"Hier muss kräftig gegengesteuert werden"

Seite 2: Einfallstor für Überwachungsmaßnahmen

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Gibt es dazu nicht auch relevante geheime Vereinbarungen?

Dieter Deiseroth: In der Tat hat die deutsche Bundesregierung in Ziffer 6 eines geheimen Notenwechsels vom 27.5.1968 mit den drei Westmächten ausdrücklich den in einem früheren Schreiben des Bundeskanzlers Adenauer vom 23.10.1954 "zum Ausdruck gebrachten Grundsatz des Völkerrechts und damit auch des deutschen Rechts bekräftigt, wonach abgesehen vom Falle des Notstands, jeder Militärbefehlshaber berechtigt ist, im Falle einer unmittelbaren Bedrohung seiner Streitkräfte die angemessenen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Gefahr zu beseitigen".

Es wird dabei nicht definiert, unter welchen Voraussetzungen eine "Gefahr" und eine "unmittelbare Bedrohung" in diesem Sinne vorliegen kann. Schon weil eine gerichtliche Überprüfung nicht vorgesehen ist, dürfte damit aber dem jeweiligen Militärbefehlshaber ein weiter Beurteilungsspielraum zukommen. Ihm allein obliegt dann auch zu entscheiden, ob und welche Mittel er einsetzt. In Betracht kommen kann dabei auch die Einschaltung des US-Militärgeheimdienstes NSA. Es ist bisher völlig ungeklärt, ob der Militärbefehlshaber oder die NSA, wenn sie im Falle einer "Gefahr" bei ihren "angemessenen Schutzmaßnahmen" in Deutschland nachrichtendienstliche Mittel einsetzen, eigenständig handeln können oder sich nach Maßgabe des G10-Gesetzes immer an den BND oder das Bundesamt für Verfassungsschutz wenden müssen. Klar ist damit in dieser Grauzone jedenfalls, dass hier ein wichtiges Einfallstor für Überwachungsmaßnahmen existiert.

Welche US-Einrichtungen in Deutschland können für die Ausspähaktionen genutzt werden?

Dieter Deiseroth: Die USA verfügen über ein weltweites Netz von Militärstützpunkten in über 140 Staaten, in denen mehrere Hunderttausend Militärangehörige und ihr sogenanntes ziviles Gefolge stationiert sind. Diese sind netzwerkartig miteinander verflochten. Auch in Deutschland ist den US-Streitkräften eine Vielzahl von Liegenschaften zur ausschließlichen Nutzung überlassen worden.

In den letzten Monaten sind zahlreiche Berichte publiziert worden, wonach in Deutschland auf überlassenen Liegenschaften US-Einrichtungen betrieben werden, die möglicherweise in NSA-Abhöraktionen aktiv einbezogen sind. Das gilt etwa für das 2012 im US-Hauptquartier (USEUCOM) in Stuttgart-Vaihingen eingerichtete "Joint Interagency Counter Trafficking Center - JICTC". Auf parlamentarische Anfrage hat die Bundesregierung im Deutschen Bundestag erklärt, sie habe zu den dort erfolgenden Aktivitäten keine nähere Kenntnis. Die US-Regierung sei der Auffassung, dass die Mitarbeiter von JICTC als ziviles Gefolge im Sinne des NATO-Truppenstatuts einzuordnen seien, was aus Sicht der Bundesregierung unter bestimmten Voraussetzungen möglich sei. Die US-Regierung sei von ihr hierzu um weitere ausführliche Informationen gebeten worden. Auch eine NSA-Einrichtung in Griesheim bei Darmstadt steht in der Kritik. Ähnliches gilt offenbar für das in Wiesbaden-Erbenheim errichtete neue US-Kommandozentrum, in dem nach Medienberichten auch für die NSA umfangreiche Einrichtungen geschaffen werden sollen.

Ein Sprecher des Innenministeriums hat noch vor wenigen Monaten auf NDR-Anfrage erklärt, man sehe "keinen Anlass zu zweifeln, dass die US-Behörden auf der Grundlage des US-amerikanischen Rechts handeln". Seit kurzem stehen auch das US-Generalkonsulat in Frankfurt am Main und jüngst auch die US-Botschaft in Berlin im Verdacht, mit ihren leistungsfähigen Antennenanlagen intensive Überwachungsaktivitäten zu entfalten.

Den US-Streitkräften steht nach Verträgen ein weites Feld zur Betätigung und zur Freistellung vom deutschen Recht offen

Welche Befugnisse haben die US-Streitkräfte in den ihnen überlassenen Liegenschaften?

