Heimweh im Islamischen Staat

Archivbild: Gefangener IS-Kämpfer im Irak. Foto (2015): Tasnim News Agency / CC BY 4.0

In der Debatte um die Rückholung von deutschen IS-Angehörigen stoßen Rechtsstaat und Rechtsempfinden an ihre Grenzen

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In den USA erklärten viele Medien in den vergangenen Tagen den Sieg über den "Islamischen Staat" in Syrien: Lastwagen voller Zivilisten hätten das Dorf Baghouz verlassen. Die letzte Festung der Terrormiliz, die in den vergangenen Jahren große Teile des Irak und Syriens unter ihre Kontrolle gebracht hatte, stehe nun kurz vor dem Fall.

Ungefähr zeitgleich beförderten Busse und Trucks 150 Personen über die Grenze in den Irak, wo sie von Kämpfern der von den USA unterstützten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) an das irakische Militär übergeben wurden.

Irak: Forderung nach Todesurteilen

Damit erfülle der Irak seine Verpflichtung, Staatsbürger zurückzunehmen, die für den "Islamischen Staat" in Syrien gekämpft haben, teilte das Büro des irakischen Regierungschefs Adil Abdelmahdi mit. Die Personen seien nun in Sicherheit, würden nach Bagdad gebracht, um dort verhört und vor Gericht gestellt zu werden.

Nach einem monatelangen Ringen um die Regierungsbildung im Irak hatte man sich im Oktober auf den parteilosen Abdelmahdi geeinigt, der nun vor einer echten Belastungsprobe steht: Denn im Parlament, in der Öffentlichkeit sind sich Schiiten, Sunniten, Kurden ausnahmsweise einmal einig - diejenigen, die sich dem "Islamischen Staat" angeschlossen hätten, seien keine Iraker mehr.

So wetterte zum Beispiel der dem Iran nahe stehende Hadi al-Amiri, Vorsitzender der "Fatah-Allianz", die nicht mit der palästinensischen Fatah verwandt oder verschwägert ist, und im Parlament die zweitgrößte Fraktion stellt.

Muktada al Sadr, ein einflussreicher schiitischer Prediger, der der Saairun-Partei vorsteht, die die größte Parlamentsfraktion stellt (der al Sadr nicht angehört), urteilte am Wochenende: Jeder einzelne, der nun in den Irak zurück gebracht wird, müsse zum Tode verurteilt werden.

Die Funktionäre und Kämpfer des "Islamischen Staats" haben im Laufe der vergangenen Jahre nicht nur in Europa und im Nahen Osten eine Vielzahl von ausgesprochen opferreichen Terror-Anschlägen geplant und begangen. Auch in den Gebieten, die sie unter ihre Kontrolle gebracht hatten, wurden Verbrechen begangen, deren Ausmaß, deren Täter und Opfer sich nur sehr mühsam erfassen lassen. Denn in diesen Regionen herrscht nach wie vor Chaos. Viele Städte und Dörfer sind im Kampf gegen den IS zerstört worden, mit Sprengfallen gespickt.

Die einstigen Einwohner bevölkern heute Flüchtlingslager im Nahen Osten und in Europa. Und wenn man sich dort umsieht, dann bekommt man immer wieder auch die sichtbaren Folgen extremer Folter zu sehen und Berichte von grausamer Gewalt zu hören.

Und jetzt, wo zumindest einige derjenigen, die diese Taten begangen oder sie zumindest unterstützt haben, in Lagern der SDF, der irakisch-kurdischen Peschmerga oder des irakischen Milizenverbandes Haschd asch Scha‘abi (Volksmobilisierungskommittees) untergebracht sind, ist auch öfter zu hören, was diese Personen so zu sagen haben, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen.

Der IS ist weiter gefährlich

Man wolle zurück nach Europa, in den USA erklären jene, die sich vor einigen Jahren noch mit glühender Begeisterung auf den Weg ins Kalifat gemacht hatten, und die Interviews erhitzen die Gemüter, während die Angehörigen des IS, die nicht gefangen genommen oder in Baghouz eingekesselt wurden, den Kampf mitnichten aufgegeben haben.

Mitte Januar wurden bei einem Anschlag in Bagdad mindestens 38 Menschen getötet; der IS bekannte sich. Und immer wieder fallen in der Provinz kleine Gruppen von IS-Kämpfern in Städte und Dörfer ein, fahren um sich schießend durch die Straßen oder detonieren Autobomben.

