Größenwahn und Geopolitik

Ein parlamentarischer Ausschuss und eine Enquete-Kommission sollen bis Sommer 2024 das Afghanistan-Desaster untersuchen. Mit "Hybris am Hindukusch" von Michael Lüders ist schon heute zu verstehen, wie und warum der Westen in Afghanistan scheiterte.

Ganze zwanzig Jahre waren deutsche Soldaten im US-geführten Krieg in Afghanistan im Einsatz. Der Bundestag soll mit einem Untersuchungsausschuss und einer Enquete-Kommission die militärische Mission aufarbeiten, die im vergangenen Sommer endete, wie sie im Oktober 2001 begann – mit den islamistischen Taliban an der Macht in Kabul und im Land.

Die Abgeordneten in Berlin haben ihre Arbeit noch nicht richtig aufgenommen, da berichtet der britische Sender BBC über Kriegsverbrechen der Nato-Truppen in Afghanistan. Britische Militärs der Spezialeinheit SAS haben während ihres Einsatzes von Ende 2010 bis zum Frühjahr 2011 mindestens 54 gefangene und unbewaffnete Afghanen in der Provinz Helmand erschossen.

"Kill or Capture"

Die Morde sollen im Rahmen sogenannter "Kill or Capture Raids" stattgefunden haben, berüchtigten nächtlichen Razzien gegen mutmaßliche Taliban-Kommandeure und Bombenbauer. Unbewaffnete wurden dabei "kaltblütig" erschossen, berichtet BBC in der Sendung Panorma über die Ergebnisse vierjähriger Recherchen.

Den erschossenen Afghanen wurden Waffen untergeschoben, um die Exekutionen zu rechtfertigen. Hochrangige britische Offiziere haben es unterlassen, Berichte und Warnungen über das Vorgehen der Todesschwadron an die Militärpolizei weiterzugeben.

Laut BBC war der damalige Kommandeur der britischen Spezialkräfte, General Mark Carleton-Smith, über die Massaker informiert, hielt aber Belege zurück, als die Royal Military Police 2019 eine Untersuchung einleitete. Carleton-Smith war von Juni 2018 bis Juni 2022 Chef des Generalstabs und damit ranghöchster Militär der britischen Armee. Das britische Verteidigungsministerium weist die von der BBC erhobenen Anschuldigungen zurück.

Das Verhalten britischer Soldaten während des Afghanistan-Einsatzes sei bereits von unabhängigen Ermittlern untersucht worden, die keine ausreichenden Beweise für eine Strafverfolgung gefunden hätten. "Etwas anderes anzudeuten, ist unverantwortlich, inkorrekt und gefährdet unsere tapferen Angehörigen der Streitkräfte, sowohl auf dem Feld als auch bezüglich ihres Rufes", so das Verteidigungsministerium in London. Sollten aber "neue Beweise ans Licht kommen", werde "die Militärpolizei jegliche Vorwürfe prüfen".

Kriegsverbrechen von Nato-Truppen

Die BBC erinnert in daran, dass auch Truppen aus anderen Ländern während des Afghanistan-Krieges derartige Verbrechen begangen haben, etwa Spezialkräfte aus Afghanistan. So hat eine mehrjährige Untersuchung des Militärs in Down Under nachgewiesen, dass Soldaten der Special Air Service Regiment (SASR) gefangene afghanische Kämpfer, aber auch wehrlose Zivilisten exekutiert und ihnen danach Waffen untergeschoben hat, um die Erschießungen zu rechtfertigen.

Als der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Ermittlungen gegen US-Soldaten wegen Kriegsverbrechen aufnehmen wollte, wurde das von der Regierung in Washington vereitelt. Gegen Chefanklägerin Fatou Bensouda wurden von der US-Administration sogar Sanktionen verhängt.

Ampel-Koalition und Union haben im Bundestag wohlweislich verhindert, dass der mit Ermittlungsrechten ausgestattete Untersuchungsausschuss den Afghanistan-Krieg umfassend unter die Lupe nimmt, mithin auch Kriegsverbrechen der Nato-Truppen.

Das parlamentarische Gremium unter Vorsitz von Ralf Stegner (SPD) soll lediglich die Umstände und Verantwortlichkeiten rund um den Abzug der Bundeswehr im Rahmen des zum Desaster gewordenen Rückzugs der US-geführten Allianz aus Afghanistan zwischen Februar 2020 und September 2021 aufklären.