Dieter Deiseroth: Innerhalb der ihnen zur ausschließlichen Nutzung überlassenen Liegenschaften und im Luftraum darüber können die ausländischen Truppen und ihr ziviles Gefolge nach Artikel 53 ZA-NTS alle zur befriedigenden Erfüllung ihrer Verteidigungspflichten erforderlichen Maßnahmen treffen. Dabei gilt "das deutsche Recht", "soweit nicht in diesem Abkommen und in anderen internationalen Übereinkünften etwas anderes vorgesehen ist" und "sofern nicht die Organisation, die interne Funktionsweise und die Führung der Truppe und ihres zivilen Gefolges, ihrer Mitglieder und deren Angehöriger ... betroffen sind". Abgesehen von den enormen tatsächlichen und politischen Schwierigkeiten, auf den überlassenen Liegenschaften die Einhaltung deutschen Rechts zu kontrollieren, ist damit ein weites Feld zur Betätigung und zur Freistellung vom deutschen Recht eröffnet.

In Ihrem aktuellen Aufsatz weisen Sie darauf hin, dass die zwischen Deutschland und den Alliierten unmittelbar nach dem 2+4-Vertrag geschlossene Ausnahmeregelung vom 25. September 1990 nie vom Deutschen Bundestag gebilligt worden ist. Ist ein solcher Eingriff in den Kern nationaler Souveränität ohne eine demokratische Bestätigung nicht schlicht illegal?

Dieter Deiseroth: Es handelt sich dabei nicht um einen "Eingriff in die nationale Souveränität", sondern um eine Missachtung des deutschen parlamentarischen Gesetzgebers. Diese Missachtung war nicht ohne das politische Handeln oder Unterlassen der zuständigen deutschen Organe möglich.

Konkret: Nach dem deutsch-alliierten Notenwechsel vom 25.9.1990 sollen der Deutschland-Vertrag und der Aufenthaltsvertrag auf unbestimmte Zeit fortgelten. Kündigungsmöglichkeiten bestehen zwar, sind aber stark eingeschränkt. Dem deutschen Gesetzgeber ist dieser deutsch-alliierte Notenwechsel vom 25.9.1990 nicht zur Zustimmung in Form eines Gesetzes nach Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes vorgelegt worden. Das ist umso erstaunlicher, als in Artikel 3 Absatz 1 des Aufenthaltsvertrages 1955 ausdrücklich geregelt worden war, dass dieser insgesamt "außer Kraft" tritt "mit dem Abschluss einer friedensvertraglichen Regelung mit Deutschland oder wenn die Unterzeichnerstaaten zu einem früheren Zeitpunkt übereinkommen, dass die Entwicklung der internationalen Lage neue Abmachungen rechtfertigt". Der 2+4-Vertrag vom 15.9.1990 und die damit in Zusammenhang stehenden völkerrechtlichen Vereinbarungen stellten diese "friedensvertragliche Regelung" dar.

Die völkerrechtliche und gesetzliche Vorgabe für die Beendigung des Aufenthaltsvertrages von 1955 wird durch den deutsch-alliierten Notenwechsel vom 25.9.1990 und die seitherige Staatspraxis in ihrer Substanz missachtet.

Deutschland hat aus politischen Gründen vertragliche Beschränkungen seiner Gestaltungs- und Kontrollrechte im Hinblick auf die hier stationierten ausländischen Truppen und deren zivilem Gefolge akzeptiert und bis heute nicht korrigiert

Wenn diese "Beendigungsautomatik" aber nun seit über 20 Jahren fortwährend missachtet wird, bedeutet dies nicht, dass Deutschland längst souverän sein könnte, dies aber politisch so nicht gewollt ist?

Dieter Deiseroth: Nochmals: Deutschland ist völkerrechtlich betrachtet ein souveräner Staat. Er hat jedoch kraft eigener Entscheidung aus politischen Gründen in den 1950er und 1960er Jahren vertragliche Beschränkungen seiner Gestaltungs- und Kontrollrechte im Hinblick auf die hier stationierten ausländischen Truppen und deren zivilem Gefolge akzeptiert und hat dies bis heute nicht korrigiert.

Das erschwert in Verbindung mit dem überaus komplizierten und unübersichtlichen Geflecht ergänzender völkerrechtlicher Abkommen und Vereinbarungen die Wahrnehmung der Befugnisse der deutschen Staatsorgane - gerade auch bei der Unterbindung rechtswidriger Ausspähaktionen durch die NSA und andere Geheimdienste in Deutschland. Dies höhlt die staatlichen Schutzpflichten deutscher Stellen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern und damit Grundrechte aus. Außerdem beeinträchtigt es zugleich letztlich das demokratische Selbstbestimmungsrecht aller Bürgerinnen und Bürger.

Sie fordern, den "Deutschlandvertrag" und den "Aufenthaltsvertrag" aus den 1950er Jahren, die ja auf Besatzungsrecht in Folge des Zweiten Weltkriegs basieren, insgesamt aufzuheben und neu zu verhandeln - auch, um eine weitere Ausspähung deutscher Bürger durch ausländische Geheimdienste wie die NSA beenden zu können. Gab es Ihres Wissens bislang je eine Initiative zu einer Revision dieser Verträge?