Auf der Sinai-Halbinsel führt zudem das ägyptische Militär seit Jahren einen Krieg gegen Gruppen, die unter dem Namen Wilajat Sinai dem IS die Treue geschworen haben; Mitte Februar starben nach Angaben der ägyptischen Regierung 20 Soldaten bei einem Angriff auf einen Konvoi im Norden der Halbinsel.

Der "Islamische Staat" ist also längst nicht weg, er ist nicht besiegt. Er ist nur woanders. Und versetzt nicht nur Menschen in Angst und Schrecken, sondern bringt auch Rechtssysteme und Rechtsempfinden an den Rand der Vorstellungskraft.

Da sind also diese Leute; Iraker, Tunesier, Ägypter, aber auch Franzosen, Amerikaner, Briten. Deutsche. Vor einigen Jahren haben sich diese Leute auf den Weg in den "Islamischen Staat" gemacht, und mit der physischen Abreise ging auch eine psychische Loslösung von den Werten, dem Lebensstil des Heimatlandes, einher.

Dazu gehörte die Bereitschaft, extreme Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Idealvorstellung, gegenüber jenen, die diese Vorstellungen nicht teilen, zu verüben oder mindestens zu akzeptieren; in Internet-Videos warb der "Islamische Staat" bereits sehr kurz nach seinem Auftauchen mit eben jener Gewalt um Unterstützer.

Die Radikalisierung

Wenn man an dieser Stelle den "Islam" aus der Gleichung heraus nimmt, sich für einige Zeit die ganze Sache einmal allgemein betrachtet: Es ist nicht das erste Mal, dass Politik und Öffentlichkeit vor einer solchen Situation stehen. Es kommt immer wieder mal vor, dass sich Menschen gewaltbereiten Milizen und Sekten anschließen, durch sie radikalisiert werden, und Regierungen vor der Herausforderung stehen, diese Menschen zurückzuholen und zu betreuen.

Doch bislang hat keine dieser Gruppen das Ausmaß und vor allem die Gewaltbereitschaft des "Islamischen Staats" erreicht, auch wenn es durchaus vorkommt, dass sich Deutsche beispielsweise der palästinensische Hamas anschließen. Die Zahl dieser Personen ist allerdings gering und das vor allem, weil die Hamas, wie auch die libanesische Hisbollah traditionell wenig Vertrauen in Neuzugänge aus dem Ausland hat. Im Fall des IS ist das anders: Das "Wertesystem", das den Leuten eingetrichtert wurde, ist starr in seinem Extrem, alle, die nicht nach diesem "Wertesystem" leben sind der Feind, egal wo.

Wenn in diesen Tagen über die Forderung von US-Präsident Donald Trump, die eigenen Staatsbürger zurück zu holen, diskutiert wird, dann kommen manche Kommentatoren zu dem Ergebnis, das sei ja wohl das Mindeste, im "Kampf gegen den Terror", zu dem Deutschland ja ohnehin schon so wenig beigetragen habe, weil sich die Bundesregierung nicht aktiv an Militäreinsätzen beteiligt habe.

Angeführt wird auch das Argument, wenn man selbst die eigenen Leute nicht zurücknehme, dann müsse man damit rechnen, dass andere Staaten nicht dazu bereit sind, Staatsbürger aufzunehmen, die aus Deutschland abgeschoben werden sollen.

Und jene, die gegen Flüchtlinge wettern, sind natürlich nun große Freunde des Weges, den die britische Regierung nun im Fall der minderjährigen Shamima B gehen will: Man bürgert sie einfach aus.

Doch können politischen Erwägungen, Verantwortung und/oder Schuldgefühle für etwas, was man getan oder nicht getan hat, tatsächlich als Argumente herhalten, für die Entscheidung ob man die deutschen Staatsbürger zurückholt, die sich am Islamischen Staat beteiligt haben?

Rechtsstaat und Rechtsempfinden stoßen hier an eine Grenze

Denn das Gedankengut dieser Menschen ist gefährlich, da besteht gar keine Frage, und es mutet, wie Thomas Pany hier anmerkt, eigentümlich an, dass Dschihadisten in ein System zurückkehren wollen, das sie verachten, weil sie dort besser behandelt werden.

Auch in Deutschland gibt es ähnliche Forderungen: Die Familien von IS-Angehörigen werfen der Bundesregierung Untätigkeit vor. Die Bundesregierung betont indes, da es in Syrien keine diplomatische Vertretung gebe, sei es schwierig, die Identität der Personen festzustellen; zudem müsse man "den Sachverhalt weiter abklären", so Regierungssprecher Steffen Seibert. Außenminister Heiko Maas sagte in der ARD-Sendung "Anne Will", Verfahren gegen IS-Angehörige in Deutschland seien "außerordentlich schwierig zu realisieren".

