"Hier muss kräftig gegengesteuert werden"

Seite 3: Es gibt keine überzeugende Begründung mehr für eine dauerhafte weitere Stationierung von US-Truppen in Deutschland

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Die bis heute hierzulande stationierten US-Soldaten agieren vor allem aufgrund des sogenannten "NATO-Truppenstatuts" und des Zusatzabkommens außerhalb deutschen Rechts. Die Militärbehörden der USA üben weithin ihre eigene Strafgerichtsbarkeit aus. Auch hier fordern Sie eine grundlegende Revision, so dass in Zukunft überall im Land ohne Ausnahmen einheitlich deutsches Recht gilt. Doch steht dahinter nicht die weiter gehende Frage, wie lange die Bundesregierung noch bereit sein will, überhaupt ausländische Soldaten auf dem eigenen Territorium zu akzeptieren? Immerhin dürfte Konsens darüber bestehen, dass spätestens seit 1990 kein Angriff Russlands mehr droht, der die Anwesenheit einer Schutzmacht erfordert.

Dieter Deiseroth: Ob Deutschland die weitere Anwesenheit ausländischer Truppen wünscht, ist eine politische Frage. Diese muss offen diskutiert werden. Nach meiner persönlichen Auffassung gibt es gegenwärtig keine überzeugende Begründung mehr für eine dauerhafte weitere Stationierung von US-Truppen in Deutschland - jedenfalls auf der Grundlage der bisher geltenden Verträge und Abkommen.

Dies gilt umso mehr, als die USA mit Hilfe ihrer Truppen sowie ihrer Nachrichtendienste und eingesetzten privaten Dienstleister weltweit weithin sanktionslos nicht gerade selten Völkerrechtsbrüche begehen - unter anderem 2003 der Aggressionskrieg gegen den Irak, die Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo und anderen Internierungslagern, gezielte Tötungen von Terrorismus-Verdächtigen ohne rechtsstaatliche Verfahren, nicht selten unter Inkaufnahme erheblicher Schäden für unbeteiligte Zivilpersonen, die Steuerung von Drohnen-Angriffen durch US-Kommandoeinrichtungen in Deutschland, sowie die CIA-Renditions-Aktionen. Mit den bisher geltenden Verträgen und Abkommen kann dies nicht wirksam verhindert werden, selbst wenn die zuständigen deutschen Stellen dies uneingeschränkt wollten.

Sie fordern außerdem, dass die Mitglieder des parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste von ihrer Schweigepflicht entbunden werden, sofern sie von Gesetzesverstößen erfahren. In diesem Zusammenhang erwähnen Sie eine 1951 geschaffene Vorschrift, die Bundestagsabgeordnete vor einer Strafverfolgung wegen Landesverrates schützt, wenn sie illegale Staatsgeheimnisse enthüllen. Interessanterweise wurde diese Vorschrift durch die Notstandsgesetze von 1968 wieder beseitigt. Ist nicht überhaupt der Vorwurf des "Landesverrats" ein überkommenes Relikt aus Kaiserzeiten? Oder anders gefragt: Ist eigentlich eine Situation denkbar, in der illegale Aktivitäten der Regierung geheim bleiben dürfen?

Dieter Deiseroth: Meines Erachtens nein. Der demokratische Souverän, also die Bürgerinnen und Bürger, müssen davon erfahren, wenn die gewählte Regierung, die ja kraft Verfassung ohne jede Ausnahme an das geltende Recht gebunden ist, diese in einem demokratischen Verfassungsstaat zentrale Pflicht verletzt. Wie sollten die Bürgerinnen und Bürger sonst auch ihr fundamentales demokratisches Recht, ihr Wahlrecht, verantwortlich wahrnehmen und eine Regierungsmehrheit abwählen können, wenn ihnen solche Informationen vorenthalten werden?

Demnach ist die vom Gesetzgeber normierte absolute Schweigepflicht der Mitglieder der parlamentarischen Gremien zur Kontrolle der Nachrichtendienste durch nichts zu rechtfertigen?

