Ihr seid nicht allein

Seite 3: Himmel oder Höhle

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Nun ist der platonische Himmel das eine, die "Höhle" der politischen Tatsachen aber das andere. Diese "ontologische Differenz" wird auch der emotionale Überschwang, in den die Bilder vom Tahrir den Philosophen versetzt haben, nicht aufheben können. Gewiss ist Libyen nicht Ägypten (Libya's Terra Incognita), Ägypten nicht Tunesien, und Tunesien nicht der Iran oder der Irak. Jedes arabische Land hat andere kulturelle Wurzeln, unterschiedliche Traditionen, Stammesstrukturen und Geschichtsverläufe. Hinzu kommt, dass das eine Land reich an Kapital, Talenten und Rohstoffen ist und/oder sich auf ausländische Patronage stützen kann, das andere dagegen nicht oder doch nur zum Teil.

Das erklärt auch den Umstand, warum Ben Ali relativ sang- und klanglos aufgab und Mubarak nicht so losschlagen konnte wie etwa Gaddafi. Der Ägypter wurde vom Westen hofiert, während der libysche Staatschef bis 2003 international geächtet war. Erst als Gaddafi sich unter dem Eindruck der Irak-Kampagne vom Terror lossagte, kehrte er wieder in den Kreis der geachteten Führer zurück. Hatte der libysche Despot in Tripolis das uneingeschränkte Sagen und, wie man jetzt sieht, auch die Entscheidungshoheit über die Luftwaffe, regierte Mubarak, selbst ehemaliger Offizier, nur mit Gnade der Militärs im Land.

Die Armee wiederum stand unter Jahrzehnte lang unter dem Einfluss der Amerikaner. Sie bildeten nicht nur die ägyptischen Offiziere aus, sie alimentierten die Truppe auch mit rund zwei Milliarden Dollar jährlich. Erst als man in Washington einsehen musste, dass Mubarak die Lage nicht stabilisieren konnte, weil es den Aufständischen vor allem um den Kopf des verhassten Potentaten ging, griffen die Militärs ein und erzwangen seine Demission.

Ohne die US-amerikanischen Rochaden und ihre Geheimdiplomatie bliebe von den platonischen Ideen, die Zizek glaubt bemühen zu müssen, nicht viel übrig. Der emanzipatorische Willen, den der Philosoph bei den Jungmännern am Tahrir beobachtet haben wollte, wäre vermutlich einer libyschen, syrischen oder chinesischen Lösung zum Opfer gefallen

Lob der Selbstorganisation

Eine Woche später griffen auch die "Empire"-Denker und "Multitude"-Philosophen Michael Hardt und Antonio Negri zum Laptop. Auch sie lobten im Guardian die Aktionen der Araber und priesen sie als die "neuen Pioniere der Demokratie" (The Arabs are democracy's new pioneers).

Ihrer Überzeugung nach könnten die führerlosen arabischen Bewegungen ein ähnliches Ergebnis zeitigen wie vor ein paar Jahrzehnten in Lateinamerika. In Bolivien, Venezuela und Brasilien hätten sich damals dank neuer Freiheitsbewegungen "neue politische Optionen für Freiheit und Demokratie" eröffnet. Dies wiederhole sich jetzt in den nordafrikanischen Städten. Auch in Tunis, Kairo und anderswo fände sich die "Multitude" zusammen. Ihr Aufruhr erteile nicht nur der Behauptung von einem "Zusammenprall der Kulturen" eine Abfuhr, sie beweise auch eindrucksvoll, dass Araber sehr wohl zur Demokratie fähig seien.

Bemerkenswert ist, dass auch Hardt und Negri die Ursache für die Aufstände eher in ideellen Motiven statt in sozialen Missständen suchen. Den Aufständischen gehe es ihrer Ansicht nach um Freiheit und demokratische Teilhabe und erst in zweiter Linie um den Wunsch nach Arbeit und Wohlstand. Außerdem hätten die Leute auf einen zentralen Führer verzichtet, sie hätten sich selbstorganisiert, Netzwerke gebildet, und allein durch ihre Existenz und Penetranz die Macht unterminiert, eine Strategie, die den Bewegungen von Genua und Seattle nicht ganz unähnlich gewesen wäre.

Ein dritter Weg?

Irgendwie scheint auch in dieser Rede nicht nur der Realitätssinn zu fehlen, sondern der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Erneut wird man das Gefühl nicht los, dass die westlichen Linksintellektuellen in den arabischen Transformationen ein neues Projektionsfeld gefunden haben, auf dem sie ihren politischen Messianismus, all ihre uneingelösten Sehnsüchte und Glücksversprechen ab- oder neu aufladen. Die Tunesier, Ägypter und Libyer sollen das vollbringen oder gar vollenden, wozu das westliche Jungpartyvolk längst nicht mehr fähig ist, eine gemeinschaftliche, kommunistische Bewegung auf die Beine zu stellen.

Einerseits mutet es höchst seltsam an, dass Hardt und Negri ausgerechnet die autokratischen Entwicklungen in Bolivien und Venezuela zum Vorbild für den arabischen Wandel erklären. Ihnen sollte eigentlich bekannt sein, dass Libyens Diktator Gaddafi und Venezuelas Staatschef Chávez eine lange Freundschaft verbindet. Vor einigen Jahren hat Chavez Gaddafi den Menschenrechtspreis verliehen und ihm eine Kopie des Schwertes der Freiheitskämpfers Simon Bolivar geschenkt. Dass ausgerechnet der Venezuelaner sich als Vermittler anbietet und Gaddafi dazu bereit ist, sollte eigentlich sie wie auch alle anderen eher stutzig machen.

Andererseits sucht man Vorschläge, wie die "Multitude" die Wirtschaft des Landes in Gang und die zornigen und arbeitslosen Jungmänner in Brot und Arbeit bringen soll, vergebens. Stattdessen wird erneut von einem "dritten Weg" gefaselt, einem, der irgendwo zwischen Militärregierung und Theokratie hindurchführt und die Produktion in eine soziale überführt. Hatte von einem solchen dritten Weg vor Jahrzehnten nicht auch der libysche Diktator in seinem "Green Book" schwadroniert? Hardt und Negri können das eigentlich nicht vergessen haben.