Ihr seid nicht allein

Seite 2: "Es" spricht wieder

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In seiner ganz eigenen, unnachahmlichen Art ging er sofort zum Angriff über und versicherte all seinen Widersachern in seiner Hauszeitung Le Monde (Le conflit avec Israël n'est pas central), dass Israel für ihn keinesfalls der "Nabel der Welt" sei. Die jungen Araber, die auf den Straßen Kairos und Tunesiens protestierten, seien für ihn die wahren Geopolitiker des 21. Jahrhunderts. Anders als seinerzeit im Iran oder im Irak hätten die Demonstranten keine Bilder amerikanischer und jüdischer Präsidenten verbrannt oder mit Füßen getreten, sondern nur die ihrer eigenen politischen Führer und Machthaber.

Die Beobachtung mag richtig sein. Allerdings haben sie auch keine Bilder und Namen von Obama oder Netanjahu durch die Straßen getragen. Und das mit gutem Grund. Anti-Amerikanismus und Antisemitismus sind auch in Ägypten und Tunesien stark verbreitet. Sie sind nicht verschwunden, weil die westlichen Intellektuellen sich plötzlich für die Belange der Maghrebiner begeistern, ein paar Leute inmitten einer aufgeheizten Menge die Freiheit der Rede, die Gleichstellung der Geschlechter oder das Verbot der Scharia verlangen und die Muslimbruderschaft zu all dem vielleicht aus politisch taktischen Gründen (noch) schweigt.

Wer Transparente, Fahnen oder Äußerungen am Tahrir, die westliche Kameras eingefangen haben (Medien berichten nicht über den Kern der Revolution) vorschnell mit dem Willen des ägyptischen Volkes gleichsetzt, könnte einen gravierenden politischen Fehler begehen. Die dramatischen Effekte und emotionale Momente, die das Fernsehen tagelang im Livestream zeigte, sagen vielleicht mehr über die Wünsche und Sehnsüchte westlicher Medien und deren Vertreter aus, aber relativ wenig über die politischen Machtverhältnisse im Lande.

Bernard-Henri Lévy etwa, der später nicht nur die "Helden vom Tahrir", sondern auch die schweigende Mehrheit oder deren Widersacher besucht hat, kommt zu einer wesentlich skeptischeren Lagebeurteilung als sein Kontrahent Glucksmann (Retour d'Egypte). Wohin Ägypten, Tunesien und die Region nach der Revolution politisch hintreiben, ist demnach noch lange nicht ausgemacht. Da könnte es noch manch unliebsame Überraschung geben.

Platon lebt

Musste Glucksmann, nach eigenem Bekunden, noch Rücksprache mit seinen tunesisch-ägyptischen Freunden halten, bevor er sich explizit zu den Ereignissen in Tunesien und Ägypten äußern wollte, musste Slavoj Zizek, der gedanklich meist schneller ist als die Ereignisse, davon keinen Gebrauch machen. Darum hatte er auch kein Problem damit, seine Meinung zu den Dingen schon eine Woche vor Glucksmanns Erklärung und der Entmachtung Mubaraks im englischen Guardian kundzutun (For Egypt, this is the miracle of Tahrir Square).

Für Zizek stellt die friedliche Revolution in Ägypten gar ein Ereignis "von universaler Bedeutung" dar, das sich jederzeit und überall auf der Welt wiederholen könnte. Das "Wunder vom Tahrir", wie er die Geschehnisse nannte, sei nicht einfach eine Folge sozialer Missstände, von Armut, Job- und Perspektivlosigkeit gut ausgebildeter Jungmänner, sondern bestätige vielmehr die "Allgegenwart platonischer Ideen" in der Welt, die von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde.

Dieses Virus, das der griechische Philosoph einst im antiken Athen gelegt hatte, habe sogar die Muslimbruderschaft zum Schweigen und zum Nachplappern säkularen Ideen verleitet. Auch wäre niemand auf dem Tahrir von den Protesten ausgeschlossen worden, weder die Soldaten noch die verhasste Polizei. Sowohl Kopten als auch Juden hätten mitprotestieren dürfen, was sie von "rechtspopulistischen Bewegungen" unterscheide, aber die Größe der Proteste signalisiere. So gesehen hätten die Ägypter ein Lehrbeispiel für die Attraktivität und Latenz des multikulturellen Gedankens auch im maghrebinischen Raum geliefert und der Welt gezeigt, dass Autokratien für sie kein politisches Naturgesetz seien.