Nach Angaben des irakischen Verteidigungsministeriums geht man davon aus, dass weiterhin "mindestens" einige hundert IS-Kämpfer vor allem in Wüstengebieten Zuflucht gesucht haben und von dort aus Anschläge verüben; darunter sollen sich auch Staatsbürger westlicher Länder befinden.

So lange sie nicht gefangen genommen sind ...

Bislang scheint sich auch keiner der IS-Angehörigen, die nicht in einem Lager interniert sind, an die Behörden seines Herkunftslandes gewandt und um Rückkehr gebeten haben. Vereinte Nationen, irakisches Militär, die kurdischen Peschmerga und die SDF berichten indes, dass Bürger westlicher Staaten regelmäßig um konsularische Unterstützung bitten, sobald sie gefangengenommen wurden.

Man kann also zumindest vermuten, dass es bei dem Bedürfnis nach Rückkehr vor allem um Selbstschutz geht: Die Lebensbedingungen in den Lagern sind schlecht; im Falle eines Gerichtsverfahrens droht vielerorts die Todesstrafe. Die irakischen Haschd asch Scha‘abi-Milizen haben zudem in der Vergangenheit auch mehrmals Personen erschossen, die unter den Verdacht geraten waren, dem IS angehört zu haben.

Grundsätzliches Recht auf konsularische Unterstützung

Aus juristischer Sicht ist die Situation recht simpel, und im Laufe der Jahrzehnte auch tausendfach praktiziert worden; hier wird sie nun sehr verknappt zusammengefasst; Deutsche Staatsbürger im Ausland haben im Falle einer Festnahme grundsätzlich das Recht auf konsularische Unterstützung. Geregelt ist das im Konsulargesetz.

Die Bundesregierung ist aber nicht dazu verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass strafrechtliche Vorwürfe, die in einem anderen Staat entstanden sind, vor einem deutschen Gericht verhandelt werden. Eine Vielzahl von internationalen Abkommen und bilateralen Verträgen regelt, was in solchen Fällen zu geschehen hat.

In aller Regel bedeutet dies, dass über die Vorwürfe vor einem Gericht des Aufenthaltslandes verhandelt wird, und die deutschen Botschaften die Betroffenen unterstützend begleiten, einen Anwalt empfehlen, wobei die finanzielle Unterstützung sehr eingeschränkt ist, und die konsularische Unterstützung ebenfalls, wenn sich jemand in ein Gebiet begibt, in dem keine konsularische Vertretung existiert. Jene Staatsbürger, deren Ausreise nichts im Wege steht, haben indes das Recht auf Rückkehr in das Bundesgebiet.

Entzug der Staatsbürgerschaft

Ein Entzug der Staatsbürgerschaft, wie sie in Großbritannien nun versucht wird, ist im deutschen Recht nicht vorgesehen - auch dann nicht, wenn man die staatliche und gesellschaftliche Ordnung mit Gewalt zerstören will. Wahrscheinlich auf Grund der Erfahrungen des Nationalsozialmus' war den Gründern der Bundesrepublik dieser Punkt so wichtig, dass man ihn in Artikel 16 des Gundgesetzes festhielt.

Aufgegeben kann die Staatsbürgerschaft gemäß Staatsbürgerschaftsgesetz, wenn der oder die Betreffende den Verzicht auf die Staatsbürgerschaft erklärt oder die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft beantragt. In beiden Fällen darf man allerdings nicht staatenlos werden.

Außerdem verliert man die Staatsbürgerschaft, wenn man eine andere Staatsbürgerschaft beantragt, und zuvor von den deutschen Behörden keine Beibehaltungsgenehmigung erhalten hat. Tritt man in Streitkräfte eines Landes ein, dessen Bürger man außerdem ist, verliert man den deutschen Pass, es sei denn, es ist durch einen Vertrag erlaubt; dies ist beispielsweise innerhalb der Europäischen Union oder der NATO der Fall. Verloren geht die Staatsbürgerschaft außerdem, wenn bei der Einbürgerung getäuscht wurde.

Dementsprechend ist davon auszugehen, dass hier wohl in keinem Fall die deutsche Staatsbürgerschaft verloren gegangen sein dürfte und das selbst dann nicht, wenn Personen durch demonstratives Verbrennen des Passes ihren Verzicht zum Ausdruck gebracht haben, denn es ist ja auch vorgeschrieben, dass durch den Verzicht keine Staatenlosigkeit eintreten darf.

