Irrweg Stadtimkerei, das sogenannte Bienensterben ...

Seite 3: Dosiserhöhung der falschen Medizin? Das deutsche Artenschutzkonzept und die aktuellen Rettet-die-Bienen-Aktionspläne

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Bei uns sollen Wildinsekten an Randstreifen der Felder, in kleinen Gehölzen, Hecken, Wiesen oder Brachen innerhalb der landwirtschaftlich genutzten Fläche ihr Auskommen finden. Nicht beackerte Stellen in der Agrarlandschaft gelten da schnell als Naturschutzgebiet.

Ein zentrales Charakteristikum des deutschen Naturschutzes ist die Kleinteiligkeit, mit mehrheitlich unter 50 Hektar Schutzflächengröße.29 Das zweite Charakteristikum ist der vom Menschen geprägte Charakter der Schutzflächen, anders als in den USA, Amazonien, Kenia oder Norwegen, wo Wildniserhalt der Schwerpunkt des Naturschutzes ist. Der Anteil der Schutzflächen ist beispielsweise in den USA nicht einmal sehr hoch, die Flächen sind dort aber weniger fragmentiert (der Adirondack-Park hat die Größe von Hessen), und sie sind strenger geschützt.

In den USA gibt es Schutzgebiete der Kategorie I mit einer Gesamtfläche größer als Deutschland.30 Kategorie I heißt: Keinerlei menschliche Eingriffe, Brände nicht löschen (!), keine Straßen, keine asphaltierten Wege, menschliche Fortbewegung nur zu Fuß. Kein einziges deutsches Gebiet genügt dem internationalen Schutzstandard der Kategorie I.31

Habitate in der Stadt (5 Bilder)

Links sandiger Trockenrasen-Ruderalstandort zwischen Autobahnbrücken, rechts verschilfter Tümpel zwischen Discounter und Industrie (Foto vom Januar), extrem fluginsektenreiches Gebüsch an Wellblechzaun, mit Blütensträuchern verbuschter Bahndamm im Gallusviertel. Bilder: Ruth Berger

Das abweichende hiesige Konzept von Artenschutz innerhalb der Agrarlandschaft hat seine Berechtigung. Bei der engmaschigen Besiedelung Westdeutschlands können nicht so leicht große Wildnisareale ausgewiesen werden. Zum anderen sind viele mitteleuropäische Arten Kulturfolger, die bei uns erst mit den Landschaftsveränderungen durch den Menschen günstige Bedingungen fanden.

Magerrasen, Fettwiesen, Schotterflächen, Abbruchkanten, Pfützen, Sandlöcher, Kiesgruben, Steinbrüche, Waldränder, Waldschneisen, Heidegebiete, Kräuter- und Gemüsegärten sowie Nist- und Schutzmöglichkeiten an und in Gebäuden tragen bzw. trugen zur Artenvielfalt bei und wurden bei uns durch den Menschen geschaffen oder wesentlich vermehrt. Im von Menschen unbeeinflussten Zustand der deutschen Natur, das ist - entgegen einer derzeit modischen These32 - praktisch durchweg Wald,33 gedeihen zahlreiche zum Erhalt vorgesehene, heute seltene Arten nicht oder schlecht.

Zwar ist mitteleuropäischer Sekundär-Laubwald viel artenreicher an Insekten, als man früher dachte (166 Arten von Wildbienen wurden in einem hessischen Naturwaldstück von der Größe eines Bauernhofs gezählt, insgesamt 2.000 Arten von Schmetterlingen in bayrischen Naturwäldern) [Wichtigste Ergebnisse aus 17 Jahren zoologischer Forschung in hessischen Naturwaldreservaten; Mit Schmetterlingen Wälder taxieren.]

