"Hat Scheiße Erfolg, ist Scheiße gut"

Seite 2: "Redakteure und Journalisten mutieren zu Werbeumfeldgestaltern"

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Welchen Anteil hat die Ökonomisierung des Journalismus (und die damit einhergehende Boulevardisierung der Berichterstattung) an diesem Zustand?

Christian Nürnberger: Einen hohen. Es gibt ja nirgends absolute Pressefreiheit, sondern immer nur eine relative, also mehr oder weniger Freiheit. Denn entweder sind Medien privatwirtschaftlich organisiert, dann müssen sie Gewinne machen, die hauptsächlich durch den Verkauf von Werbung erzielt werden, und man verkauft umso mehr Werbung, je werbefreundlicher das redaktionelle Umfeld ist, also je unkritischer, unpolitischer, irrelevanter man ist. Zu seinen besten Werbekunden wird man nicht böse sein. Oder ein Medium ist staatlich gelenkt, dann kann man es gleich ganz vergessen, oder es ist öffentlich-rechtlich organisiert, dann nehmen Politiker Einfluss auf die Berichterstattung und auf Journalistenkarrieren.

Als ich meine journalistische Karriere begann, hat es in privatwirtschaftlichen Medien mehr Pressefreiheit gegeben als heute. Ein "Stern"-, "Zeit"- oder "Spiegel"-Redakteur war ein kleiner König, der fast alles schreiben konnte, was er wollte, weil "Stern", "Zeit" und "Spiegel" mit Anzeigen zugeschaufelt wurden. Die Werbeagenturen hatten keine Wahl, sie mussten mit ihrer Autowerbung da rein, auch wenn die Redakteure das Auto als Umweltsau Nummer eins verteufelten. Aber dann kam das Privatfernsehen, und das bot ein wesentlich freundlicheres Werbeumfeld, das kooperierte mit Werbe- Marketingstrategen, und seitdem geht "Stern", "Zeit" und "Spiegel" das Geld aus.

Daraus ist etwas Wesentliches zu lernen: Privatwirtschaftlich organisierter Journalismus ist kein Produkt, das durch mehr Konkurrenz besser wird, sondern ab einem bestimmten Maß wird es durch noch mehr Konkurrenz schlechter. Der Kampf um Werbeetats wird durch mehr Konkurrenz härter und schärfer, und in diesem Wettbewerb mutieren dann Redakteure und Journalisten zu Werbeumfeldgestaltern. Auch der Kampf um Auflagen und Quoten wird härter, und dieser Kampf führt zur Boulevardisierung und letztlich zu einer Neudefinition von Medienqualität: Gut ist, was erfolgreich ist. Hat Scheiße Erfolg, ist Scheiße gut.

Also: Seit es das Privatfernsehen gibt, geht so Produkten wie "Stern", "Zeit" und Spiegel das Geld aus. Und seit es das Internet gibt, gehen ihnen auch die Leser aus. Nun muss gespart werden an allen Ecken und Enden, besonders an der Redaktion. Darunter leidet die journalistische Qualität. Und das Buhlen um Werbekunden nimmt den Redaktionen den letzten Biss. Ob sie das überleben werden, weiß ich nicht. Nur eines weiß ich: Sie werden nie wieder das sein, was sie während der 70er und 80er Jahre einmal gewesen sind: Sturmgeschütze der Demokratie.

"Heute nun bräuchten wir Bürgerinitiativen für die Gestaltung einer demokratiekonformen Wirtschaft"

Wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, die in meinen obigen Fragen thematisierte politische Entwicklung noch einmal umzukehren, sehen Sie Möglichkeiten, dies über das Parlament zu bewerkstelligen?

Christian Nürnberger: Wenn man auf die Geschichte der Bundesrepublik blickt, dann hat es zwei Reformschübe in den Parlamenten gegeben, und beide Male war die Ursache dafür eine außerparlamentarische Opposition. Die APO von 1968 hat dazu beigetragen, dass Willy Brandt Bundeskanzler wurde, der Sozialstaat ausgebaut, der Ost-West-Konflikt entschärft und gesellschaftliche Reformen wie etwa die Abschaffung des Schwulen-Strafparagrafen 175 beschlossen wurde. Auch erste Gleichstellungsgesetze für die Frauen wurden auf den Weg gebracht. Der zweite große Reformschub kam mit den Bürgerinitiativen für den Umweltschutz. Daraus entstanden die Grünen, und deren bloße Existenz führte dazu, dass sich plötzlich alle Parteien grüne Ziele in die Programme schrieben.

Heute nun bräuchten wir Bürgerinitiativen für die Wiedereinführung der Demokratie und die Gestaltung einer demokratiekonformen Wirtschaft. Ich glaube, dass diese Bewegung gerade im Entstehen ist. Die Gründung von Dorfläden, Energiegenossenschaften, Ethikbanken, Regionalinitiativen, die Verbreitung der Idee, auf Politik und Wirtschaft über die private Kaufentscheidung Einfluss zu nehmen die Debatten über vegetarische und vegane Ernährung, die vielen Bürger, die sich demonstrierenden Ausländerfeinden und dem rechtsradikalen Mob in den Weg stellen - das alles lässt mich hoffen, dass wir eine Wende zum Besseren doch noch hinkriegen werden. Aber es ist ein weiter Weg, der nur ins Ziel führen wird, wenn sich lokale und regionale Initiativen international vernetzen.

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