Ihr seid nicht allein

Seite 5: Jungmännerüberschuss

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Noch ist nicht zu erkennen, wie es den neuen Regierungen, organisieren sie sich autokratisch, konstitutionell oder islamisch, gelingen kann, die Armut und die Arbeitslosigkeit der Leute, die zu dem Unmut geführt hat, zu beseitigen. Allein die demografische Entwicklung spricht gegen eine allzu rasche Genesung.

Um die frei werdenden Spitzenplätze in Politik, Wirtschaft und Verwaltung konkurrieren viel zu viele junge und gut ausgebildete Menschen. Dass die Probleme durch die Aufstände keineswegs gelöst sind, neues Personal allein nicht genügt und die Messe in den arabischen Staaten längst noch nicht gelesen ist, zeigen die neu aufgeflammten Kämpfe in Tunesien (Tote bei Straßenschlachten in Tunesien).

Europa löste das Problem des "Youth Bulge" vor knapp vier- oder fünf hundert Jahren, indem es die überschüssigen Jungmänner nach Amerika auswandern ließ. In der Neuen Welt konnten sie sich eine neue Existenz aufbauen. Diesen Weg werden wohl auch viele junge Nordafrikaner beschreiten und die Flucht übers Mittelmeer in die Wohlstandsburgen Europas suchen. Schon jetzt kämpft allein Tunesien mit 140 000 Flüchtlingen aus Libyen, die vor den Kanonen und Düsenjets Gaddafis Reißaus nehmen.

Migrationswellen

Wie Europa auf diesen Exodus reagieren und ob es damit zu Rande kommen wird, steht in den Sternen. Schnellboote der Eingreiftruppe "Frontex", die die Grenzen der "Festung Europa" sichern, werden dafür allein nicht reichen. Weder natürliche Gegebenheiten wie die Alpen noch die Chinesische und Berliner Mauer oder der Hochsicherheitszaun an der mexikanischen Grenze haben bislang Menschen aufhalten können, ihr Glück dort zu suchen, wo sie Arbeit, Glück und Zukunft vermuten.

Bekundungen europäischer Politiker, Märkte für Güter aus diesen Ländern öffnen und Einfuhrzölle senken zu wollen, oder gar die Forderung, einen Marshall-Plan für Nordafrika aufzulegen, wie ihn jüngst Frank-Walter Steinmeier in die Debatte einbrachte, um "die Demokratisierung und den Umbau der arabischen Staaten und Gesellschaften kraftvoll, schnell und über einen längeren Zeitraum hinweg zu unterstützen", klingt politisch korrekt und fair, zumal eine Gesundung dieses Raumes gewiss "im ureigenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interesse der EU" liegt.

Doch ob die EU dies finanziell stemmen kann, ist eine ganz andere Frage. Längst hängen auch mehrere Staaten der EU am Tropf des Euro-Rettungsschirmes. Und längst hat sich die EU ihrerseits zu einer Transferunion entwickelt, in der die wirtschaftlich starken Länder die finanziellen schwachen alimentieren müssen. Woher die Zusatzmittel für die nordafrikanischen Länder kommen sollen, hat bislang keiner dieser Leute gesagt. Auch nicht der Fraktionschef der SPD im Bundestag.

Fortgesetztes Töten?

Einen Fingerzeig, wie sich das Problem überzähliger Jungmänner auch lösen lässt, lieferte der Dreißigjährige Krieg in Europa. Schon gibt es Stimmen, die weitere bewaffnete Konflikte, die einer "vom Jugendüberhang getriebenen Revolutionen" folgen könnten, voraussagen oder nicht ganz ausschließen wollen (Das große Töten der Jungen). Allein der Konflikt mit Israel, die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam oder offene Bürgerkriege wie in Libyen böten hinreichend Gründe für derart inhumane Lösungen.

Niemand weiß bislang, wohin die Aufstände, der Sturz von Despoten und der Bürgerkrieg in Libyen führen und wie es in den maghrebinischen Ländern weitergeht. Sowohl der Westen und die Militärs als auch die Islamisten und die Moderaten tappen im Dunkeln. Bislang gibt es dafür nur historische Daten und Erkenntnisse.

Postrevolutionäre Zeiten

Revolutionen werden bekanntlich nicht von unten gemacht, von Proleten, Obdachlosen oder Fürsorgeempfängern, sondern immer von oben. Sowohl die bürgerlichen als auch die kommunistischen waren Aufstände von Gebildeten, Wohlhabenden und Aufstrebenden, von Avantgarden und/oder Eliten. Sie passieren, wenn die Zugänge zu Ämtern und Privilegien verbaut oder verwehrt werden, oder noch einfacher, mit Marx grob gesprochen, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.

So geschah es auch in Ägypten und in Tunesien. Was in Libyen vor sich geht, wer da gegen wen kämpft, weiß keiner so genau. Libyen ist für die meisten Beobachter eine "Terra Inkognita", wie wir soeben in Foreign Affairs lesen (Libya's Terra Incognita). Durch Gaddafis Regime ist das Land intellektuell gesehen ein "schwarzes Loch."

Der Umgang mit bürgerlichen Revolutionen, und darum handelt es sich zumindest in Ägypten und vielleicht auch in Tunesien, lehrt aber, dass bei gewaltsamen Umstürzen meist nur die Herrschaftscliquen ausgetauscht werden, die abdankende Elite, bis auf die besonders Wendigen, durch eine andere Elite ersetzt wird.

Wer bei diesen sozialen Kämpfen hinterher an der Macht ist, welche Staatsform sich dann herausmendeln wird, ist eine offene Frage. Worauf man bislang verweisen kann, ist die historische Erfahrung. Sie lehrt, dass in postrevolutionären Zeiten das Töten häufig mit anderen Mitteln fortgesetzt worden ist. Sowohl die jakobinische als auch die stalinistische Version, mit Revolutionären umzugehen, zeigen das nachhaltig. Selten geht es dabei so friedvoll zu wie anno 1989. So könnte es durchaus passieren, dass der Überschuss an Jungmännern auch auf diese Weise einer Lösung zugeführt wird.