Lehren ziehen

Es gilt, so der Auftrag, Lehren aus dem dramatischen Evakuierungseinsatz am Flughafen in Kabul zu ziehen – für künftige Kriege, die so natürlich nicht genannt werden dürfen, sondern mit "Mission" so euphemistisch umschrieben sind, wie anderenorts Krieg "Sonderoperation" geheißen wird. Es soll auch nicht darum gehen, Schuldige zu benennen.

Die Enquete-Kommission hat dagegen die Aufgabe, unter wissenschaftlicher Begleitung "aus dem mehr als 20-jährigen, vielfältigen und in das internationale Engagement eingebetteten Einsatz Deutschlands in Afghanistan Lehren für das künftige militärische und zivile internationale Engagement Deutschlands und den vernetzten Ansatz zu ziehen".

Der Kommission ohne Kompetenz unter Vorsitz des SPD-Abgeordneten Michael Müller, vormals Regierender Bürgermeister Berlins, sollen zwölf Mitglieder des Deutschen Bundestages und zwölf Sachverständige angehören. Die Fraktionen der SPD und Union benennen jeweils drei Mitglieder, die Fraktionen der Grünen und der FDP jeweils zwei und die Fraktionen von AfD und Die Linke jeweils ein Mitglied.

Die Sachverständigen sollen im Einvernehmen der Fraktionen benannt werden. Kommt dieses nicht zustande, benennen sie die Fraktionen nach demselben Schlüssel. Kritiker des Krieges sind von vorneherein in der Außenseiterposition.

Eine schonungslose Bilanz

Man kann etwa gespannt sein, ob der Publizist und Afghanistan-Kenner Michael Lüders im Bundestag gehört werden wird. Mit Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte (C.H. Beck) legt er eine schonungslose Bilanz von 20 Jahren Nato-Krieg vor, die wie seine anderen Aufklärungsbücher über westliche Interventions- und Geopolitik, darunter "Wer den Wind sät", "Die den Sturm ernten", Armageddon im Orient" und "Die scheinheilige Supermacht", zu einem Bestseller avanciert ist – obwohl, oder wahrscheinlich weil der Autor ob seiner schonungslosen wie präzisen Kritik in die großen Talkshows nicht mehr eingeladen und von den Mainstream-Medien kaum mehr rezensiert wird.

Es war "keine gute Idee, in Afghanistan einzumarschieren", resümiert Lüders. "Dagegen sprechen die Geografie und historische Fakten. Im 19. Jahrhundert erlitten die Briten dort die vielleicht größte Niederlage ihrer Kolonialgeschichte. In den 1980er Jahren scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, das Land zu unterwerfen. Diese selbst verschuldete Niederlage trug zu ihrem Untergang bei.

Doch die USA und ihre Verbündeten haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Ohne Plan und klare Ziele besetzten sie 2001 Afghanistan. Sie finanzierten ein korruptes Regime in Kabul, während Tausende Zivilisten bei Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien starben. Ein Land verändern zu wollen, ohne es zu verstehen – das ist Größenwahn."


Michael Lüders
Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte

C.H.Beck, 205 Seiten, 14,95 Euro
ISBN: ‎ 978-3406784903


Hybris am Hindukusch deckt die vielen Kriegslügen auf und beschreibt Kriegsverbrechen bis an die Schmerzgrenzen, die blutigen Henker, die von der Nato zu Helfershelfern gemacht wurden, die Warlords, die Waffen und Wirtschaftshilfe ohne Ende bekommen haben.

Man muss das alles wissen wollen, um zu verstehen, warum die USA mitsamt der Nato und der Bundeswehr als Besatzer und nicht als Befreier wahrgenommen wurden, sowie man urbane Zentren verlassen hat. Allein die USA haben in 20 Jahren Krieg mehr als 2.000 Milliarden Dollar ausgegeben, und doch sind die Taliban wieder an der Macht.

Wer Lüders liest, weiß, warum. Viele heute Russland vorgeworfene Verbrechen finden sich im Nato-Krieg am Hindukusch. Putin ist nicht der Erste, der über atomare Zerstörung spekuliert.

Es war die Regierung des damaligen US-Präsidenten George W. Bush, die als Rache für die Terroranschläge vom 11. September 2001 ernsthaft den Einsatz von Nuklearwaffen in Afghanistan erwogen hat, erinnert Lüders:

Weniger humanitäre Erwägungen als vielmehr die Sorge vor den unkalkulierbaren Folgen eines Atombomben-Abwurfes in der unmittelbaren Nachbarschaft Russlands und Chinas dürften zu einer Neubewertung geführt haben.

Für den späteren US-Präsidenten Donald Trump war Afghanistan "wenig mehr als ein shithole country", das ideale Bombenabwurf-Terrain.