In den Ventilator uriniert

"Handling" und "Mishandling" in Guantanamo

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Der Koran werde gut behandelt in Guantanamo Bay, Misshandlungen seien seltene Ausnahmen, stellt der aktuelle Untersuchungsbericht des für Guantanamo Bay zuständigen US-Kommandeurs, Brigadegeneral Jay W. Hood, fest. Dem Buch widerfährt nach diesem Bericht angesichts Tausender Umzüge und Zellendurchsuchungen relativ wenig Ungemach, ob das auch für die Hundertschaften an Inhaftierten gilt, bleibt indes noch aufzuklären.

Mitte Mai hatte ein Newsweek-Artikel für große Erregung unter Moslems gesorgt. Einer anonymen Quelle zufolge, hieß es im damaligen Artikel (vgl. Das Guantanamo-Virus), würden in einem zu erwartetenden Bericht des U.S. Southern Command kursierende Behauptungen bestätigt, wonach im US-Gefangenenlager "Guantanamo Bay" Ausgaben des Koran die Toilette hinuntergespült worden sind, um inhaftierte Moslems zum Reden zu bringen.

Ausschreitungen in Afghanistan, die nach Zeitungsmeldungen vom Newsweek-Bericht veranlasst worden waren, führten zu 17 Toten und mehreren Hundert Verletzten. Die USA erlebten einen Public–Diplomacy-Desaster größeren Ausmaßes. Das Pentagon widersprach dem Newsweek-Bericht, kritisierte das Magazin, machte es für die Entrüstung unter den Moslems und die daraus folgenden tödlichen Ausschreitungen verantwortlich. Plötzlich sah sich das Magazin großem öffentlichen Druck ausgesetzt (vgl. Trick 101A); man zog den Artikel zurück: Die Newsweek-Quelle, angeblich ein höherer Regierungsmitarbeiter, erklärte, sich nicht mehr genau erinnern zu können, wo er von dem Toiletten-Vorfall gelesen habe und war sich auch nicht mehr sicher, ob er in dem "SouthCom"-Bericht auftauchen würde.

Entlastender Bericht Gebot der Stunde

Seither gilt der Newsweek-Artikel, verfasst von einem amerikanischen Star des investigativen Journalismus, Michael Isikoff, als Beispiel für "schlampigen, altvorderen Journalismus", die Behauptung wurde in vielen Berichten bekannter Veröffentlichungen als falsch gebrandmarkt. Da sich jedoch die Geschichten über Koranschändungen hartnäckig hielten - Newsweek Got Gitmo Right - , das Rote Kreuz wenig später auf Fälle von bestätigten Koran-Entweihungen hinwies und die USA zudem des systematischen Missbrauchs von Inhaftierten in Afghanistan angeklagt wurde, war ein entlastender Bericht angesichts der aufgeheizten antiamerikanischen Stimmung in der muslimischen Welt Gebot der Stunde.

Ob der gestern Abend veröffentlichte Hood-Bericht dazu taugt, diese Stimmung zu beruhigen, ist noch ungewiss. Aus der Sicht der Amerikaner mag er bestätigen, dass man in Guantanamo normalerweise den Koran "nur mit Handschuhen anfasst" und somit Religion und Kultur der Moslems im Grunde respektiert; ohnehin aufgebrachte Moslems dürften allerdings ebenso in ihren Anschauungen bestätigt werden: Al-Jazeera ist nicht das einzige Nachrichten-Journal, das den entsprechenden Artikel mit Pentagon confirms Quran Desecration überschreibt.

Versehentlich mit Urin besprüht

Mehr als 30.000 Seiten an Guantanamo-Dokumenten sollen die Ermittler unter der Leitung von Brigade-General Hood auf der Suche nach "Koran-Mishandling" durchforstet haben. Zuletzt haben sich nur fünf Fälle gefunden, die von US-Personal zu verantworten sind und die bestätigt worden sind. Demnach ist das heilige Buch seit dem Aufbau des Lagers im Januar 2002 von Soldaten bzw. Vernehmungspersonal getreten worden, als Standfläche benutzt; einige Ausgaben wurden von einer Wasserbombe durchnässt und einmal wurde es versehentlich mit Urin besprüht (ein Soldat soll sein Geschäft in der Nähe eines Ventilators verrichtet haben). Bei einem weiteren bestätigten Vorfall, demzufolge eine "Obszönität" aus zwei Worten in eine Koran-Ausgabe geschrieben wurde, konnte nicht eindeutig eruiert werden, ob die Kritzelei von einem Aufseher oder dem Gefangenen selbst stammt.

