Hat Deutschland den Anschluss an die Zukunft verloren?
Der Standort Deutschland verliert an Glanz, Probleme türmen sich auf. Wie steht es um die Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit der Nation? Ein Kommentar.
"Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht" – diese Passage aus Heinrich Heines "Nachtgedanken" dürfte vielen Menschen in der Bundesrepublik aus der Schulzeit bekannt sein. Doch für viele ist es nicht nur ein Stück Literatur, sondern bitterer Ernst, wenn sie an die aktuelle Lage des Landes denken.
Deutschlands Wirtschaftskrise: Mehr als nur ein Nachtgedanken
Deutschland, die industrielle Supermacht Europas, ist angeschlagen und wird nur schwer wieder auf die Beine kommen. Ihre Tage seien gezählt, schrieb der Finanzdienst Bloomberg bereits im Februar. Die jüngsten Konjunkturprognosen unterstreichen dieses Urteil.
Die Grundpfeiler der deutschen Industrie seien wie Dominosteine umgefallen, heißt es weiter. Die USA entfernten sich immer weiter vom alten Kontinent und würden zunehmend zum Konkurrenten bei grünen Investitionen.
Energiekrise und Industrie: Deutschlands Kampf um Wettbewerbsfähigkeit
Auch China nehme die Warenströme aus Deutschland nicht mehr unbegrenzt auf, sondern versorge die Märkte zunehmend selbst. Der Ausfall der Energielieferungen aus Russland habe der deutschen Wirtschaft den letzten Schlag versetzt.
Wie hilflos die Bundesregierung in dieser Situation agiert, zeigte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) jetzt bei einem Vortrag an der Columbia University in New York. "Ich sehe nicht, dass die USA auf dem Weg zur Klimaneutralität sind", sagte er. Er beklagte auch, dass die massiven Investitionen der USA in grüne Technologien zulasten der europäischen Wirtschaft gingen.
Die Illusion transatlantischer Wirtschaftsfreundschaft
Was hier aus Habeck spricht, ist die Illusion, dass die transatlantische Freundschaft sich auch auf die Wirtschaft erstreckt. Also ein bisschen Bitten und Betteln – und immer die Hoffnung, mit moralisierenden Worten ein Umdenken zu erreichen. Doch der Glaube an solche Märchen ist nicht auf Habeck beschränkt.
Die Biden-Administration hat mit ihrer Politik längst deutlich gemacht, dass sie der "America First"-Politik von Donald Trump folgt und sie nur mit weniger Getöse betreibt. Und sie hat damit Erfolg, denn Wirtschaft folgt weniger moralischen Prinzipien als Preisen und Gewinnen.
Das gehört auch in Deutschland zum Allgemeinwissen – und gerade deshalb wirkt die deutsche Wirtschaftspolitik besonders bitter, weil sie nicht auf Eigeninteressen zu beruhen scheint.
Verlorene Wettbewerbsvorteile: Deutschlands Industrie in der Krise
Die Folge: Als das billige Erdgas aus Russland ausblieb, verlor die chemische Industrie einen Wettbewerbsvorteil, der durch Gas aus den USA nicht mehr aufzuholen ist. Inzwischen plant jedes zehnte Unternehmen der Branche, Produktionsprozesse in Deutschland dauerhaft stillzulegen.
Hohe Energiepreise treiben Industriebetriebe in Scharen ins Ausland. Selbst Unternehmen wie Hersteller von Solaranlagen oder Batterien, die für den ökologischen Umbau der Wirtschaft gebraucht werden, verlagern ihre Produktion lieber in die USA oder bauen sie gleich dort auf. Ein industrieller Abschwung in kleinen Schritten, wie Bloomberg es nennt.
Die Deutsche Bundesbank hat die These einer umfassenden Deindustrialisierung Deutschlands zurückgewiesen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass selbst der Mittelstand zunehmend unter Druck gerät.
Mittelstandsfrustration in Deutschland: Bürokratie und hohe Kreditkosten
Unter den rund drei Millionen Familienunternehmern in Deutschland wachse die Frustration, heißt es in einem aktuellen Bericht von Bloomberg. Hohe Kreditkosten und eine ausufernde Bürokratie machten Investitionen immer schwieriger. In dem Bericht heißt es weiter:
Der deutsche Mittelstand hat sich weltweit einen Ruf für viele hochspezialisierte Unternehmen erworben, die über das ganze Land verteilt sind und oft als Hidden Champions bezeichnet werden. Traditionell zogen es die Eigentümer vor, ihre Unternehmen innerhalb der Familie weiterzugeben und zogen einen Verkauf nur in Betracht, wenn sie dazu gezwungen waren.
Doch inzwischen stehen immer mehr Unternehmen zum Verkauf, und bei immer mehr Unternehmern keimen Zweifel, ob es sich noch lohnt, in Deutschland zu arbeiten. Deutlich wird dies am Wechsel der Firmeninhaber.
Bis 2027 steht er bei rund 125.000 kleinen und mittleren Unternehmen bevor. Nach einer Schätzung der staatlichen Förderbank KfW haben drei Viertel von ihnen Probleme, einen Nachfolger zu finden, heißt es bei Bloomberg. Wie es mit dem Mittelstand weitergeht, ist unklar.
Investition in Bildung: Die vernachlässigte Priorität der Bundesregierung
Neben der ausufernden Bürokratie hat Deutschland mit weiteren hausgemachten Problemen zu kämpfen. Einst war das deutsche Bildungssystem eine Stärke – heute sind die Schulen marode und Kinder und Jugendliche hinken im Bildungsvergleich mit Gleichaltrigen aus anderen Ländern hinterher.
Grundlegende Kenntnisse, etwa in Mathematik, fehlen, was sich auch auf die künftige Wirtschaftsleistung auswirkt. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten die nachlassenden Rechenfähigkeiten bis zu 14 Billionen Euro an Wirtschaftsleistung kosten, schätzt das Münchner Ifo-Institut.
Die Bundesregierung könnte das Bildungssystem reformieren und die notwendigen Mittel bereitstellen – wenn sie denn wollte. Dafür müsste sie aber wohl andere Haushaltsposten überdenken, etwa die Milliardengeschenke an andere Staaten. Doch die Prioritäten der Bundesregierung sind klar – und sie liegen nicht im Bildungssystem.
Heinrich Heines "Nachtgedanken" endeten mit einem Lichtblick: "Gottlob! durch meine Fenster bricht / Französisch heitres Tageslicht; / Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen, / Und lächelt fort die deutschen Sorgen." Wie die Nacht wohl für die meisten Deutschen enden wird?
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