Die meisten deutschen Rote-Liste-Insektenarten sind allerdings Spezialisten für Offenland und finden sich in Wäldern nicht. Man bezahlt daher Naturschutzvereine, Schäfer oder Bauern für den Erhalt oder die Wiederherstellung von offenen Landschaften, die durch menschliche Nutzung und Übernutzung entstanden sind. Eher unabsichtlich bezahlt man für die gleiche Aufgabe auch die Bundeswehr. Die erzielt auf Truppenübungsplätzen - Areale von enormer Größe - ähnliche Wirkungen wie die traditionelle Landnutzung jener Zeiten, als es bei uns noch ausgelaugte Böden, eigene Textilfaserherstellung (Schafwolle, Leinen), eine halb so große Bevölkerung, Hungersnöte und Mangelkrankheiten gab.34

Bezeichnend für die öffentliche Wahrnehmung von idyllisierter traditioneller Landwirtschaft als zu schützender Natur ist, dass die große deutsche Umweltschutzpartei keine Wildblume, sondern eine landwirtschaftliche Zuchtpflanze im Logo trägt, die Sonnenblume, die in Deutschland trotz viel Hilfe nie dauerhaft verwildert. Die häufigste und typische Blume der hiesigen Natur, da, wo man sie in Ruhe lässt, ist nicht die Sonnenblume, Symbol des Bilderbuch-Bauernhofs, sondern das Buschwindröschen.

Die Streuobstwiese

In den aktuellen Insektenschutzkonzepten der Landwirtschafts- und Umweltministerinnen und der Volksbegehren ist Bilderbuch-Landwirtschaft in Form der Streuobstwiese vertreten, die aber schon längst als Ausgleichsmaßnahme nach Bundesnaturschutzgesetz und zusätzlich mittels EU-Subventionen gefördert wird.35

Eine bestehende Streuobstwiese mit ihren Tieren und alten Obstsorten zu erhalten, ist eine Sache, Streuobstwiesen für den Insektenschutz neu anzulegen oder unter Biotopschutz zu stellen eine ganz andere. Die Vorzüge von Streuobstwiesen gegenüber gleich teuren Alternativen, ja selbst gegenüber dem Vorher-Zustand der Flächen, sind nicht belegt; neu angelegte Streuobstwiesen können jahrelang ärmer an Fluginsekten sein als das gleiche Areal vorher, es sei denn, es wurde ein Acker konvertiert.36

In der Praxis sind es aber regelmäßig seminatürliche Flächen, die der Streuobstwiese weichen müssen, also Wiesen, Brachen, parkartige Gelände, "unordentliche" Bereiche an Waldrändern, Kleingärten oder Pferdeweiden, die ihrerseits als "Insektenbiotope" gelten könnten.37 Weiter ist unklar, wo denn der insektenschützerische Vorteil von Obstbäumen gegenüber wilden blühenden Gehölzen sein soll. Die Beeren von Weißdorn, Eberesche und Schlehdorn bleiben am Strauch und liefern den ganzen Winter über Vogelfutter, während der süße, weiche Menschenfraß auf den Streuobstwiesen oft schon im Sommer verfault am Boden liegt.

Die Obstkultur verführt zudem die Betreiber dazu, sich auf die Pflege der Obstbäume zu konzentrieren statt auf die Gestaltung von deren Umgebung, was aber das eigentlich Wichtige wäre, wenn die Maßnahme für den Insektenschutz einen Sinn haben soll. All das weiß und berücksichtigt der BUND in Bochum; dessen gut gemachte "Naturwiese" ist jedoch eine rare Ausnahme in der Vielzahl der neuen Streuobstwiesen.

Biologische Landwirtschaft

Als Teil der "Rettet-die-Bienen/Insekten"-Initiativen ist weiter geplant, den Anteil biologischer Landwirtschaft stark zu erhöhen, der aber seit langem wächst, während es gleichzeitig Insekten schlechter geht. Ökologische Landwirtschaft und andere EU-geförderte "Agrarumweltmaßnahmen" (bäuerliche Praktiken, die Biodiversität fördern sollen) haben laut Studien zwar einen guten Effekt auf den Reichtum an Pflanzenarten pro Hofhektar.

Vielleicht machen auch Methodenvielfalt und Sortenvielfalt die Landwirtschaft resilienter gegen Seuchen. Positive Effekte von "Agrarumweltmaßnahmen" auf Insekten sind aber meist gering, ja oft gar nicht vorhanden.38 Am ehesten profitieren Generalisten und Kulturfolger wie die Gartenhummel, also jene, die ohnehin häufig sind, und natürlich die Bauern, die für die Maßnahme bezahlt werden und denen eine Vermehrung von Nützlingen zugute kommt. Wie bei der Förderung der Maisverstromung handelt es sich bei den Agrarumweltmaßnahmen in erster Linie um eine Umdeklaration von Landwirtschaftssubventionen als Naturschutz.