Dieter Deiseroth: Rechtspolitisch gerechtfertigt wird diese Schweigepflicht in erster Linie mit dem intendierten Schutz der so genannten Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste sowie dem "Wohl" und der "Sicherheit" des Staates. Das sind Kategorien, die es wert sind, im Hinblick auf das Demokratiegebot des Grundgesetzes sowie die ausnahmslose Bindung aller staatlichen Gewalten an Gesetz und Recht, insbesondere auch die Grundrechte, auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand gestellt zu werden.

Ich meine, es kann niemals dem "Wohl" oder der "Sicherheit" eines Staates dienen, wenn hingenommen wird, dass staatliche Organe gegen Gesetze oder gar gegen die Verfassung verstoßen. Das wäre ein Widerspruch in sich. Was das sogenannte "Funktionsfähigkeits"-Argument betrifft: Zur Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste und der Exekutive insgesamt gehört in einem demokratischen Verfassungsstaat zwingend, dass sie die ihnen gezogenen rechtlichen Grenzen strikt einhalten. Wenn sie dazu nicht in der Lage oder nicht willens sind, können sie in einem demokratischen Verfassungsstaat ihre Funktion nicht erfüllen, sind also gerade nicht funktionsfähig. Deshalb dient es gerade ihrer Funktionsfähigkeit, dafür Sorge zu tragen, dass begangene Verfassungs- und Gesetzesbrüche aufgedeckt werden.

Ihre Vorschläge zielen insgesamt auf eine größere Souveränität Deutschlands gegenüber den früheren Besatzungsmächten, mehr Transparenz und eine Stärkung demokratischer Prinzipien. Gibt es ihrem Eindruck nach unter führenden Richtern und anderen Juristen im Land eine produktive Debatte zu diesen Themen?

Dieter Deiseroth: Die gibt es bisher nur in ersten Ansätzen. Ich hoffe, dass sich dies nicht zuletzt im Gefolge der aktuellen Debatten über die Ausspähaktionen der NSA und anderer Nachrichtendienste ändert. Daran muss man arbeiten. Hier ist bürgerschaftliches Engagement gefragt.

Der prominente NSA-Whistleblower Russell Tice enthüllte kürzlich, dass der Geheimdienst gezielt auch die Kommunikation von hohen Richtern und Politikern in den USA überwacht habe - offenbar mit dem Ziel, potenziell kompromittierendes Material zu sammeln, mit dem juristische und politische Entscheidungen dann bei Bedarf beeinflusst werden können. Wenn dem so ist - inwiefern kann man dann von einer funktionierenden Gewaltenteilung noch sprechen?

Dieter Deiseroth: Die Vorgänge und Entwicklungen, die Sie in Ihrer Frage ansprechen, offenbaren nach meiner Überzeugung in der Tat schwere Gefahren für rechtstaatliche und demokratische Strukturen unserer westlichen Verfassungsstaaten. Dabei ist erschreckend, dass Freiheit und Demokratie auf der Basis von Persönlichkeitsrechten, demokratischer Verfassung und Volkssouveränität, mithin die vor allem aus den zentralen Zielen und Fortschrittserwartungen der Aufklärung erwachsenen gemeinsamen Errungenschaften der westlichen Verfassungsstaaten, gerade von staatlichen Organen der USA und ihrer Verbündeten in Frage gestellt werden.

Hier muss kräftig gegengesteuert werden. Hierbei kommt nicht nur den gewählten Parlamenten, sondern auch der Justiz eine besonders wichtige Funktion zu. Entscheidend aber wird sein, dass sich Bürgerinnen und Bürger nicht von diesen Missständen angewidert abwenden, in private Nischen, in scheinbar unpolitisches Amüsement und in Konsum "flüchten". Rechtstaat und Demokratie müssen ständig neu errungen und verteidigt werden. Das geht uns alle an.