Hunderte Milliarden zur Stabilisierung der Finanzmärkte in den Geldmarkt gepumpt
Trotzdem geht der Kurssturz an den Börsen weiter, der Versicherungsriese AIG wurde nun auch unter staatliche Kontrolle gestellt
Eigentlich war allseits erwartet worden, dass angesichts des Debakels an den Finanzmärkten die US-Notenbank (FED) erneut die Leitzinsen senken wird. Mit der Senkung um wenigstens 0,25 % auf 1,75 % wurde gerechnet, um den Märkten wieder etwas Vertrauen einzuhauchen. Mit diesem Ziel hatte die FED am Dienstag erneut 50 Milliarden US-Dollar in den Geldmarkt gepumpt. Schon am Montag stellte sie 70 Milliarden bereit, um eine Kreditklemme der Banken zu verhindern. Sekundiert wurde sie bei ihren Aktivitäten von diversen Zentralbanken. Die Europäische Zentralbank (EZB), die Bank of England (BoA) und die Bank of Japan pumpten gemeinsam 111,7 Milliarden Euro in die Märkte. Schon am Vortag hatten Notenbanken in Europa gut 36 Milliarden bereitgestellt.
Geholfen hat es nicht, wie die massiven Kursstürze an allen Börsen am Montag und am Dienstag unmissverständlich deutlich gemacht haben. Die Wall Street schloss am Montag mit einem Minus von 4,4 %, dem heftigsten Absturz seit den Anschlägen vom 11. September und der war noch deutlicher als am "Schwarzen Montag" vor einem Jahr (Börsen in Panik). Ähnlich sah es auch an anderen wichtigen Börsen weltweit aus. Tokio stürzte sogar um 5,06 % ab, in Madrid fiel der Ibex um 4,4 % und auch in London und Paris waren es 4 %.
Noch schlimmer war die Lage am Dienstag in Russland. Die russischen Börsen RTS und MICEX mussten den Handel zeitweise aussetzen, weil der MICEX-Index um mehr als 18 % abstürzte und beim Leitindex RTS betrug der Verlust fast elf Prozent. In Frankfurt schloss die Börse auf dem niedrigsten Stand seit fast zwei Jahren. Nach einem Verlust von fast 3 % am Montag, folgte am Dienstag erneut ein Verlust von 1,6 %.
Doch auch die FED sieht nun ein, dass eine kleine Zinssenkung kein Vertrauen schaffen würde. Eine stärkere Kreditvergabe zur Ankurbelung der Wirtschaft ließe sich nur durch eine massive Zinssenkung erreichen. Doch dafür hat die FED keinen Spielraum mehr, weil sie mit sieben Zinsschritten in Folge die Leitzinsen schon auf 2 % heruntergeschraubt hat, was die Inflation in den USA weiter angeheizt hatte. Deshalb war im August sogar über eine mögliche Zinsanhebung spekuliert worden. An dem Problem, dass die Banken sich untereinander nicht mehr vertrauen und sich gegenseitig kein Geld mehr verleihen, hätte eine Zinssenkung ohnehin nichts geändert. Zu unklar ist derzeit, ob man verliehenes Geld auch wieder zurückerhält. Nichts hat dies deutlicher gemacht, als die grandiose Pleite der viertgrößten Investmentbank Lehman Brothers und der Fast-Pleite der drittgrößten Investmentbank Merrill Lynch (Finanzkrise bedroht das weltweite Finanzsystem).
Dabei war absehbar, dass die Pleitewelle auch den großen US-Banken nicht vorbeigehen wird und das Schlimmste der Finanzkrise noch bevorsteht. Dass Lehman allein gut 613 Milliarden Dollar Schulden haben soll, erstaunt dann schon. Erinnert sich noch jemand an die Meldungen im Frühjahr, die die Kosten für die Finanzkrise mit 600 Milliarden Euro bezifferten? Welche Ausmaße das Desaster schon erreicht hat, wurde bei der Verstaatlichung der größten US-Immobilienfinanzierern kürzlich deutlich (Finanzkrise: Totgeglaubte leben länger). Fannie Mae und Freddy Mac könnten die US-Steuerzahler sogar bis zu fünf Billionen US-Dollar kosten.
Im Fall von Lehman hatte Washington endlich die Reißleine gezogen. Das wäre eigentlich schon im Fall von Bear Stearns nötig gewesen. Würde man den eigenen neoliberalen Glaubenssätze vertrauen, hätte es keinen wirklichen Grund gegeben, die Verluste der fünftgrößten Investmentbank weitgehend den Steuerzahlern aufzuladen. Vor den Wahlen sollte Schlimmeres vermieden werden, doch damit hat man die Lage nur verschlimmert, weil ein Signal ausgesandt wurde, wonach der Staat stets bedrohten Banken zur Hilfe eilen wird, die also weiter alle Risiken eingehen können. Das "Nein" von US-Finanzminister Henry Paulson im Fall von Lehman stellt eine historische Wende dar, weil nun klar gemacht wurde, dass es auch für die großen US-Banken keine staatliche Überlebensgarantie mehr gibt: "Die Finanzmärkte werden am Ende sowohl mit Blick auf die Strukturen der Märkte als auch auf die Institutionen selbst nicht mehr so sein, wie sie einmal waren", kommentierte John Lipsky den Vorgang, der Vizechef des Internationalen Währungsfonds (IWF).
Doch die FED verletzt eherne Notenbank-Prinzipien trotz allem immer stärker und macht die Schleusentore immer weiter auf. Sie hatte schon den Investmentbanken eine leichtere Refinanzierung über den Diskontsatz ermöglicht und nahm zudem als "Sicherheiten" auch zweifelhafte Papiere an. Diese Refinanzierung steht eigentlich nur normalen Geschäftsbanken zur Verfügung. Nun ging sie aber noch einen Schritt weiter und nimmt auch Aktien als Sicherheiten entgegen.
Eine wohl noch bedeutendere Schreckensnachricht steht den Finanzmärkten noch ins Haus. Der weltgrößte Versicherer American International Group (AIG) hat nur noch einen Tag Zeit, seinen massiven Kapitalbedarf zu decken. 80 Milliarden Dollar müssen in der Zeit organisiert werden, sonst ist der Versicherer pleite, der 116.000 Mitarbeiter in 130 Ländern hat und 74 Millionen Versicherungsnehmer betreut. Das dürfte, so wird allseits erwartet, zur definitiven Eskalierung der Finanzkrise führen. Nach Angaben des Wall Street Journal arbeiten die beiden US-Großbanken JPMorgan und Goldman Sachs mit Unterstützung der FED fieberhaft daran, für AIG ein Kreditpaket zu schnüren. In einer außergewöhnlichen Aktion hatte die FED dem Versicherer bereits erlaubt, auf Liquidität im Ausmaß von 20 Milliarden Dollar bei Töchtern zurückzugreifen.
Update: Da die FED nun allerdings der AIG helfend unter die Arme gegriffen hat, wiederholt sie die bisherigen Fehler in der Finanzkrise erneut und wird die Lage nur Verschlimmbessern, um die Finanzmärkte kurzeitig zu beruhigen. In der Nacht hat sie nun auch den Versicherungsriesen American International Group (AIG) unter staatliche Kontrolle gestellt. Die US-Notenbank leiht der AIG bis zu 85 Milliarden Dollar und übernimmt zum Ausgleich 79,9 Prozent der AIG-Aktienanteile. Die Zentralbank kann gegen AIG-Dividenden-Beschlüsse ein Veto einlegen.