"In Russland halten viele die deutsche Position für nicht souverän"

Seite 2: "Gesamteuropäisches Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands"

Sie haben vor Ort mit Vertretern eines breiten politischen Spektrums gesprochen: vom Außenministerium bis hin zur oppositionellen Organisation Memorial, die unlängst verboten worden ist. Wie weit liegen die Positionen mit Blick auf den Nato-Konflikt auseinander?

Andrej Hunko: Nicht mit allen Gesprächspartnern habe ich nur über den Nato-Konflikt gesprochen. Bei Memorial ging es primär um die Frage der Mitgliedschaft Russlands im Europarat und damit im Rechtssystem des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).

Mitglieder von Memorial hatten sich vor einigen Jahren an die Europaratsabgeordneten gewandt und für die Reintegration der russischen Abgeordneten argumentiert, um einen Austritt Russlands aus dem Europarat und damit auch der Menschenrechtskonvention zu vermeiden. Jetzt hat Memorial zumindest die Möglichkeit, den EGMR anzurufen. Um das Für und Wider dieser Entscheidung ging es bei diesem Gespräch.

Neben dem deutschen Botschafter sind Sie mit der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK) zusammengekommen. Welche Perspektive sieht man dort inmitten von Sanktionsdrohungen und Kriegsrhetorik für eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung?

Andrej Hunko: Die Sanktionen und natürlich auch die militärischen Drohungen werden dort generell sehr kritisch gesehen. Ich habe vor allem darauf verwiesen, dass die zunehmenden Sanktionsregime zu keinen positiven Ergebnissen geführt haben, wie mir auch die Bundesregierung auf Anfrage bestätigen musste.

Hinzu kommt noch das Problem der gegenseitigen Nichtanerkennung der Coronaimpfstoffe, das auch Thema war. Dies führt dazu, dass sich die meisten Mitarbeiter der AHK mehrfach mit den Impfstoffen sowohl der EU als auch Russlands impfen mussten, wenn sie sich einigermaßen frei bewegen wollen.

Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Wenn schon Sputnik-V trotz guter Wirksamkeit von der EMA nicht zugelassen wird, so sollten doch zumindest die Zertifikate anerkannt werden. Das ist auch die Position der parlamentarischen Versammlung des Europarates, die einem entsprechenden Antrag russischer Abgeordneter mit großer Mehrheit zugestimmt hat.

Nun sind Sie für die Parlamentarische Versammlung des Europarates nach Moskau geflogen und nicht für den Bundestag. Aber auch nicht im Namen Ihrer Fraktion, deren Vorstand unlängst in einer Erklärung geschrieben hat, Ihre Partei dürfte nicht "in die Falle gehen, sich mit dem russischen Staat und seiner politischen Führung zu identifizieren oder identifizierbar zu machen". Was bedeutet das Ihrer Meinung nach – und sind Sie womöglich in die Falle getappt?

Andrej Hunko: Es geht nicht um Identifikation, ich kenne niemanden, der sich mit dem russischen Staat identifiziert. Es gibt in Russland eindeutig eine autoritäre Entwicklung, die tragisch ist. Es geht darum zu begreifen, dass diese Entwicklung eine Folge der jahrelangen Ignoranz russischer Sicherheitsinteressen insbesondere durch die Nato-Osterweiterung ist, wie es der US-Historiker und Diplomat George Kennan schon 1997 prophezeit hat.

Wie zuvor erwähnt: Ich kann die russische Reaktion nachvollziehen, aber ich mache sie mir nicht zu eigen. Aber die Perspektive eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands, das auf Abrüstung zielt, wie es im Grundsatzprogramm der Linken formuliert ist, mache ich mir sehr wohl zu eigen. Vielleicht liegt in der jetzigen Krise auch die Chance, an dieser Perspektive zu arbeiten.