Global betrachtet, kann sich sogar ein negativer Nettoeffekt biodiversitätsfreundlicher landwirtschaftlicher Praktiken ergeben: Diese Methoden haben einen geringeren Ertrag pro Fläche als intensive Methoden.39 Man erkauft den lokalen Vorzug für die Natur - er ist nur klein, auch Biohöfe sind kein Naturschutzgebiet40 - mit Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen in Übersee oder Intensivierung in Polen und Ungarn.

Blühstreifen

Wie Streuobstwiesen und Ökolandbau sind auch gesäte Blühstreife an Feldrändern Teil der neuen Insektenschutzpläne. Auch sie gelten der EU als Agrarumweltmaßnahmen und werden schon seit Jahren teils hoch vergütet. Allerdings: Blüten im intensiven Ackerbau fördern den Kontakt der Insekten mit Ackergiften.41 Zudem ist dichter Bewuchs, wie bei den meisten gesäten Blühstreifen, für viele der bedrohten Arten nicht geeignet.

Schlimmer, gesäte Blühstreifen könnten eine sogenannte ökologische Falle bilden, ein Areal, das mit seinem großen Nektarangebot Tiere anlockt, in dem aber die Ressourcen zur Fortpflanzung (Larvennahrung, Nistmöglichkeiten) oder Überwinterung fehlen.42 Ein Problem wäre das in erster Linie für wenig mobile Arten, die, einmal drin im Blühstreifenlabyrinth zwischen Feldern, nicht mehr herauskommen. Nun zählen aber die wenig mobilen Arten gerade zu den gefährdeten.

Die Autoren der bekannten Krefelder Studie schlagen ökologische Fallen in der Agrarlandschaft als möglichen Grund für den von ihnen festgestellten, unerwartet hohen Insektenschwund vor.43 Sie hatten einen Einbruch der Fluginsektenbiomasse von nahe 80 % binnen dreißig Jahren festgestellt, und zwar in deutschen Naturschutzgebieten, die von Agrarflächen umgeben sind. Trotz seit langem bekannter Abwärtstrends bei vielen Insekten44 war dieser hohe Verlust an Gesamtmasse in den letzten Jahrzehnten beunruhigend.

Zu den eher exotischen Überlegungen über ökologische Fallen kommen die Forscher, weil die Gründe für die Biomasse-Verluste, anders als öffentlich wahrgenommen, keineswegs klar sind. Einige der üblichen Verdächtigen für das Insektensterben ließen sich nämlich in der Krefelder Studie als Ursache ausschließen: An Klima- bzw. Wetteränderungen, Überdüngung oder Landnutzungsänderungen lag es eben nicht.

Diese Faktoren hatten die Forscher mitgemessen, und sie hatten sich in der Umgebung der Messstationen über die drei Jahrzehnte nicht negativ für Insekten verändert, eher im Gegenteil.45

Gesäte Blühstreifen auszuweiten, ist also beim jetzigen Forschungsstand nicht ohne Risiko. Für den Artenschutz dürfte es ohnehin günstiger sein, Landwirtschaft und Naturschutz besser zu trennen und die Blühfläche statt als schmale Borten um Felder zu größeren insektenfreundlichen Arealen an den Rändern der Höfe zusammenzufassen, dort, wo bestehende seminatürliche Flächen nahebei sind. Ähnliches gilt auch für andere biodiversitsfreundliche landwirtschaftliche Praktiken: Es kommt für die Biodiversität - sagen Studien - weniger darauf an, mit welchen Methoden die Landwirtschaft betrieben wird, als darauf, wie viel seminatürliche, nicht landwirtschaftlich genutzte Fläche es in einer Landschaft noch gibt.46

Was den Insektenschutz betrifft, kann es also effektiver sein, intensiver zu wirtschaften und die so eingesparte landwirtschaftliche Fläche außerhalb oder am Rand des Hofes dezidiert Insekten zu widmen.47

Wie man die Artenschutz-Areale dann gestaltet, das hängt davon ab, welche Spezies und Gruppen man fördern will.