Rückkehrer sind gefährlich

Und das alles stößt nun, wie gesagt, an die Grenze: Man muss davon ausgehen, dass diejenigen, die nun zurückkehren wollen, gefährlich sind. Und wenn man sich die Situation zum Beispiel im Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri anschaut, dann sind Zweifel an der Zuverlässigkeit der derzeitigen Überwachungs- und Präventionskonzepte angebracht.

Man kann auch nicht darauf bauen, dass die Rückkehrer in großer Zahl angeklagt und verurteilt werden. Denn so chaotisch ist die Lage vor Ort, so unsicher die Beweisführung, dass es eher Zufallstreffer sein dürften, diese Person so sicher mit dieser Tat in Verbindung zu setzen, dass eine Verurteilung möglich wird.

Aber trotzdem: Es ist nicht vorgesehen, einem deutschen Staatsbürger seine Rechte zu versagen. Denn wer entscheidet darüber, wann dies angemessen ist: Etwa wenn ein Deutscher Muslim ist? Und falls ja: auch dann, wenn er ein gebürtiger Deutscher ist, der zum Islam konvertiert ist? Verdient der Betroffene, der in Hurghada ein Kind überfahren hat, konsularische Unterstützung? Der Journalist, der für rechte Medien arbeitet, und in Venezuela festgenommen wurde?

Doch hier kommt noch ein weitere politische Komponente hinzu. Der normale Gang der Dinge wäre, dass ein Aufenthaltsstaat jene, denen Straftaten und Vergehen vorgeworfen werden, entweder vor Gericht stellt oder gegen Zahlung von Geldstrafe des Landes verweist.

Doch die politische und juristische Situation ist sowohl in Syrien als auch im Irak alles andere als normal. In Syrien ist es nicht etwa der syrische Staat, der die IS-Angehörigen loswerden will, sondern die SDF, also ein nicht-staatlicher Protagonist, und die US-Regierung.

Eigentlich wäre die syrische Gerichtsbarkeit dafür zuständig, die Beschuldigten vor Gericht zu stellen, doch es dürfte hier zwei Aspekte geben, die die Bundesregierung und andere betroffene Staaten daran hindern, dies zu fordern: Zum einen könnte dies als Annäherung der Regierung von Präsident Baschar al-Assad gewertet werden. 2012 hatte man die diplomatischen Beziehungen weitestgehend abgebrochen, doch offiziell hat man bislang keine andere Regierung anerkannt.

Zum anderen wäre damit zu rechnen, dass die offizielle syrische Justiz, wie bereits die irakische, Todesurteile am Fließband verhängt.

Die Regierung der Autonomen Region Kurdistan

Die Ablehnung der Todesstrafe in europäischen Staaten hat nun auch die Regierung der Autonomen Region Kurdistan (ARK) im Irak auf den Plan gerufen: Man bot an, Verfahren gegen ausländische Angehörige des Islamischen Staat vor den eigenen Gerichten zu verhandeln.

Denn in der ARK wurde die Verhängung von Todesurteilen auf öffentlichen Druck hin ausgesetzt. Doch bei dem Angebot aus Erbil gibt es einen Hintergedanken: Im Herbst hatten die irakischen Kurden mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit gestimmt; international anerkannt wurde dies aber nie. Auch die Bundesregierung wies die Entscheidung zurück.

Seitdem versucht die Regierung der ARK, jede Gelegenheit dazu zu nutzen, um ein bisschen mehr Anerkennung von der internationalen Gemeinschaft zu erhalten. Nachdem der in Wiesbaden wegen Vergewaltigung und Mordes gesuchte Ali B im vergangenen Jahr in den Irak geflohen war, nahmen ihn die Peschmerga fest.

Sie übergaben den Mann am Flughafen von Erbil einem eigens in Begleitung von Bundespolizeichef Dieter Romann angereisten Einsatzkommando - ohne Auslieferungsersuchen an das eigentlich zuständige Justizministerium in Bagdad, und unter den Augen von irakischen Polizisten, die eigens aus Bagdad angereist waren.

Zur Erläuterung: Dass es kein Auslieferungsabkommen gibt, bedeutet weder, dass man vor Auslieferung geschützt ist; es gibt nur einfach kein festgelegtes Prozedere. Noch bedeutet es, dass ausländische Behörden einfach jeden selbst abholen dürfen, den man gerne im eigenen Land zurückhätte.

Was einst in den Boulevardmedien und Teilen der Öffentlichkeit als Akt von Entscheidungswillen und Handlungsstärke gefeiert wurde, könnte nun als Argument für jene dienen, die darauf drängen, bei der Rückführung der IS-Angehörigen erst zu handeln und dann hinzuschauen.