Dieter Deiseroth: Meines Wissens seit 1990 nicht. Bemühungen des Auswärtigen Amtes, 1990 eine Beendigung sämtlicher Überwachungsmöglichkeiten nicht nur der Sowjetunion, sondern auch der Westmächte, insbesondere der USA, in Deutschland zu erreichen, blieben, wie der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt Lautenschlager regierungsintern am 9.10.1990 mitteilte, ohne Erfolg.

Staatsminister Helmut Schäfer (FDP) erklärte damals auf eine parlamentarische Anfrage, die nicht dem NATO-Truppenstatut unterliegenden und für besondere Geheimdienstoperationen zuständigen "Special Forces" der USA würden in Deutschland auch künftig "im Rahmen der NATO" tätig sein. Die Stationierung dieser Einheiten basiere auf dem Aufenthaltsvertrag; ihre Rechte und Pflichten ergäben sich aus dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und den entsprechenden Zusatzvereinbarungen. Für die Anwendung der genannten Verträge auf die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Streitkräfte der Verbündeten und ihrer "Special Forces" komme es nicht darauf an, ob und in welchem Grad sie in die militärische Befehlsstruktur der NATO eingebettet seien.

Ich hoffe, dass die aktuellen Debatten um die NSA-Ausspähaktionen, von denen in skurriler Weise seit Jahren selbst das Mobiltelefon der Kanzlerin betroffen sein soll, endlich zu einem Umdenken in der Bundesregierung und im Parlament führen.

Nochmal zum Thema "Geheimverträge": Im Sommer diesen Jahres teilte die Bundesregierung mit, dass sie im Einvernehmen mit den USA eine geheime Vereinbarung von 1968 über die Zusammenarbeit bei der Post- und Telefonüberwachung außer Kraft gesetzt habe. In den Jahren zuvor hatte sich die Regierung noch dem Parlament gegenüber geweigert, dieses und ähnliche Abkommen zu veröffentlichen oder zu diskutieren. Es steht in offenkundigem Widerspruch zu demokratischen Prinzipien, wenn die Regierung geheime Verträge mit anderen Mächten schließt, ohne das Parlament zu informieren, geschweige denn zu beteiligen. Ist ein solches Regierungshandeln nach deutschem Recht überhaupt legal?

Dieter Deiseroth: Geheimverträge haben in den internationalen Beziehungen vielfach schlimmste Folgen gehabt. Daher hat man nach dem 1. Weltkrieg versucht, diesen ihre völkerrechtliche Bindungswirkung zu nehmen. Das ist auf völkerrechtlicher Ebene bisher nur insofern gelungen, als sie gemäß Artikel 102 der UN-Charta dem beim UN-Generalsekretär geführten Register gemeldet werden sollen. Vor Organen der UNO, zum Beispiel vor dem Internationalen Gerichtshof und vor dem UN-Sicherheitsrat können sich Staaten nur dann auf einen von ihnen abgeschlossenen Geheimvertrag berufen, wenn er beim UN-Generalsekretär registriert ist.

Nach deutschem Verfassungsrecht bedürfen völkerrechtliche Verträge und Abkommen, die Gegenstände der Gesetzgebung betreffen oder die politischen Beziehungen des Bundes regeln, nach Artikel 59 Absatz 2 des Grundgesetzes der förmlichen Zustimmung des Gesetzgebers. Wird von der Exekutive ein Geheimvertrag geschlossen und dabei der Gesetzgeber umgangen, ist dies Verfassungsbruch.

Könnte man sich dagegen vor Gericht wehren?

Dieter Deiseroth: Das ist eine sehr komplizierte Frage, weil ein Erfolg vor Gericht von mehreren Faktoren abhängt. Der Bundestag oder auch antragsberechtigte Teile des Gesetzgebers könnten zum Beispiel eine sogenannte Organklage beim Bundesverfassungsgericht gegen die Bundesregierung erheben. Außerdem kommt in Betracht, den Versuch zu unternehmen, vor den zuständigen Verwaltungsgerichten gegen eine in Rechte von Bürgern eingreifende staatliche Entscheidung deutscher Stellen - zum Beispiel über bestimmte Arten der Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten oder über die Zulassung oder Duldung solcher Aktivitäten - oder Unterlassung zu klagen und dabei die entscheidungserheblichen Rechtsgrundlagen zur gerichtlichen Überprüfung zu stellen.

In jedem Falle stellen sich sehr schwierige, bisher vielfach ungeklärte rechtliche Probleme, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann. Außerdem geht es sehr real auch um grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von Judikative und politischer Macht. Für die Gerichte, die ja auf die Herstellung von Rechtsfrieden ausgerichtet sind, stellen sich dabei komplexe Akzeptanz- und Umsetzungsprobleme. Das geht an die Grenzen dessen, was die Justiz leisten kann. Dabei spielt das gesellschaftliche und politische "Umfeld", in der ein solcher Konflikt ausgetragen wird, eine wichtige Rolle. Belassen wir es bei diesen eher skizzenhaften Bemerkungen.