussiedler oder „Ausländer“. Letzteres wären die binationalen Ehen, von es inzwischen fast eine Million gibt.
Angesichts dieser Vielfältigkeit, die eine gemeinsame Lobby bisher verhindert, ist zu befürchten, dass sich die Politiker der großen Parteien auch künftig den Realitäten verschließen können, in dem sie weiter Integration fordernd, deren Voraussetzungen verweigern (Nicht reinkommen, nur gucken!) um den Stammtisch zu bedienen und zugleich soziale Probleme zu ethnisieren (Ausbürgerung der sozialen Probleme). Die Ghetto-Kids als Prügelknaben, mit denen sich wunderschön von allerlei eigenen Versäumnissen in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik ablenken lässt. Erfreulich ist immerhin, dass die Zahl der Einwanderer unter den Parlamentsabgeordneten der verschiedenen Ebenen langsam zunimmt, aber ein nennenswerter, halbwegs einheitlicher Stimmenblock der Eingebürgerten und Einwanderer-Nachkommen, der allzu aggressive Ausgrenzer und Abschieber bei den Wahlen abstrafen würde, ist bisher nicht in Sicht.
Aber vielleicht ist das ja nur eine Frage der Zeit. Unter den Einwanderern ist nämlich die Zahl der Geburten seit vielen Jahren konstant. In der eingeborenen Bevölkerung ist sie hingegen stark rückläufig. Inzwischen kommt jedes dritte Baby aus einer Familie, in der mindestens ein Elternteil eingewandert ist. Hält der gegenwärtige Trend an, wird das Verhältnis in nur zehn Jahren 1:1 betragen. Angesichts dieser Zahlen auf Repression statt Integration zu setzen, wie es die Linie der großen Koalition zu sein scheint, ist schlechtweg selbstmörderischer Wahnsinn.
Neue Ära der Mobilität
Ein Blick über den Tellerrand zeigt zudem, wie absurd die deutsche und europäische Abschottungspolitik ist. Am Dienstag stellte in New York UN-Generalsekretär Kofi Annan einen Migrationsbericht vor, der im September der Generalversammlung als Arbeitsunterlage dienen wird. Das höchste Gremium der Vereinten Nationen soll sich ausführlich des Themas annehmen, und Annan wünscht sich, dass daraus ein Mechanismus regelmäßiger Konsultationen erwächst, sozusagen ein „erster Fahrplan für diese neue Ära der Mobilität“, wie der Generalsekretär vor den Botschaftern der Mitgliedsländer formulierte.
Annan strich nämlich in seinem Bericht die große Bedeutung heraus, die die Migration für die Entwicklung spielt. Heute leben 191 Millionen Menschen außerhalb ihrer Heimatländer. Die Zahl nimmt offensichtlich rasch zu. Vor vier Jahren war in einem Bericht der UNO von 175 Millionen Migranten die Rede. Seinerzeit hieß es, dass sich diese Zahl seit 1975 mehr als verdoppelt habe.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Migranten wächst ebenfalls. In den Zielländern tragen sie zum Teil erheblich zur Wirtschaft bei. In Extremfällen wie einigen Emiraten am persischen Golf, besteht die arbeitende Bevölkerung zum überwiegenden Teil aus (weitgehend rechtlosen) Fremden. In anderen Ländern wie Hongkong oder Singapur wird einer ganzen Generation von Mittelstandskindern der Hintern von einer Heerschar philippinischer und indonesischer Haushälterinnen abgewischt. Nicht wenige davon sind ausgebildete Lehrerinnen, wie auch sonst der Anteil der Hochqualifizierten unter den Migranten nicht gerade klein ist. Viele Entwicklungsländer geben 30 und mehr Prozent ihrer Akademiker an die Industriestaaten ab. Die armen Länder bezahlen die Ausbildung, während die reichen von der Arbeit der eingewanderten Spezialisten profitieren. Von 1990 bis 2000 hat sich in den Industriestaaten laut Annans Bericht die Zahl der Migranten mit akademischer Ausbildung von 12 Millionen auf 20 Millionen erhöht, wobei allerdings viele auch aus anderen Industriestaaten kommen.
Stark zugenommen hat auch die Bedeutung der Migration für die Herkunftsländer. Viele Migranten schicken einen Teil ihres Einkommens zurück, unterstützen entweder Familienangehörige oder investieren ihn in ihren Herkunftsgemeinden. 2004 beliefen sich diese Überweisungen auf 230 Milliarden US-Dollar. Das war mehr als doppelt so viel wie zehn Jahre zuvor. Diese Zahlungen entwickeln sich also zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor und könnten helfen, das Gefälle zwischen Nord und Süd abzuflachen (Brain Drain und Brain Waste).
So gesehen erscheinen die menschlichen Dramen, die sich derzeit vor den Küsten der Kanarischen Inseln abspielen, in einem anderen Licht. An den spanischen Küsten stranden auch die Hoffnungen ganzer Dorfgemeinschaften und Großfamilien, die zusammengelegt haben, um einen der ihren zum Devisenverdienen in die Ferne zu schicken. Oder mit anderen Worten: Europas Abschottung ist nicht nur inhuman und oft mörderisch, sondern sie behindert auch die wirtschaftliche Entwicklung vor allem vieler afrikanischer Staaten.
Das geht so weit, dass es auch für Geschäftsreisende, sofern sie aus einem besonders armen Land kommen, für das die EU-Visabedingungen extra streng sind, erhebliche Schwierigkeiten gibt. Die Gruppe der am wenigsten entwickelten Staaten fordert daher von den Industriestaaten schon seit über sieben Jahren in den Verhandlungen der Welthandelsorganisationen WTO immer wieder Erleichterungen im Reiseverkehr, stößt damit aber beim Club der Reichen regelmäßig auf taube Ohren. Für ihre Exportwaren würden die Industriestaaten hingegen gerne noch die letzte Grenze einreißen.
Kofi Annan – ganz Diplomat und um Ausgleich bemühter Generalsekretär – hielt sich in seiner Rede am Dienstag mit direkter Kritik an diesen Zuständen zurück, sprach aber zumindest die meist rechtlose Situation der Migranten an. Von den Diskussionen der Generalversammlung und des von ihm vorgeschlagenen permanenten Migrationsforums verspricht er sich vor allem Erleichterungen für den Zahlungsverkehr, damit Migration noch besser zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen kann. Unter anderem weist er auch daraufhin, dass Migranten oft große Schwierigkeiten haben ihre Rentenansprüche mit in die Heimatländer zu nehmen.