Der Missbrauch des Koran in Guantanamo ist eine seltene Ausnahme. Der Missbrauch des Koran wird hier niemals entschuldigt. Wenn jemand in Betracht zieht, wie oft Inhaftierte seit Januar 2002 verlegt werden mussten und Zellen durchsucht wurden - nämlich viele tausend mal - dann, glaube ich, kann man nur daraus schließen, dass der Respekt für die religiösen Überzeugungen der Inhaftierten in der Kultur unserer Leute von Anbeginn an eingebettet war.

General Jay W. Hood

Nicht so sehr dagegen bei den Inhaftierten selbst. Denn nach dem Hood-Bericht gab es sehr viel mehr Fälle von Koran-Schändung als unter den gefangenen Moslems selbst: In 15 Fällen zwischen November 2002 und Februar 2005 sollen Inhaftierte Glaubensbrüdern den Koran weg genommen, eigene Ausgaben als Kopfkissen benutzt, das Buch zerrissen und einzelne Seiten die Toilette hinuntergespült haben. Die Anklage, dass amerikanisches Personal diese Art der Schändung betrieben habe, wird vom Bericht als Gerücht dargestellt, dem ein harmloser Vorfall - das Fallenlassen eines Korans - zugrunde liegt.

Wie wahr diese Darstellung ist, lässt sich nicht so leicht nachprüfen. Kritiker, wie der Anwalt Tom Wilner, Vertreter von elf inhaftierten Kuwaitis, finden es "bestürzend, dass wir nur das als Wahrheit definieren, was von der Regierung bestätigt wird." Berichte von Gefangenen würden darauf hindeuten, dass die Koran-Entweihung ein weitaus größeres Problem sei als vom Bericht nahe gelegt.

Klar wird durch den Bericht allerdings einmal mehr, wie schnell in Guantanamo ein harmloser Vorfall eskalieren und sich zu einem größeren Aufruhr der Gefangenen ausweiten kann. Das wiederum lenkt den Blick auf den eigentlichen Skandal im Hintergrund der Kultur/Unkultur im Umgang mit einem Buch: die Existenz des Gefangenlagers in Guantanamo Bay, die Unkultur im Umgang mit Menschen.

Es sei nichts Neues und eigentlich keine Nachricht mehr wert, schreibt der amerikanische Kommentator Phillip Carter, dass viele der Gefangenen in Guantanamo von pakistanischen Stämmen an amerikanische Truppen für größere Dollarbeträge (zwischen 3.000 und 25.000) verkauft worden sind. Dies sei ebenso wie umstrittenen "Screening Systems", bei denen die Gefangenen nach ihrer terroristischen Bedeutung klassifiziert werden, schon seit drei Jahren bekannt. Tatsache aber sei, dass die große Mehrheit der Inhaftierten, zwischen 70 und 90%, keinen echten Wert für Geheimdienstinformationen habe, weswegen sich die Frage stelle, ob man dafür ein derartiges Camp außerhalb jedes Rechts brauche, ob es nicht ein ganz normales "Detention-Camp" auch getan hätte.

Dass Menschen als mutmaßliche Terroristen bzw. Mitglieder der Al-Qaida an US-Truppen weiter verkauft wurden, ist nicht neu und mit der großen Unkenntnis der meisten US-Soldaten über die Gegebenheiten ihres Einsatzgebiets zu erklären. Über diesen "Handel" zwischen Stammesführern und Truppen, so Carter, gebe es schon seit drei Jahren Berichte und Informationen. Neu sei allerdings, dass die Vorwürfe zum ersten Mal eidesstattlich vor US-Gerichten erhoben wurden. Das Guantanamo-Virus breitet sich demnach weiter aus, daran wird auch der Hood-Bericht nicht viel ändern.