Renaturierung der Nidda (4 Bilder)

Die Gebänderte Prachtlibelle fühlt sich, wie viele andere Libellen, in und an der kanalartig begradigten Nidda pudelwohl. Die Reviere der Imagines-Männchen liegen dicht an dicht, eines etwa alle 50 Zentimeter. Bilder: Ruth Berger

"One fits all" gibt es nicht. Totholz fressende Käfer brauchen ein anderes Habitat als Ödlandschrecken, der gefährdete Schwarze Apollofalter braucht ein anderes als der ebenfalls gefährdete Weißdolch-Bläuling. Lokale Naturschutzakteure kommen sich in ihren widerstrebenden guten Absichten für ein und dieselbe Fläche regelmäßig ins Gehege.48 Je nachdem, für welches "Management" man sich entscheidet und auf welche lokal vorhandenen Bedingungen die Maßnahme trifft, wird man einigen helfen und anderen schaden.

Artenschutz in der Praxis ist schwer

Frühe, späte oder häufige Mahd, Busch abbrennen,49 roden oder der Verbuschung ihren Lauf lassen, nährstoffreiche Fläche abplaggen oder nicht, Rinder weiden lassen oder Ziegen: Alles hat Vorteile für einige und Nachteile für andere, so generell bei Eingriffen und Landschaftsänderungen. Aufgrund der Komplexität der Systeme lassen sich Effekte teils schwer vorhersagen. Gewässerrenaturierungen hatten nicht die erwartete Wirkung auf den Fischreichtum.50

Umgekehrt hatte niemand damit gerechnet, dass anderswo rar gewordene, geschützte Vögel sich zur Brut auf Flughafengeländen ansiedeln, in Frankfurt etwa die Feldlerche, die am Flughafen eines ihrer größten Brutvorkommen in Westeuropa hat, obwohl sie vergrämt wird.51 Die Verteidiger des Hambacher Forstes wollen (sagen sie jedenfalls) neben dem Klima seltene Waldtiere schützen. Andererseits hat sich aber gerade der Braunkohletagebau als Segen für viele bedrohte Arten unter Schmetterlingen und Vögeln erwiesen,52 weil er Ödland und Abbruchkanten zurücklässt, Landformen, an denen es heute in Deutschland mangelt.

Salweiden an Wiesenbächen, von Naturschützern vielfach neu angepflanzt, stören Kiebitz und Rebhuhn, die es baumfrei mögen. Die weitenteils erfolgte Umstellung von Fichtenkulturen auf naturnahen Laubmischwald hat Heidelbeere und Auerhuhn geschadet. Als man die Holzernte per Kahlschlag einstellte (unter anderem, weil sie zu "Auswaschung von Nährstoffen" führe, man könnte auch sagen, gut gegen Überdüngung ist), hat man jenen Spezies geschadet, die von Lichtungen im Wald profitieren, darunter heute seltener werdende Schmetterlinge.

Heutige Artenschützer besonders der Schmetterlinge klagen über den Verlust an Offenland, das früher viel verbreiteter war. Doch die ersten Nachhaltigkeits-Vordenker des 18. und 19. Jahrhunderts waren ihrerseits nicht begeistert, als Holznutzung und

Schafe die Mittelgebirge kahl fraßen.53 Aus damaliger Sicht hat man gut begründet aufgeforstet, dabei aber den vielen Spezialisten für die mageren Wiesen an den Hängen geschadet, die heute bei uns gefährdet sind.

Almen erscheinen heute schützenswert, sind aber im Mittelalter durch Rodung von Bergwäldern entstanden. Den gleichen Vorgang nennt man "Raubbau" an einem "empfindlichen Gebirgsökosystem", wenn er heute in Nepal passiert, und sieht nur die Nachteile.54 Und ein aktuelles Letztes: "Waldrettung" mittels steuergeldfinanziertem Aufforsten nützt der Forstwirtschaft, den gepflanzten Baumspezies und "dem Klima". Die geschädigten Areale sich selbst zu überlassen, erhöht mit ziemlicher Sicherheit die Insektenbiomasse und die lokale Artenvielfalt der Fauna.

Gegen "Artensterben" protestieren ist einfach, Artenschutz in der Praxis ist schwer. Ein absolutes, eindeutiges und sicheres Richtig oder Falsch gibt es fast nie. Entscheidungen und auch Grundsatzziele ergeben sich nicht unzweifelhaft aus der Sachlage, sondern sie enthalten immer unsichere Annahmen und willkürliche Prioritätensetzungen, die auch zeitgebundenen Moden folgen.

Das kleinteilige, kulturlandschaftszentrierte, landwirtschaftsfixierte EU-Naturschutzkonzept mit dem musealen Wunsch nach Konservierung jedes im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts vorhandenen Biotoptyps und seiner Arten ("Fauna-Flora-Habitatrichtlinie"), mit deutschen lokalen Naturschutzbehörden, die über Minimalstvorkommen einzelner geschützter Arten wachen55 und zahllose Mikro-Maßnahmen veranlassen, mag seine Berechtigung haben.

Aber dieses Konzept, und wie es derzeit gehandhabt wird, ist nicht die einzige Möglichkeit, die Natur oder die Artenvielfalt zu schützen und nicht zwingend der Weisheit letzter Schluss. Einiges daran scheint jedenfalls nicht zu funktionieren. Sonst würden nicht sogar unseren Naturschutzgebieten in großem Stil die Insekten abhanden kommen.

Dummerweise sind die Gründe für die Abnahme der Fluginsektenbiomasse in den letzten Jahrzehnten unklar, siehe oben zur Krefelder Studie. Die Verteilung von Acker, Wald und Siedlungsfläche und der Düngungsgrad des Bodens haben sich in dieser Zeit relativ wenig verändert; die wesentlichen Umbauten der westdeutschen Landschaft waren 1989, als die Krefelder Messungen begannen, schon geschehen.

Bei der Flächennutzung schlug seitdem hauptsächlich der Verlust an Brachen und Wiesen negativ zu Buche, Grund war teils der Klimaschutz: Die Brachen wurden für Energiepflanzen geopfert. Die Klimaerwärmung war dagegen für Deutschlands Rote-Liste-Arten unter den Insekten netto positiv: Die große Mehrheit ist wärmeliebend und nacheiszeitlich vom Balkan oder dem Mittelmeerraum eingewandert.

Viele weitere Faktoren neben den üblichen Verdächtigen sind als (Teil-)Gründe für das Schrumpfen der Fluginsektenmasse in den letzten 30 Jahren denkbar: das Verschwinden von Hausmülldeponien,56 Kuhfladen, offenen Misthaufen57 und Jauchepfützen aus der Landschaft (zahllose Schwebfliegen legen ihre Eier in Kuhdung), Abkühlung des Kleinklimas am Boden durch dichteren Bewuchs, Windräder,58 die Gewässerreinhaltung (Zuckmücken ziehen verschmutztes Wasser vor), die Zunahme des Verkehrs (ob als Roadkillverursacher oder Wanderungsbarriere)59, Medikamentenspuren in Gewässern, unerkannte Seuchen, rezente Intensivierung der Landwirtschaft in den mittelmeerischen Überwinterungsländern wandernder Schmetterlinge und Schwebfliegen oder auch die Lichtverschmutzung für die nachtaktiven der Insekten (die meisten Erhebungen zum Insektensterben betreffen allerdings tagaktive Tiere).

Vielleicht sehen wir aber hier auch noch die Spätfolgen der Lebensraumveränderungen und -Verluste zwischen 1850 und 1975. Daten aus England zeigen, dass dort der Verlust regional zum Stillstand gekommen ist.

Eine unsichere Diagnose erschwert leider die Therapie. In so einer Lage sind die alten medizinischen Grundsätze primum non nocere, secundum cavere (erstens: nicht schaden, zweitens: Vorsicht walten lassen) zu beachten. Eine risikoarme und gut begründete Maßnahme war das Quasi-Verbot der Neonikotinoidbeizung.60 Bei diesen Insektiziden besteht eine zeitliche Korrelation des vermehrten Einsatzes mit dem rezenten Insektenschwund. Freilandbeobachtungen legen nahe, dass Neonikotinoide Wildbestäubern schaden und daher sogar einen negativen Einfluss auf den Ertrag von Raps haben. Hier besteht etwas weniger als bei Glyphosat die Gefahr, dass der Stoff mit noch schädlicheren Mitteln ersetzt wird.

Bevor man aber - wie es derzeit geschieht - in weiteren Aktionismus unter der Überschrift "Rettet die Insekten" verfällt und teils zweifelhafte, wenig erfolgreiche alte Strategien noch ausweitet, sollte man gut überlegen und prüfen, was man tut, damit nicht wieder populäre Scheinlösungen wie "Stadtimkerei" dabei herauskommen, die womöglich sogar kontraproduktiv sind.